Dienstag, April 23, 2024
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„Boko Haram zeigt Scheitern des postkolonialen Staats“

Nigerianische Soldaten zeigen eine Fahne von Boko Haram, nachdem sie Damasak zurückerobert haben.

Islamwissenschafter Lohlker ortet ein massives Versäumnis der nigerianischen Regierung im Kampf gegen die Islamisten

Der Feldzug der Terrormiliz "Islamischer Staat" im Irak und in Syrien steht medial im Mittelpunkt, islamistische Strömungen in Afrika sind oft nur ein Fehler, Gruppe existiert nicht! Überprüfen Sie Ihre Syntax! (ID: 3)Randthema. der Standard.at sprach anlässlich der Parlaments- und Präsidentenwahl in Nigeria mit dem Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker über Ursprünge und

Rolle der radikalislamischen Organisation Boko Haram.

derStandard.at: Boko Haram erlangte in Europa spätestens mit der Massenentführung von 300 Schülerinnen in Chibok im April 2014 traurige Bekanntheit. Zuletzt sollen diese Woche 500 Frauen und Mädchen entführt worden sein. Die Gruppe existiert jedoch schon bedeutend länger. Welche Faktoren haben ihrer Entstehung beigetragen?

Lohlker: Letztendlich geht Boko Haram auf die Kolonialzeit zurück, die die Bedingungen für die Attraktivität einer solchen Gruppierung geschaffen hat. Die Briten haben gewisse Regionen wie Nordkamerun und den Nordosten von Nigeria vernachlässigt. In diesen Regionen gibt es nach wie vor großen Nachholbedarf in der Entwicklung, was in Perspektivlosigkeit resultiert. Natürlich kann man sagen, dass bereits in den 1960er-Jahren Radikalisierungstendenzen unter nigerianischen Muslimen festzustellen waren. Ich bin jedoch etwas bescheidener und sage, dass diese Tendenzen in Nigeria erst in den 1980ern durch transnationale Entwicklungen und das Scheitern der nationalen nigerianischen Politik verstärkt worden sind. Ohne massive Fehler der nigerianischen Regierung wäre Boko Haram vielleicht eine Sekte geblieben und nicht zu dem geworden, was es heute ist. Boko Haram ist für mich Ausdruck des Scheiterns des postkolonialen Staates.

derStandard.at: Welche Fehler der nigerianischen Politik sind das?

Lohlker: Einerseits kam es zu politischer Einflussnahme wie erkaufter Unterstützung bei Wahlen von den Vorläufern von Boko Haram. Andererseits ist auch die mangelnde Befähigung der Polizei, mit dem Phänomen umzugehen, zu nennen. Boko Haram ist außerdem ein klassischer Fall für die Theorie sozialer Bewegungen: Wenn die Repressionen gegen eine Bewegung erhöht werden, steigt das Risiko, dass sich diese der Gewalt zuwendet.

Bei den Entführungen durch Boko Haram vergisst man häufig, dass die nigerianischen Behörden zuerst die Entführung der Familien von Boko Haram angeordnet haben. So könnte man ein Gedankenexperiment machen, was wäre, wenn das nicht der Fall gewesen wäre; ich weiß es nicht. Fakt ist, dass zahlreiche Fehler der Regierung zur jetzigen Situation geführt haben. Beim Menschen würde man von einem multiplen Organversagen sprechen.

derStandard.at: Was ist der heutige Nährboden für Boko Haram?

Lohlker: Mangelnde Bildung, Armut, Perspektivlosigkeit. Bildung ist ein zentrales Thema, wenn man den Namen der Organisation bedenkt. Das öffentliche Bildungswesen war und ist recht unterentwickelt. Bildung – und da kommen wir in die 1960er und sogar noch weiter zurück – wurde häufig islamisch kodiert verstanden. Die Organisation versteht sich als Gruppierung, die Kritik an der westlichen Bildung übt, was wiederum auf das Oktroyieren westlicher Bildung in der Kolonialzeit zurückgeht. Ebenso gab es eine islamisch kodierte Tradition des Widerstandes gegen koloniale Herrschaft. Diese war insofern nicht sehr relevant, als die Briten in ihrer Tradition des "indirect rule" sich nicht damit beschäftigt haben, solange es keine Unruhen gab.

Für die Region generell hatte islamische Bildung immer einen sehr hohen Stellenwert. Negative Beispiele dafür sind beispielsweise Kinder, die zu einem Lehrer geschickt werden, der den Koran unterrichtet. Diese Kinder müssen betteln gehen, bis sie sich so weit qualifiziert haben, dass sie selbst Kinder haben, die für sie betteln. Das ist der Humus, aus dem die Kämpfer von Boko Haram stammen. Ich kann nur noch einmal betonen, dass es sich um ein multiples Versagen des Staates handelt; eines Staates, der im Falle Nigerias die Mittel hätte.

derStandard.at: Wie viel islamistisches Gedankengut ist bei Boko Haram zu finden, wie unterscheidet sie sich von anderen islamistischen Bewegungen?

Lohlker: In diesem Zusammenhang muss man sich zunächst die Frage stellen, was Islamismus eigentlich ist. In den 1980er-Jahren kam es in Zentral- und Westafrika, unterstützt von Saudi-Arabien, zu einem starken Anstieg von salafistischem Gedankengut. Das ist eine Parallele zu anderen jihadistischen Bewegungen. Ebenso gibt es eine einheimische Tradition, die auf die Ursprünge des Sokoto-Kalifats zurückgeht. Diese einheimischen und transnationalen Einflüsse gekoppelt mit den entsprechenden sozioökonomischen Bedingungen haben zur Entwicklung einer Organisation wie Boko Haram geführt. Ebenso ist eine Wahlverwandtschaft zwischen Boko Haram und dem Daesh, dem Islamischen Staat, erkennbar. Im Internet kursieren Videos, in denen seitens Boko Harams Loyalität gegenüber dem IS-Kalifen erklärt wird. Interessant ist auch, dass diese Videos nach dem Muster der IS gestaltet werden. Boko Haram ordnet sich also quasi selbst in die transnationale islamistische Subkultur ein.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich auch mit der Online-Präsenz von Jihadismus. Wie wird Boko Haram in jihadistischen Online-Foren wahrgenommen?

Lohlker: Die Wahrnehmung von Videos, die Boko Haram postet, ist nicht überragend, da es für die jihadistische Subkultur wichtigere Gruppen gibt. Boko Haram wurde lange Zeit – selbst bei geografisch nahen Organisationen wie Al-Shabaab – kaum wahrgenommen. Das hat sich nun geändert, da es mehr zu berichten gibt. Vor einigen Monaten war die Resonanz bedeutend geringer: Wenngleich die Entführung der rund 300 Schülerinnen im April 2014 medial stark von Boko Haram inszeniert worden ist, gab es damals wenig Resonanz in Online-Foren. Heute ist eine deutlich stärkere Resonanz festzustellen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Loyalitäten der Foren klarer sortiert haben. Es gibt Pro-IS- und Pro-Al-Kaida-Foren. Seit dem Video, in dem der Anführer von Boko Haram, Abubakar Shekau, Loyalität gegenüber dem IS-Kalifen erklärt hat, ist in IS-verbundenen Foren stärkere Resonanz festzustellen.

derStandard.at: Welche Parallelen gibt es zwischen Boko Haram und anderen islamistischen Organisationen?

Lohlker: Der Unterschied zwischen Boko Haram und IS sowie Al-Shabaab ist, dass die internationale Komponente fehlt. Sie stützen sich auf lokale Kräfte. Man vermutet, dass die Mitglieder Boko Harams vor allem perspektivlose und arme junge Männer sind, die keinen anderen Weg sehen. Das ist die große Parallele zwischen den verschiedenen Organisationen: Als Mitglied bei einer solchen Organisation kann man von einer sehr niedrigen sozialen Position aufsteigen und wird jemand; jemand, der Macht hat, wenn auch nur in Form eines Gewehrs. Letztendlich haben die Kämpfer auch zwei gesellschaftliche Gruppen unter sich: Unbewaffnete und Frauen. Was mich wiederum zu den Entführungen der Frauen bringt: eine weitere Parallele zwischen Boko Haram und IS.

Beide Gruppierungen entführen Frauen und verheiraten sie gezielt unter ihren Kämpfern – ein Paradebeispiel für den maskulinen Charakter solcher Organisationen. Mittlerweile gibt es auch Gerüchte, dass manche Frauen, die damals in Chibok entführt wurden, zu Kämpferinnen ausgebildet werden. Männer sollten schließlich nicht gegen Frauen kämpfen. Frauen sollen also Frauen umbringen. Wie solche Informationen zu werten sind, ist schwer zu sagen, aber es würde ins Bild passen.

derStandard.at: Wie werden die Mitglieder Boko Harams ausgebildet?

Lohlker: Gewöhnliche Mitglieder werden mit einer Kurzeinweisung im Kampf ausgebildet. Das ist nur dadurch möglich, dass sich Polizei und Armee in Nigeria, Niger und Kamerun nicht als besonders gut im Kampf erwiesen haben. Es gibt schließlich Korruption, und angeblich werden Waffen auch vom Militär an Boko Haram verkauft. Bei militärischen Handlungen fehlt es also an Effizienz und Koordination. Auch hier kann man wieder Parallelen zur IS ziehen: Wie soll ein einfacher Soldat, der schlecht bezahlt wird, kämpfen, wenn er weiß, dass seine Offiziere inkompetent und korrupt sind?

derStandard.at: Welche Motive hat Boko Haram, und wie finanziert sich die Organisation?

Lohlker: Erpressung, Teilnahme an Schmuggelnetzwerken, Lösegeldforderungen und Plünderung spielen bei Boko Haram eine große Rolle. Ohne die Ideologie gäbe es die Organisation zwar nicht, aber die Trieb- und Finanzkraft hängt von wirtschaftlichen Faktoren ab. Ansonsten könnte sie ihre Kämpfer nicht bezahlen, und das ist schließlich einer der Hauptfaktoren, die Boko Haram attraktiv machen.

Boko Haram ist zudem in Schmuggelnetzwerke eingebunden. Seit dem Zerfall Libyens kursieren sehr viele Waffen in Nordwestafrika. Auch Boko Haram ist vermutlich an dem Schmuggel über die Sahara beteiligt. Denkbar ist auch, dass die Organisation sich teilweise durch Drogenschmuggel finanziert. Lokale Geldquellen wie Lösegeldforderung spielen eine zentrale Rolle. Für Unterstützungen aus dem Ausland gibt es derzeit wenige Indikatoren.

derStandard.at: Welche Möglichkeiten hat die nigerianische Regierung, Boko Haram einzudämmen?

Lohlker: Es gab in der Vergangenheit massive Fehler und einen ungeschickten Umgang seitens der nigerianischen Regierung mit Boko Haram. Niemand ist bereit gewesen, sich genau damit zu beschäftigen, was Boko Haram ist, um in weiterer Folge eine kohärente Politik zu entwickeln. Es war eine kurzfristige Handlungsweise, wodurch auch eine Parallele zur IS gegeben ist. Auch hier dachten diverse Kräfte, sie könnten die IS nutzen. Eine sehr kurzfristige politische Vorgehensweise hat also in weiterer Folge negative Resultate produziert.

Ich denke, dass es jetzt auf eine Mischung aus Repression und Prävention ankommt, wobei der Schwerpunkt natürlich auf Prävention liegen sollte. Boko Haram ist Ausdruck gravierender politischer und sozialer Probleme. In erster Linie geht es um die Lösung sozialer Probleme, wo ich mich aber nicht sehr zuversichtlich zeige. Ebenso ist eine koordinierte und effektive militärische Aktivität zur Eindämmung notwendig und sinnvoll. Hier sollte man jedoch auch an den "War on Terror" im Allgemeinen denken. Der Islamische Staat ist schließlich das Resultat des War on Terror. Diese Art der repressiven Bekämpfung reicht allein sicher nicht aus und kann lediglich als Eindämmung dienen, damit in weiterer Folge langfristige Maßnahmen ergriffen werden können.

(Judith Moser, derStandard.at, 27.3.2015)

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