Donnerstag, März 28, 2024

Ausgelagert

ANKARA/BRÜSSEL
(Eigener Bericht) – Berlin und die EU bereiten sich auf den Bau von Lagern für Flüchtlinge in der Türkei vor. Entsprechende Pläne sind am gestrigen Montag bei einem Treffen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit der EU-Spitze in Brüssel besprochen worden. Demnach ist die EU bereit, bis zu einer Milliarde Euro für den Bau von sechs Lagern in der Türkei zu zahlen, in denen Flüchtlinge vorzugsweise aus Syrien festgesetzt werden sollen. Kern der Gesamtplanung ist das Vorhaben, gemeinsame

 

 

 griechisch-türkische Patrouillen unter Aufsicht der EU-Grenzabschottungsbehörde Frontex im Mittelmeer Flüchtlinge aufgreifen zu lassen, um sie direkt zurück in die Türkei zu deportieren. Auf diese Weise soll jegliche Flucht über die Türkei in die EU unmöglich gemacht werden. Allerdings ist es dazu unumgänglich, die Türkei trotz des neu entflammten Bürgerkriegs zum “sicheren Drittstaat” zu erklären.

 

Gespräche in Brüssel
Die Pläne zum Bau von EU-Flüchtlingslagern in der Türkei, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière kürzlich vorgetragen hat [1], sind am gestrigen Montag in Brüssel konkretisiert worden. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der dazu eigens angereist war, verhandelte darüber mit EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Berlin und die EU dringen auf eine baldige Einigung; Erdoğan hingegen zöge es vor, zunächst die Parlamentswahlen in der Türkei am 1. November abzuwarten. Die Grundzüge der Pläne sind jedoch mittlerweile bekannt.

 

 
Aufgegriffen
Kernelement ist die Absicht, die Abschottung der griechisch-türkischen Seegrenze zu perfektionieren. Dazu sollen gemeinsame griechisch-türkische Patrouillen im Mittelmeer durchgeführt werden; in die Patrouillen, deren Aufgabe es ist, Bootsflüchtlinge auf dem Weg zu den griechischen Inseln zu stoppen, soll zudem die EU-Grenzabschottungsbehörde Frontex eingebunden werden. Damit die aufgegriffenen Flüchtlinge sofort zurück in die Türkei deportiert werden können, soll diese zum “sicheren Drittstaat” erklärt werden. Das ist mit massiven rechtlichen Schwierigkeiten verbunden, da in der Türkei, seit Ankara die Angriffe auf die PKK und die krasse Repression gegen andere kurdischsprachige Organisationen wieder aufgenommen hat, faktisch Bürgerkrieg herrscht. Um die automatische Rückschiebung von Flüchtlingen in ein Bürgerkriegsland zu legitimieren, schlägt EU-Parlamentspräsident Schulz (SPD) jetzt vor, den Status des “sicheren Drittstaates” an die EU-Beitrittskandidatur zu binden. Schulz erklärt: “Es ist absolut unmöglich, über die Türkei als Beitrittskandidatin zu sprechen und sie nicht zum sicheren Herkunftsland zu erklären.”[2]

 

 
Festgesetzt
Streit gibt es darum, was nach der Abschottung der Grenze mit den Flüchtlingen geschehen soll. Ankara ist nicht bereit, sich weiterhin allein um sie zu kümmern. Mittlerweile hielten sich beinahe 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei auf, erklärte Erdoğan gestern in Brüssel. Die Türkei habe für sie bislang rund 7,8 Milliarden US-Dollar ausgegeben, während weitere Staaten sich lediglich mit 417 Millionen US-Dollar an den Kosten beteiligt hätten; man werde das nicht länger tolerieren. Kritiker wollen in Erdoğans Unmut darüber eine Ursache dafür erkennen, dass es der türkischen Küstenwache in den ersten neun Monaten 2015 nicht gelungen ist, mehr als 50.000 der insgesamt rund 440.000 Flüchtlinge, die von der türkischen Küste auf griechische Inseln reisten, aufzugreifen. Die EU ist, wie berichtet wird, bereit, Ankara eine Milliarde Euro für den Bau von sechs Flüchtlingslagern zu zahlen, in denen bis zu zwei Millionen Menschen versorgt werden können. Außerdem ist Brüssel offenbar bereit, bis zu 500.000 Flüchtlinge aus der Türkei direkt in die EU zu holen. Erdoğan zufolge beabsichtigt die EU dabei, Flüchtlinge nach ihrer Nützlichkeit – etwa für die Wirtschaft – auszuwählen.

 

 
Abgeschoben
Kommt es zur Umsetzung des Lagerbaus in der Türkei, dann hätte die EU jenseits ihrer südöstlichen Grenzen erreicht, was der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) im Sommer 2004 für Nordafrika plante: Flüchtlinge außerhalb der EU festzusetzen und damit den Druck beträchtlich zu lindern, den Menschen auf die europäischen Wohlstandszentren ausüben können, wenn sie in Massen vor den Kriegen des Westens oder vor ökonomischer Ausbeutung durch Konzerne aus den reichen Industriestaaten fliehen (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Kriege wären dann für die EU auf Dauer führbar, ohne die Fluchtkonsequenzen tragen zu müssen; die ökonomische Ausplünderung ärmerer Staaten könnte folgenlos fortgeführt werden.

 

 
Container in Syrien
Allerdings fordert Erdoğan noch Zugeständnisse. Insbesondere soll die EU den Bürgern der Türkei Visumsfreiheit gewähren, darüber hinaus die eine Milliarde Euro zum Lagerbau nicht, wie bisher geplant, aus denjenigen Haushaltsposten entnehmen, die für die Unterstützung des türkischen EU-Beitrittsprozesses geplant sind; insbesondere soll sie Ankaras Plänen für Nordsyrien zustimmen. Gemeint ist das Ansinnen, dort eine “Schutzzone” einzurichten, die faktisch die türkische Kontrolle über Teile Nordsyriens sichert und damit die Entstehung eines einheitlichen Kurdengebietes verhindert. Ankara wirbt dafür, in der “Schutzzone” drei Containersiedlungen für gut 300.000 Flüchtlinge aufzustellen, die zur Rückkehr nach Syrien bereit sind. Welche Lebensperspektive die Menschen in den Containersiedlungen auf lange Sicht haben sollen, ist ebensowenig ersichtlich wie eine Antwort auf die Frage, wie sie ohne eine offizielle Besetzung des Gebiets mit Bodentruppen vor etwaigen Angriffen des “Islamischen Staats” (IS) oder anderer Jihadisten-Milizen geschützt werden sollen.
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….danke an Annette Sch.

 

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