Donnerstag, April 18, 2024
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Anführer des Abendlandes? Politologe Rahr: „Deutschland hat sich verkalkuliert“

Deutschland greift nach der Führungsrolle in Europa. Doch kann das Land angesichts vieler Krisen diese Verantwortung wirklich tragen? Darüber sprach die Zeitung „Rossijskaja Gaseta“ mit dem Politologen und Direktor des Deutsch-russischen Forums e.V., Alexander Rahr.

Deutschland habe derzeit an mehreren Fronten zu kämpfen, sagt der Experte: „Die Bundesrepublik wird die Orientierung in globalen Angelegenheiten, in der Weltwirtschaft gänzlich verlieren, wenn sie aus irgendeinem Grund die Unterstützung des Weißen Hauses entbehren muss“, so Rahr. Doch habe Berlin eine weitere Front: Die Lage im Inneren der EU. „In der europäischen Gesellschaft brodelt es. Dies begleitet das Erstarken antiglobalistischer Bewegungen, die zunehmend stärker werden.“

Dennoch würden deutsche Eliten ihre Selbstsicherheit wahren, betont der Beobachter: „Sie glauben, dass jenes Modell, das im vergangenen Vierteljahrhundert in Europa aufgebaut wurde, das allerrichtigste und alternativlose ist“, sagt Rahr. Unter den Eliten gebe es auch den Glauben, dass „Deutschland fähig ist, die Führungsrolle bei der Verteidigung des liberalen Fortgangs Europas und des Westens zu übernehmen, sich dem US-Präsidenten zu widersetzen und ihn, sollte er seine Aufgaben nicht erfüllen, aus dem Amt zu entfernen.“

„In Europa denken so nicht nur ein paar Politiker: In Deutschland hat eine Verflechtung führender Medienredaktionen, Wirtschaftsvertreter und Spitzenpolitiker stattgefunden. Diese Position vertreten breitaufgestellte politische Eliten, die dazu bereit sind, gegen alle Herausforderungen eine schlagkräftige Frontlinie aufzustellen“, erklärt der Analyst.

„Die Deutschen betrachten sich schon als Anführer des Abendlands“, betont er. „Zugleich sehen sie ein, dass es in Europa vielen nicht gefallen würde, wenn sie die Führungsrolle besonders im Militärbereich tatsächlich übernehmen und ihren EU-Nachbarn die Fähigkeit demonstrieren, große Mittel für die Verteidigung auszugeben und sogar die Rolle Amerikas als eines Beschützers des Abendlands auf sich zu nehmen.“

Derzeit sei die Lage aber eher so, dass europäische Eliten hoffnungsvoll auf Deutschland blickten – wohl aus pragmatischen Gründen, unterstreicht Rahr: „Diese Länder wollen eine europäische Armee und setzen sich für eine robuste Verteidigungsfähigkeit Europas ein, weil sie einen Konflikt mit Russland fürchten. Damit meine ich vor allem die Länder Osteuropas“, so der Experte. „Und Berlin hat das Geld, das andere Länder nicht haben, um die europäische Armee aufzustellen.“

„Deutschland hat sich verkalkuliert“

Kanzlerin Merkel sei bei ihrer Wiederwahl jedenfalls dazu bereit, diese Rolle auf sich zu nehmen, müsse jedoch verstehen, dass Deutschland sich in gesamteuropäischen Fragen bereits mehrmals schmerzhaft verkalkuliert habe: „Der größte Fehltritt war die Migrationsfrage, als Merkel durch das Öffnen europäischer Grenzen eineinhalb Millionen Flüchtlinge aus den Balkanländern in die Bundesrepublik eingeladen hat. Sie war zu 100 Prozent sicher, einen Teil dieser Flüchtlinge an europäische Nachbarn weitereichen zu können. Doch hat sich in dieser Angelegenheit bislang kein einziges Land zu einem Schulterschluss mit Deutschland bereiterklärt“, sagt der Politikkenner.

Indes komme die multipolare Weltordnung auf, weswegen sich bei den Eliten trotz ihrer strotzenden Selbstsicherheit auch ein Gefühl der Ohnmacht einschleiche: „Sie sehen, dass der Chef aus den USA nach anderen Regeln spielt und anders denkt als seine Vorgänger. Also fängt man an, darüber nachzudenken, wer als Verbündeter in Frage käme. Eben deshalb wurden die Worte Xi Jinpings auf dem Wirtschaftsforum in Davos derart mit Begeisterung aufgefasst, obwohl er nichts grundsätzlich Neues gesagt hat. Er erklärte, dass man sich in der Weltwirtschaft an Kooperationsregeln halten müsse. Offensichtlich war das für Europa gut genug“, so Rahr.

In der Tat sei die bisherige Kritik an chinesischer Führung in den Hintergrund getreten. Die Europäische Union versuche, sich die Unterstützung Pekings zu sichern, möglicherweise auch im Kampf gegen Trump und Russland. „Doch ist dieser Ansatz überhaupt nicht ernst zu nehmen. Denn ein Europa, das sich ausschließlich an der Politik liberaler Werte orientiert, wird mit Peking nichts vereinbaren können. Ich denke, China erkennt, dass es schwierig ist, mit einem Europa, das Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten über alle geopolitischen und anderen Interessen erhebt und zur Vorbedingung aller Politik macht, eine gemeinsame Welt aufzubauen. Deshalb wird Europa, meiner Ansicht nach, zusehends in die Isolation geraten, wenn es seinen Umgang mit internationalen Beziehungen nicht ändert“, merkt Rahr an.

„Keine Vereinigten Staaten von Europa“

Momentan jedenfalls bestehe aller Grund zur Annahme, dass es deutlich weniger Länder geben werde, die die Vereinigten Staaten von Europa aufbauen wollen, als jene, die zu solcher Integration bereit seien. Zudem sei definitiv unklar, mit wem Deutschland ein solches Ur-Europa bauen wolle. Es zeichne sich ja inzwischen ab, dass Deutschlands größter Verbündeter in dieser Frage, Frankreich, seine Einstellung zum gesamteuropäischen Projekt überdenke.

„Schauen Sie selbst: Großbritannien ist aus der EU ausgetreten; Polen und Ungarn haben ernste Wertekonflikte mit Deutschland; Italien, Spanien, Portugal und Griechenland wollen keine deutsche Führung in Finanzfragen, weil sie glauben, dass das deutsche Konzept – Sparen und alte Schulden abzahlen – falsch ist. Mit wem bleibt Deutschland letzten Endes? Skandinavien und die Benelux-Länder. Für die Vereinigten Staaten von Europa ist das natürlich zu wenig“, konstatiert Rahr.

Dies werde auch zur größten künftigen Herausforderung für Berlin, mutmaßt der Politologe. Die deutschen Eliten seien in einer Situation, in der sie einfach keine andere Wahl haben, als den Aufbau eines einheitlichen Europas fortzusetzen. Wegen ihrer Nachkriegserfahrung und ihrer Idee, sich von der Vergangenheit gänzlich loszusagen, „sehen sie es als ihre wichtigste, alternativlose Aufgabe an, in Europa integriert zu sein“, sagt Rahr.

„Russland-Sanktionen bleiben“

Und dann sind da noch die Anti-Russland-Sanktionen. Diese sind laut Rahr weniger an die Regulierung des Ukraine-Konflikts geknüpft. Vielmehr sind sie als gescheiterter Versuch europäischer Eliten zu betrachten, „Russland dazu zu zwingen, zur Demokratie nach westlichem Muster zurückzugehen.“ Die Sanktionen würden nicht aufgehoben: „Wenn westliche Eliten wirklich die Erfüllung der Minsker Vereinbarungen wollten, müssten sie sich ehrlich eingestehen, dass der Friedensprozess ohne Druck auf Kiew, das seinen Teil der Vereinbarungen nicht erfüllt, nicht von der Stelle kommt“, sagt Rahr klar.

Europa werde die Sanktionen nicht einfach so abschaffen, solange der Wunsch bestehe, irgendwie Druck auf Russland auszuüben: „Man wird von Russland nicht nur die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen fordern, sondern auch die Erfüllung weiterer Verpflichtungen im Interesse der westlichen Demokratie“, so der Politologe.

Die neue Politikergeneration in Europa betrachte Russland ebenso wie ihre Väter zu Zeiten des Kalten Krieges: „Als ein der EU absolut fremdes Land“, sagt Rahr. „Das ist leider so und nur eine Katastrophe oder ein Vorfall außerhalb des europäischen Kontinents könnte die Elite dazu bringen, diesen Ansatz zu überdenken, zu erkennen, dass Russland und Europa doch miteinander verbunden sind.“ Ein solcher Vorfall sei jederzeit im Nahen und Mittleren Osten denkbar. „Dann erst wird ein Umdenken im Verhältnis zwischen Europäischer Union und Russland einsetzen, vorher leider nicht“, resümiert der Experte. (Ende)

Quelle: https://de.sputniknews.com/politik/

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