Dienstag, April 16, 2024
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13 Jahre Merkel: Das Erbe wird nur schwer zu korrigieren sein

Drei Jahre trennen sie noch von dem Rekord im Amt, den Helmut Kohl aufgestellt hatte. Dessen selbst erkorener politischer Großvater wiederum, Konrad Adenauer, brachte es „nur“ auf 14 Jahre. Angela Merkel liegt also gut im Rennen. Selbst wenn sie ihre beiden Ämter nur noch auf Abruf versieht. Ein Gastbeitrag des Bundestagsabgeordneten Alexander Neu.

Dass sie sich so lange halten konnte, mag ob ihres wenig spektakulären Auftretens verwundern. Doch verweist ihre überlange Amtsführung auf den Regelfall der Bundespolitik seit 1949: Die Bürger- und Unternehmerpartei CDU ist auf das Kanzleramt abonniert. Diese Regel gerät nur in Gefahr, wenn Anspruch und Versprechen der Unionsparteien einerseits und gesellschaftliche Realität andererseits allzu weit auseinanderklaffen. Darum hat sich Angela Merkel allerdings unzweifelhaft verdient gemacht. Denn die innen- und außenpolitische Spaltung wurde zur Signatur ihrer Kanzlerschaft.

Merkel setzte den von Gerhard Schröder eingeleiteten wirtschaftsliberalen Abbau des Sozialstaats, Privatisierungen und Deregulierungen mit der SPD als Juniorpartner zuverlässig fort. Das repressive und entwürdigende Hartz-IV-System wurde unter ihr perfektioniert. Die soziale Herkunft bestimmt in Merkels Deutschland mehr als in anderen europäischen Industrieländern die Bildungs- und Aufstiegschancen von Kindern und Jugendlichen. Wer angenommen hatte, eine Kanzlerin aus dem Osten würde endlich für die „blühenden Landschaften“ (Kohl) sorgen, sah sich bitter enttäuscht. Eine Anpassung des Rentenniveaus in den „Fünf (nicht mehr so) Neuen Ländern“ an das der westlichen Bundesländer hat bis heute nicht stattgefunden, von den Löhnen und Gehältern im Osten gar nicht erst zu reden. Leiharbeit und alle Formen der prekären, irregulären Beschäftigung haben unter Merkel rasant zugenommen. Merkel verschärfte die Bedingungen auf dem von Schröder eingeführten „besten Niedriglohnsektor Europas“. Zur fragwürdigen innenpolitischen Bilanz gehört die reduzierte Förderung von Erneuerbaren Energien und die weitere Verschlechterung der Schieneninfrastruktur (z. B. der milliardenteure Rückbau des Bahnknotens Stuttgart, „S21“), zur großen Freude der Bau- und Autoindustrie, der Immobilienkonzerne.Angela Merkel sorgte dafür, dass der undemokratische, neoliberale und militaristische EU-Verfassungsvertrag, der in den Niederlanden und Frankreich in Referenden durchgefallen war, in nur wenig veränderter Form als „Vertrag von Lissabon“ in Kraft trat und im Bedarfsfall als Bezugspunkt deutscher Politik instrumentalisiert werden kann. Vorsichtshalber war dazu in Deutschland eine Volksabstimmung erst gar nicht vorgesehen. Ihre erste größere Bewährungsprobe im Sinne des Kapitals hatte sie in der Bankenkrise 2007/2008 zu bestehen. In offenem Gegensatz zu anderen EU-Ländern verfolgte Merkel eine Politik des nationalen Alleingangs, die unter dem von ihr gegebenen Versprechen stand, dass Deutschland gestärkt aus der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen solle. Mit „Deutschland“ meinte sie vorzugsweise deutsche Banken und Konzerne.

Als im November 2011 ein weitverzweigtes Neonazi-Terrornetzwerk namens „NSU“bekannt wurde, versprach die Kanzlerin rückhaltlose Aufklärung. Daraus ist nichts geworden, nicht vonseiten der Bundesregierung. Zu unappetitlich dürften die Details sein, die aus dem Kanzleramt, zuständig für die Koordination der Geheimdienste, öffentlich gemacht werden müssten. Die Dienste führen weiter unkontrolliert ein Eigenleben. Der endlich geschasste BfV-Chef Maaßen ist nicht über seine dubiose Rolle bei der Vertuschung des Zusammenwirkens von staatlichen Geheimdiensten und neofaschistischen Netzwerken gestolpert.

Außenpolitisch steuerte Merkel, die Mitglied der „Atlantik-Brücke“ ist, ab 2005 einen betont US-freundlichen Kurs. Schon als Oppositionspolitikerin hätte sie 2003 gerne eine direkte militärische Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg gesehen. Waren es bei ihrem Amtsantritt etwa zehn „Auslandseinsätze“, an denen sich die Bundeswehr 2005 beteiligte, so sind es aktuell 15 solcher Militär-Interventionen „out of area“ (zwischenzeitlich waren es auch schon mehr), die neokolonialen Charakter tragen. Im Afghanistan-Krieg markiert das vom deutschen Oberst Klein zu verantwortende Massaker von Kundus, bei dem selbst nach NATO-Angaben über 140 Menschen, darunter viele Zivilisten, umkamen, einen makabren Tiefpunkt bei der „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“. Hatte die Regierung Merkel sich 2011 immerhin nicht direkt am Libyen-Krieg beteiligt, so gab die Regierungschefin im Falle von Syrien und der Ukraine jegliche Zurückhaltung hinsichtlich deutscher Beteiligung an Regimewechseln auf. Großzügig wurde und wird die jeweilige Opposition gefördert, seien es nun Islamisten oder Faschisten. Mit der neuen, stärker transatlantischen Ausrichtung der Außen- und Militärpolitik korrespondiert ein scharfer antirussischer Kurs, der an die finstersten Zeiten des überwunden geglaubten Kalten Krieges erinnert. Die eigenen Verstöße gegen das hergebrachte Völkerrecht wie im Kosovo-Krieg 1999 verleugnend, warf Berlin nun bei jeder Gelegenheit Moskau die „Annexion“, d. h. die Sezession und Aufnahme der Krim in die Russische Föderation vor und schloss sich den von den USA verlangten antirussischen Sanktionen an, sehr zum Schaden der deutschen Exporte. Diese Linie bestimmt seit 2013/14 auch die Politik Brüssels gegenüber Moskau. Die der Berliner Politik angeschlossenen Massenmedien begleiten all dies weitgehend unkritisch, ja zustimmend, und übertreffen sich bei der Dämonisierung Putins. Im Zuge der Ukraine-Krise verpflichtete sich auch Deutschland auf das Ziel der NATO, zwei Prozent des BIP für das Militär auszugeben. Der Provokationskurs gegenüber Moskau wurde Jahr für Jahr verschärft. Regelmäßig finden große Manöver der Bundeswehr an der Ostgrenze der NATO statt, deutsches Militär ist ständig in Litauen stationiert. Als ob dies alles noch nicht gefährlich und destabilisierend genug wäre, setzt die Regierung Merkel auf neue Cyber-War-Fähigkeiten, die Anschaffung bewaffnungsfähiger Drohnen, ja die Schaffung einer neuen europäischen oder EU-Armee. Dass im Zuge der gigantischen Aufrüstung, die 2024 schließlich mehr als 80 Milliarden Euro kosten soll, die gegenwärtige „Verteidigungsministerin“ infolge einer wohl allzu freihändigen Vergabe von „Beraterverträgen“ in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro unter Druck geraten ist, beschneidet bloß die Karrierechancen einer möglichen Nachfolgerin Merkels. Kein Ton ist von Merkel über die Notwendigkeit einer Abrüstungs- und Entspannungspolitik in Europa zu hören. Die US-Armee kann ihre Basen in Deutschland – wie die in Ramstein – großzügig erweitern.Im Sommer 2015 zeigte die Griechenland-Krise den postdemokratischen Zustand der deutsch dominierten EU. Tsipras wurde von Merkel und ihrem Finanzminister Schäuble regelrecht vorgeführt. Eine Alternative zu den Kürzungs- und Privatisierungsdiktaten der „Troika“ aus EZB, IWF und EU-Kommission zur Rettung der Banken durfte es nicht geben. Gegenwärtig bahnt sich im Streit um den Staatshaushalt Italiens eine Potenzierung des Konflikts zwischen Berlin/Brüssel und einem EU-Mitgliedsland an.  Daran könnten Euro und EU zerbrechen. Offenbar hat man in Berlin weder aus dem „Ochi“ der Griechen noch aus dem britischen „Brexit“-Votum von 2016 gelernt.  Im Gegenteil, Merkel forciert ihren Kurs noch seither.

Auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 äußerte Merkel einen ihrer typischen, weil unbestimmten, Sätze, die für beliebige Interpretationen offen sind: „Wir schaffen das.“ Zeitgleich hatten Unternehmerverbände Ausnahmen vom soeben eingeführten Mindestlohn für Asylsuchende gefordert. Die Migrationskrise führt seitdem die gesellschaftliche Spaltung vor Augen. Vorläufige Folge ist der Aufstieg der marktradikalen und in Teilen nationalistischen bis rassistischen AfD.

Als die Union unter Merkel bei der Bundestagswahl 2017 ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 einfuhr, erklärte Merkel sinngemäß, sie wüsste nicht, was sie hätte anders machen sollen. Angebliche Alternativlosigkeit maskiert als Biederkeit.  Im Gewand der von ihr gerne zitierten „schwäbischen Hausfrau“, die keinen Unterschied erkennen will zwischen privater Haushaltsführung und der Steuerung einer Volkswirtschaft, betreibt Angela Merkel knallharte Interessenpolitik. Nicht etwa im Sinne der Mehrheit (wie der „Diesel-Skandal“ demonstriert), sondern im Interesse der tonangebenden Fraktionen des deutschen Kapitals, und zwar sowohl in ökonomischer wie geostrategischer Hinsicht.Schwer wird das Erbe Merkels zu korrigieren sein: Zu tief ist die Spaltung der Gesellschaft nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – nicht bloß in der deutsch dominierten EU, die sich gerne mit Europa verwechselt.

Die Kanzlerschaft von Merkel dürfte die schlechteste sein, die die BRD je hatte. Merkel steht für „Durchregieren“ in der „marktkonformen Demokratie“. Auf den zentralen Politikfeldern „Soziales“ und „Frieden“ wurde unter Merkel eine Politik gegen die Mehrheit nicht nur in Deutschland, sondern europaweit gemacht. Egal in welcher Konstellation, ob mit der SPD oder mit der FDP, die Union unter Merkel stand und steht für die Kapitalinteressen, nicht für die der Lohnabhängigen.  Wenn man die Situation im Herbst 2018 mit der vom Herbst 2005 vergleicht, fällt die Bilanz Merkels aus Sicht der Mehrheit verheerend aus.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

Dr. Alexander Neu

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