Donnerstag, April 18, 2024
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Abkehr vom Dogma des Wirtschaftswachstums

Containerschiff // CC-BY Con-Junk

Das Wirtschaftswachstum ist eines der führenden politischen Themen. In politischen Reden und Programmen wie in der Wirtschafts-Berichterstattung wird es als wichtigster Wohlstands-Indikator und somit als das oberste Ziel der (Wirtschafts-)Politik betrachtet. Die Fokussierung darauf trägt allzu oft psychologische Züge, fern einer nüchternen Betrachtung einer Zahlengröße. „Die Konjunktur schwächelt“, „erste Anzeichen eines Wachstums“, „USA erwarten, dass Deutschland mehr für das [adrotae group=“3″]Wachstum tut“, „die Stimmung im 2. Quartal“, „es wird ein Wachstum von 1,2% erwartet“ – solche und ähnliche Formulierungen würde man eher in einer Wetter-Sendung oder in einer

psychotherapeutischen Sitzung vermuten, als im Wirtschaftsteil einer seriösen Tageszeitung.

Ist „Wirtschaftswachstum“ tatsächlich so wichtig, ist es immanent für unser Wirtschaftssystem, oder ist es zu einem Fetisch oder gar Dogma geworden? Könnte man sich auch ein Wirtschaftssystem vorstellen, welches durchaus die Züge einer freien Marktwirtschaft trägt, und dabei weder ein Wirtschaftswachstum erwartet, noch davon abhängig ist?

Definition, Einschränkungen und Korrekturen

Wirtschaftswachstum bedeutet die jährliche (positive) Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Summe aller individuellen Einkommen einer Volkswirtschaft. Würde das BIP einer Volkswirtschaft im Jahr 2012 1.000,00 Mrd. EUR betragen, und im Jahr 2013 sich auf 1.015,00 Mrd. EUR erhöhen, wäre dies ein Wirtschaftswachstum von 1,5%. Läge das BIP von 2013 allerdings bei 980,00 Mrd. EUR, würde man von einer Wirtschaftsschrumpfung von 2% sprechen. (Da aber Wirtschaftsjournalisten wie Politiker ungern von „Schrumpfung“ sprechen, werden solche Phänomene oft sprachlich paradox als „negatives Wachstum“ beschrieben.)

In den meisten BIP-Statistiken wird von „realen“, also inflationsbereinigten Werten ausgegangen. Dies macht tatsächlich Sinn, da ein rein nomineller Zuwachs an Einkommen kein wirklicher Wachstum von Wohlstand wäre. Wären in unserem Beispiel die Preise zwischen 2012 und 2013 um ebenfalls 1,5% gestiegen, wäre unser realer Wirtschaftswachstum 0%, bei einer Inflationsrate von mehr als 1,5% – gar negativ!

Was allerdings in den Berechnungen und Interpretationen des Wirtschaftswachstums meist unter den Tisch fällt, ist eine Gewichtung des realen Wachstums mit der Bevölkerungsentwicklung. Wäre in unserer Beispiel-Volkswirtschaft die Bevölkerung in einem Jahr um 2% gewachsen, während das BIP – also die Summe aller Einkommen – nur um 1,5% wuchs, wäre das Ergebnis eine negative Entwicklung des Wirtschaftswachstums pro Kopf. Wenn man also vom Wirtschaftswachstum als Indikator spricht, ist es meiner Meinung nach genauso wichtig, diesen Wert nicht nur mit der Inflation, sondern ebenfalls mit der Bevölkerungsentwicklung zu verrechnen. Eine positive Veränderung der Wirtschaftsleistung pro Person ist viel aussagekräftiger als pro Volkswirtschaft – nicht nur für die Person selbst, sondern auch als Maßstab einer Entwicklung.

Die Frage der Verteilung und des Wohlstands

Auch die Veränderung des BIP pro Einwohner sagt nur bedingt etwas über den Wohlstand – des Landes und erst Recht des einen Einwohners. Denn das Pro-Kopf-BIP ist nicht mehr als der Durchschnittswert der Einkommen aller Einwohner einer Volkswirtschaft. Es zeigt nicht, wie dieses Einkommen verteilt ist, ob nun alle mehr oder weniger das gleiche Einkommen haben, oder aber ob es zehn Super-Milliardäre gibt, auf die 90% der Einkommen des Landes entfallen. So kommt im ersteren Fall ein 2%-Wachstum allen in gleichen Maße zugute, während im zweiten Fall eben 90% dieses Wachstums bei lediglich zehn Person landet – womit sich rein mathematisch die Ungleichheit und somit die Voraussetzungen für die nächste Periode weiter verschärfen. Das als Alternative zum arithmetischen Mittel manchmal verwendete Median-Verfahren zur Ermittlung des durchschnittlichen Einkommens relativiert zwar diese statistische Täuschung, ohne sie aufzuheben.

Ebenso zu beachten ist, dass sich das Wirtschaftswachstum unabhängig der (gleichen) Einkommensverteilung in Periode n sich hinzu Periode n+1 unproportional entwickeln kann. Angenommen das Einkommen im Jahr 2012 war allen identisch. Wenn aber – egal ob durch höhere Lohnabschlüsse, Steuervorteile oder Zufallsereignisse wie eine lokale Umweltkatastrophe – im Jahr 2013 „nur“ 2/3 der Einwohner einen Einkommenszuwachs von 3% verzeichnen sollten, wäre es statistisch gerechnet über alle Einwohner einer Volkswirtschaft immer noch ein 2%-pro-Kopf-Wachstum. In der Tat blieben wären jedoch 33% der Einwohner von diesem Wachstum nicht betroffen.Man argumentiert oft, dass dennoch ein Wirtschaftswachstum sehr wichtig sei, da dabei „die Ärmeren“ ja immer noch mehr bekommen würden als in der Vor-Periode – vor allem dank der höheren Ausgaben und Investitionen „der Reicheren“. Solche Trickle-down-Hypothesen klingen nicht nur nach „…auch für die fällt was vom Tisch ab“, sondern sind schlichtweg nicht belegt. Selbst wenn einem die Einkommensunterschiede (nicht deren Wachstumsraten) egal wären: in den meisten westeuropäischen Ländern wie in den USA ist trotz des Wirtschaftswachstums (auch pro Kopf) das reale Einkommen der „unteren 20-40%“ der Bevölkerung seit Anfang der 80er Jahre gar nicht gestiegen. Man könnte böswillig sagen: „die haben (statistisch) zumindest nichts verloren…“ Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass ein „Null-Wachstum“ oder gar ein schrumpfendes BIP auch bedeuten kann, dass das Einkommen der Reichsten bloß weniger steigt, während das der Ärmsten umso mehr tatsächlich sinkt.

Die versteckten Kosten und fehlende Nachhaltigkeit eines Wirtschaftswachstums

Bei der Berechnung des BIP wie auch dessen Wachstums wird die Nachhaltigkeit komplett außer acht gelassen. Denn die Definition des BIP als „Summe aller Einkommen einer Volkswirtschaft“ ist oberflächlich, im Detail wird es entweder als die s.g. „Entstehungsrechnung” (Summe aller Produktionswerte minus Vorleistungen) oder als „Verwendungsrechnung“ (Konsumausgaben plus Investitionen plus Staatsausgaben plus Export-Überschuß) definiert. Da man also die Einkommen schwer summieren kann, kalkuliert man entweder die Produktionssumme, oder aber die Summe der Konsumausgaben.
Das bedeutet, dass ggf. auf Lager produzierte Ware (die dann vielleicht niemand kauft) oder öffentliche Investitionen (wenig benutzte, aber teure, somit nominell „wertvolle“ Brücken), von Militärausgaben wie Panzer (die keinen Wohlstand erzeugen, da sie bestenfalls nur herumstehen) zu schweigen, sofern sie in der kalkulierten Periode erfolgt sind, in die Summe eingehen, aus der das BIP errechnet wird.

Dass dabei möglicherweise auch noch Schulden angehäuft werden, wird ebenfalls in dieser Periode nicht berücksichtigt, höchstens die Zinszahlungen der Schulden der Vor-Perioden verringern das BIP. D.h. das „Leben auf Pump“ erhöht das BIP, und „nur“ die steigenden Zinszahlungen als Kosten in den Folgeperioden gefährden das spätere BIP-Wachstum – in der auch irgendwann die eigentliche Tilgung erfolgen muß.

Dritter Punkt sind die s.g. „natürlichen Ressourcen“ – also Holz oder Erdöl: deren Veräußerung trägt zum BIP bei, deren „Erwerb“ (=Abbau/Förderung) ist aber bis auf die Förderkosten gratis. Hinzu kommt, dass so ein günstiger „Erwerb“ nicht unendlich anhalten (und proportional zum BIP beitragen) kann, da die Ressourcen irgendwann ausgehen.

Ebenso wie bei Folgekosten von Schulden werden bei der BIP-Berechnung die möglichen Folgekosten nicht in Betracht gezogen – seien es die Aufräumarbeiten eines AKW-Kraftwerks, Gesundheitskosten durch schlechte Luft oder Stress, oder der verminderte mineralische Wert des Ackerbodens.

Zwei Beispiele dazu:

Ein Unternehmen hat über Jahre ein stabiles Einkommen von 1.000.000 EUR (sagen wir, Verkauf von Limonade). Nun nimmt der Unternehmer einen Kredit von 500.000 EUR (zu 5%-Zinssatz, Rückzahlung nach 5 Jahren), um Energy-Drinks zu produzieren. 
Angenommen, die Energy-Drinks verkaufen sich sehr schlecht (statt des erwarteten weiteren Gewinns von 200.000 EUR / Jahr sind es nur 50.000 EUR, dann jedes Jahr 5% mehr). Also wird der Unternehmer, auch wenn der Kredit zinslos wäre, im Jahr n+5 ein Minus als Ergebnis haben. Dennoch könnte er statistisch, trotz des insgesamt schlechten Geschäfts, in den Jahren n bis n+4 über ein stetiges Wachstum von 5% frohlocken! Und erst das Jahr n+5 würde ihm „das Genick brechen“…

Ein Unternehmer hat einen Wald von dem er lebt, indem er jährlich 5% abholzt und verkauft, da auch dieselbe Menge jährlich nachwächst. Jährliches Wachstum also 0%. 
Nun beginnt er, jedes Jahr jeweils 10% mehr als im Vorjahr abzuholzen. Damit sieht es für ein paar Jahre schön aus mit seinem Wirtschaftswachstum, aber (außer er investiert sein verdientes Geld in die Wiederaufforstung) danach wird er keinen Wald mehr haben – und von nichts leben können.

 Ist das Wirtschaftswachstum  für unser Wirtschaftsmodell systemrelevant ?

Auch Kritiker des unbeschränkten Wirtschaftswachstums räumen ein, dieser sei „leider“ doch notwendig – in diesem Wirtschaftssystem. Als Hauptgrund werden nicht die materielle Wohlstandseffekte der Menschheit, sondern – die Kapitalkosten angeführt. Egal ob es sich um das Bedienen der Zinskosten einer Volkswirtschaft, eines Großunternehmens, oder eines Familienhauses handelt – der Gedanke lautet: Nur ein wachsendes Einkommen ermöglicht die Rückzahlung der Zinsen und des Kredites überhaupt. Ungeachtet der Tatsache, dass seit 1945 in kaum einer Volkswirtschaft langfristig die Wachstumsraten über den Zinskosten lagen.

Ich möchte hier nicht zu tief in die Problematik der Kapitalzinsen eingehen, sondern diese Ansicht von Grund auf kritisieren, denn bei der obigen Argumentation wird der Hund mit dem Schwanz gewedelt. Das Einkommen muß immer wachsen, weil wir uns immer weiter verschulden (wollen/müssen)? Würden wir uns nur in dem Maße – untereinander – verschulden, in dem vorher die Wirtschaft gewachsen ist und Kapital übrig geblieben ist (also kein ungedecktes, geschaffenes Fiat-Geld sondern ein Vollgeld-System), und würde jeder Zins dem Risiko des 100%-igen Rückzahlungsausfalls entsprechen – könnte die Wirtschaft (immer noch pro-Kopf gerechnet) – erratisch mal wachsen mal schrumpfen, je nach tatsächlichen Konsumbedarf und der Erfolgsquote der Investitionen. Das Damoklesschwert der Kapitalkosten wäre nur zum geringen Teil der Antrieb des Wachstums. Durch die Kapitalbeschränkung (Summe aller möglichen Kredite <= Summer aller Spareinlagen) und aus der uneingeschränkten Risikoübernahme durch den Kreditgeber (und die daraus hohen Zinsraten) würde der Wunsch nach mehr Ausgaben ohnehin stark schrumpfen – und somit das Wirtschaftswachstum.

Ein weiterer Aspekt, der kritisch zu betrachten ist – und nebenbei der Idee der freien Marktwirtschaft widerspricht – ist der Wunsch nach Wachstum aus Notwendigkeit der Größe.

Ein Beispiel dazu:

Vor ein paar Jahren fragte ich einen polnischen Bekannten, dessen Firma eine der größten polnischen Dachziegelproduzenten ist, warum er denn dieses jährliche „Wachstum“ brauche? Er lebe doch gut (und, ich muss zugeben, relativ bescheiden), Geld hat er genug, er hat keine ausstehenden Kredite zu tilgen, und er tue es doch nicht für sein Ego. Er gab mir recht, fügte jedoch etwas bedrückt hinzu: „Wenn ich aber nicht wachse, verdrängt oder schluckt mich ein anderer, größerer.“

Also doch Wachstum als Überlebensnotwendigkeit, und nicht bloß ein natürliches Ergebnis von Innovation, Qualität, Kundenzufriedenheit – oder gar niedrigeren Preisen. Ein System und eine Gesellschaft, die solche Fälle möglich machen oder gar fördern, ist absurd und nicht hinnehmbar.

Wozu das ganze Wachstum? Warum nicht technologisch bedingte Schrumpfung?

Es ist aus meiner Sicht der wichtigste Einwand eine grundsätzliche, philosophische Frage: Ob man denn „stetiges“ und „langfristig immer währendes“ Wachstum zu seinem Glück braucht.
Natürlich wurden in der Geschichte durch hohe, langfristige Perioden des Wirtschaftswachstums große Teile der Bevölkerung wenn nicht glücklicher (z.B. Deutschland der Erhard-Jahre), so zumindest weniger von Armut bedroht (z.B. China seit den 80er Jahre).
Man darf aber nicht vergessen, dass ein statistisch signifikantes Wirtschaftswachstum erst im 20. Jahrhundert erkennbar war, während man nur bedingt behaupten kann, dass 0-0,5% an jährlichem Wachstum in den Jahrhunderten davor die Menschheit erheblich unglücklicher gemacht hätte (wenn, dann war es sicherlich nicht in erster Linie das geringe Wirtschaftswachstum sondern die Einkommensverteilung).
Ebenso muss man zugeben, dass das Wirtschaftswachstum seit dem 20. Jh. exponentiell wächst – d.h. im besten Falle immer noch nach oben, aber mit konstant sinkenden Raten. Wenn man ehrlich ist, versucht man in den s.g. „industriellen Ländern“ seit Jahren künstlich das Wachstum „anzukurbeln“ – sei es durch Währungstricks (Zinssatz, Abwertung um Exporte „billiger“ zu machen) oder durch schuldenbasierte und -erhöhende Staatsausgaben oder Steuersenkungen.
Also – warum soviel vom Wirtschaftswachstum erwarten? Und erst recht – Glück?
Geht es mir wirklich schlechter, wenn ich statt 2 Stunden mehr pro Tag zu arbeiten, lieber die Zeit mir meiner Familie, Freunden, oder meinem Hobby verbringe? Oder gar spazieren gehe? Macht es mich tatsächlich glücklicher und hebt es meinen Wohl-Stand, wenn ich mir jedes dritte Jahr ein neues (besseres) Auto kaufe, und dazu noch einen vergoldetes Smartphone?

Ich bin der Meinung, dass man sich von der Erwartung eines langfristigen Wirtschaftswachstums verabschieden, und stattdessen nur ein langfristig stabiles Niveau oder gar ein erratisch – je nach Bedarf der Ausgaben – „springende Veränderung“ des BIP erwarten sollte. Und es wäre sinnvoller mehr darüber nachzudenken, wofür man man das erwirtschaftete Einkommen sowohl ausgibt, wie auch eventuell anders verteilt. Der Mensch sollte lernen, sich von der inneren Sucht nach Immer-Weiter-und-Mehr zu befreien.

Es wäre dann sogar möglich, in einer Zeit von stetig schrumpfender Wirtschaft zu leben. Und zwar wenn drei Faktoren zusammenspielen: die Psychologie (kein persönlicher Wunsch nach dem „Mehr“), die Demographie (konstante Bevölkerungsrate), und die Technologie (identische Erträge bei geringerem Einsatz an Energie / Rohstoffen / Zeit / Land etc.). Die einzige Frage wäre dann die gerechte Verteilung der technologisch erreichten Effizienzsteigerungen auf eine konstante Bevölkerung. Der tatsächliche „Produktions-“ oder „Konsumvolumen“ einer Volkswirtschaft würde langfristig (pro Kopf und insgesamt) fallen, ohne dass dies als ein Niedergang oder gar Katastrophe empfunden worden wäre.

Verteiler: Neopresse

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