Freitag, März 29, 2024
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Das Dritte Reich erneut besiegen: Warum ist Geschichtsrevisionismus in Europa wieder in Mode?

Politiker aus Polen und den postsowjetischen Staaten der EU ließen im Sommer und Herbst 2017 mit umstrittenen Aussagen aufhorchen. Ihnen zufolge soll Deutschland wegen des im Laufe des Zweiten Weltkrieges verursachten Schadens Reparationen an Polen zahlen.

von Max Maksimow

Im Sommer und Herbst 2017 kam es zu einigen überraschenden bis verstörenden Aussagen von Politikern aus Polen und den postsowjetischen Staaten der EU, die man nach so vielen Jahren seit der Osterweiterung in dieser Form nicht erwartet hätte. Sie alle untermauern eine zunehmend wieder populär werdende Forderung: Deutschland solle wegen der im Laufe des Zweiten Weltkrieges verursachten Schäden Reparationen an Polen zahlen.

Zuerst behandelte man diese Ideen auch in Polen weithin als Kuriosität und Populismus. Jedoch kamen diese Statements mittlerweile nicht mehr nur von politischen Randpersonen, sondern vom Vorsitzenden der regierenden polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“, Jarosław Kaczyński, dem Verteidigungsminister Polens, Antoni Macierewicz, und von Premierministerin Beata Szydło. Sie alle betonten, dass Polen das Recht auf Kriegsentschädigungen habe. Kaczyński zufolge diskutierten der jetzige polnische Präsident Andrzej Duda und sein deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier jüngst ebenfalls dieses Problem.

Wer stellt welche Ansprüche an wen?

Laut den Berechnungen des Sejms, des polnischen Parlaments, schuldet Berlin Warschau fast 50 Milliarden US-Dollar. Die Bundesregierung konnte derartige Ansprüche nicht ignorieren und hat sie dementsprechend offiziell abgelehnt. Die Begründung war, dass Berlin alle möglichen Reparationszahlungen bereits geleistet habe und Polen keine Rechtsgrundlagen für solche Forderungen vorweisen könne. In Warschau denkt man nun sogar daran, ein Verfahren vor einem internationalen Schiedsgericht einzuleiten.

Es wäre aber seltsam gewesen, hätten sich die Ansprüche Polens ausschließlich auf Deutschland beschränkt, bedenkt man, dass es sich um den Zweiten Weltkrieg handelt. Polen gibt die Schuld an dessen Ausbruch nicht nur dem Dritten Reich, sondern auch der UdSSR. Die Abgeordneten des Sejms entschieden sich entsprechend dazu, sich nicht auf die Forderungen gegenüber Deutschland zu beschränken, sondern nun auch Reparationen von Russland zu fordern. In diesem Zusammenhang spielte auch die Forderung nach einer Rückzahlung von angeblich 30 Millionen Rubel in Gold eine Rolle, die seit dem Abschluss des sowjetisch-polnischen Friedensvertrags im Jahr 1922 nie ausgezahlt worden seien. Zum anderen handelt es sich um Reparationsforderungen für die Eingliederung der westlichen Regionen der Ukraine und Weißrusslands in die UdSSR im Jahr 1939. Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski kommentierte diese Ideen wie folgt:

Aus moralischer Sicht ist es klar, dass wir keine Entschädigung erhalten haben für die Schäden, die sowohl durch den deutschen Angriff auf Polen als auch durch den sowjetischen, russischen Krieg verursacht wurden.

Erwartungsgemäßes Kopfschütteln in Russland

Der erste stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Staatsduma, Dmitri Nowikow, stellte in einem Interview mit RT den Realismus hinter den polnischen Forderungen in Frage:

Polnische Politiker sollten sich daran erinnern, dass die Existenz von Polen in den heutigen Grenzen unter anderem die unmittelbare Folge der Konferenzen von Jalta und Potsdam ist, wo die Sowjetunion die Interessen Polens verteidigte. Deshalb sollten sie sich nicht nur an 1921, sondern auch an 1945 erinnern.

An dieser Stelle muss man sagen, dass dies bei weitem nicht der erste und nicht der letzte internationale Konflikt ist, der in einen Versuch der Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs mündet. Die Entwicklung erregte nur deswegen allgemeine Aufmerksamkeit, weil ein Teil der Konfliktparteien der Europäischen Union angehört. Gerade das verleiht diesem Fall einen Anstrich von skandalöser Würze.

Das Thema der Revision einer scheinbar vollständigen Geschichte ist auch im postsowjetischen Raum verbreitet: Hier agiert die Ukraine als der Trendsetter hinsichtlich dieser seltsamen und gefährlichen „Mode“. Vor allem deswegen, weil sie versucht, die Russische Föderation für die Folgen des Staatsstreichs von 2014, der die Abspaltung eines Landesteils, einen Bürgerkrieg und einen Krieg in der Ukraine zur Folge hatte, verantwortlich zu machen. Aber die Ursachen der ukrainischen „Mode“, Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu revidieren, liegen tiefer. Der Staatsstreich brachte rechtsextreme Nationalisten und auch diejenigen an die Macht, die davon profitieren, sich deren Sicht auf die Geschichte anzueignen. In dieser Frage sind ihre Vorwürfe an die Russischen Föderation viel breiter.

Ukraine greift historisch sogar noch weiter zurück

Ukrainische Nationalisten gehen im Parlament sogar noch weiter zurück als ihre polnische Kollegen. Sie versinken in den Tiefen der Geschichte. Sie werfen Moskau die „Besetzung“ der Ukraine während des Bürgerkriegs Anfang des 20. Jahrhunderts vor und sogar jene, die im 17. Jahrhundert stattfand, nach dem Bürgerkrieg in der Rzeczpospolita Polska, zu Deutsch: der Königlichen Republik Polen. Aber in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg waren sich die Abgeordneten des polnischen Sejms und der ukrainischen Rada als Partner einig.

Vor genau einem Jahr, im Oktober 2016, verabschiedete die Rada die gemeinsame ukrainisch-polnische Erklärung Nr. 1704-VIII unter dem Titel „Erinnerung und Solidarität“. In dieser wurden der Molotow-Ribbentrop-Pakt verurteilt und die UdSSR sowie das Dritte Reich als die Auslöser des Zweiten Weltkriegs benannt. Es ist bemerkenswert, dass sich ursprünglich auch Litauen dieser Erklärung anschließen wollte. Im letzten Moment aber verzichtete der litauische Sejm auf diesen Schritt. Genaue Gründe dafür waren anfangs nicht bekannt. Der älteste Abgeordnete der Rada lüftete jedoch den Schleier, Jurij Schuchewytsch, seines Zeichen der Sohn eines berühmten Nazi-Protagonisten und Bandera-Anhängers, Roman Schuchewytsch.

Von der Rednerbühne des ukrainischen Parlaments aus warf er seinen Kollegen Schimpfworte an den Kopf und nannte sie „dumm“. Es hatte sich herausgestellt, dass Rada-Abgeordnete nicht die Autoren der Erklärung waren und sie diese nicht einmal gelesen hatten, bevor sie sie verabschiedeten. Desweiteren wurde die Erklärung im polnischen Sejm geschrieben, wo die Wiedervereinigung der Westukraine und Weißrusslands immer noch für eine Annexion der polnischen Territorien gehalten wird. In Warschau hat die Verurteilung des Molotow-Ribbentrop-Paktes nicht die gleiche Bedeutung wie in der Ukraine. Polen glaubt immer noch, dass die UdSSR polnische Territorien gestohlen hatte. Aber die ukrainischen Abgeordneten sind nicht so sehr am Inhalt von Gesetzen interessiert, dass sie auf diese gefährlichen Einzelheiten eingehen würden.

Aus wahrscheinlich gerade diesem Grund lehnte es Litauen ab, die Erklärung zu unterzeichnen. Tatsache ist, dass nicht nur das Dritte Reich, sondern auch die UdSSR an der Teilung Polens im Jahre 1939 teilnahm. Ein Teil des Territoriums der zweiten Rzeczpospolita ging darüber hinaus an die Slowakei und Litauen. Zudem war Litauen 1939 noch kein Teil der UdSSR. Dies sollte erst im Jahre 1940 der Fall sein. Die jetzige Hauptstadt Litauens, die Stadt Vilnius, war von der Annexion 1922 und dem Nichtangriffspakt Teil Polens. Dadurch, dass sie den Molotow-Ribbentrop-Pakt verurteilen, hätten litauische Abgeordnete Vilnius als besetztes Territorium anerkannt, Polen das Recht darauf zugesprochen und somit Litauen selbst zum Mitverursacher des Zweiten Weltkriegs erklärt. Vielleicht sagte deshalb der litauische Sejm im letzten Moment seine Teilnahme an der politischen Intrige ab, die in Warschau geplant worden war.

Titelbild nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens.

Ukrainische Abgeordnete konnten mangels Fachkompetenz offenbar nicht auf diesen einfachen Gedanken kommen. Natürlich erhebt Polen auch einen Anspruch in der Frage der Angliederung von Vilnius an Litauen. Immerhin stellten Polen 1939 sogar noch die Bevölkerungsmehrheit in der Stadt. Dies klingt zwar in der allgemeinen Diskussion nicht an, aber am Rande des polnischen Sejm wird nicht selten und nicht ungern daran gedacht. Niemand könnte die Diskussion solcher Themen in der Presse oder im Internet verbieten – insbesondere nicht in der heutigen Ukraine, wo man offen über territoriale Ansprüche gegenüber Russland, Weißrussland und eben auch Polen spricht.

Münchner Abkommen von 1938 wird gerne vergessen 

Wenn man sich aller Umstände des Zweiten Weltkriegs erinnert, wird man gezwungen sein, sich auch sehr unangenehmer Episoden zu erinnern – und man muss dazu nicht einmal bis zum Versagen der westlichen Siegermächte nach 1918 im Zusammenhang mit den folgenschweren Verträgen von Versailles, St. Germain und Trianon oder im Nahen Osten zurückgehen, ohne das es vielleicht zu manchen fatalen Entwicklungen in den Jahren und Jahrzehnten darauf gar nicht erst gekommen wäre.

Man braucht sich nur des Münchner Vertrags zu erinnern, in dem Großbritannien, Frankreich, das Dritte Reich und Italien ohne Beteiligung der Delegation aus der Tschechoslowakei die Übergabe des Sudetenlandes an das Dritte Reich vereinbarten. Dieser Vertrag wird heute von keinem Menschen als solcher betrachtet, und letztendlich hat er zum Beginn der Expansion des Dritten Reiches geführt. Niemand bezeichnet diesen Vertrag als „Hitler-Chamberlain-Daladier-Mussolini-Pakt“. Im Westen erinnert man sich nicht gerne daran. Besonders stoßen auch heutigen Staatenlenkern Fotos sauer auf, auf denen die Flaggen des Dritten Reiches, Frankreichs und Großbritanniens einträchtig nebeneinander in München flattern.

Stalin neu denken?

Im Unterschied zum britischen Premierminister saß Sowjetführer Josef Stalin selbst nie an einem Tisch mit Hitler. Im Gegenteil: Stalin wurde für den Molotow-Ribbentrop-Pakt im Jahr 1939 von der amerikanischen Zeitschrift Time zum „Mann des Jahres“ gemacht. Im begleitenden Leitartikel dazu heißt es:

Josef Stalin hat in einer August-Nacht das Machtverhältnis in Europa dramatisch verändert. Das machte Josef Stalin zum Mann des Jahres 1939. Zu Beginn des vergangenen Jahres hatte Adolf Hitler der ganzen Welt bereits gezeigt, dass seine Tasche der politischen Tricks nicht bodenlos war. Winston Churchill, der erste Lord der Admiralität, tauchte mit großer Energie wieder in europäischen Angelegenheiten auf, aber er war  kein Chef der Regierung. Nach sieben Jahren von Franklin Roosevelt sind die Vereinigten Staaten immer noch in der Depression und können kein Vorbild für den Rest der Welt darstellen. Dagegen waren die Handlungen von Josef Stalin im Jahr 1939 positiv, überraschend und schockierend für die Welt. Die Unterzeichnung des nazistisch-kommunistischen Nichtangriffspakts im Moskauer Kreml in der Nacht vom 23. auf den 24. August war eine diplomatische Demarche, die im wahrsten Sinne des Wortes die Welt erschütterte.

Wie man sieht, betrachtete damals niemand Stalin als Aggressor und umso weniger als einen Verursacher des Zweiten Weltkriegs – im Gegenteil. Das ist die Meinung der damaligen Presse. Heute müssen diejenigen, die die Ergebnisse des größten Krieges der menschlichen Geschichte überprüfen wollen, erst einmal verstehen, wie gefährlich ein solches Ansinnen ist. Denn dann wird man sie auch an andere Fakten erinnern müssen, über welche in Polen und in der Ukraine sowie anderen Ländern gerne geschwiegen wird.

Worüber man gerne schweigt

So schweigt man zum Beispiel lieber über die Tatsache, dass es Polen erlaubt wurde, einen erheblichen Teil der von Deutschen besiedelten Territorien zu annektieren. Zu diesen Geländen gehören das südliche Ostpreußen, ein Teil von Brandenburg, Pommern und Schlesien. Man wird sich auch daran erinnern, dass die Deutschen von dort zwangsweise und ohne jegliche Entschädigung abgeschoben wurden, Millionen Menschen überlebten die Vertreibung nicht, in Internierungslagern wie Lamsdorf soll eine mindestens vierstellige Anzahl von Zivilisten gequält und getötet worden sein. Das könnte man nach unseren heutigen Maßstäben durchaus in einen Bereich einordnen, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn nicht gar einem Völkermord nahekommt.

Die Vertreibung der Deutschen wurde von den Behörden Polens, Litauens, der Tschechoslowakei und der Ukraine durchgeführt. Obwohl diese Länder ein Teil der UdSSR waren, wäre es nicht nur nach der nun von Polen und der Ukraine bemühten Logik ungerecht, historische Verantwortlichkeit nicht zu teilen. Ich habe noch nie gehört, dass in den betroffenen Ländern und unter den gegenwärtigen Politikern jemand das Thema einer Entschädigung für die Abschiebung der Deutschen behandelt hätte.

Die Gründe des heutigen Revisionismus

Warum befassen sich polnische und ukrainische Politiker aber mit solch einem gefährlichen Geschäft wie der Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges? Diese Versuche könnten pragmatische Gründe haben: Vor allem den Wunsch, einfaches Geld aus dem Nichts zu machen. Dies ließe sich sogar zu einem Präzedenzfall umwandeln. Zudem hat nicht Polen selbst diese Herangehensweise erfunden, um Geld zu verdienen. Als erstes Land hat Griechenland, das damals unter der Schuldenkrise litt, von Deutschland ernsthaft 279 Milliarden Euro gefordert. Die EU hat damals solch gefährliche Präzedenzfälle jedoch nicht zugelassen. Künftig wird sie es auch nicht dulden. Aber diese gefährlichen Diskussionen werden sich weiter fortsetzen.

Zugegeben: Das arrogante Auftreten heutiger deutscher Politiker gegenüber anderen Nationen, wie es nicht nur Russland, sondern auch Griechenland, Polen und viele andere Länder kennenlernen durften, trägt ohne Zweifel seinen Teil dazu bei, Begehrlichkeiten dieser Art zu wecken. Man sollte ihnen dennoch nicht nachgeben. Die Büchse der Pandora sollte geschlossen bleiben.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Beitragsbild: Sputnik

Quelle: https://deutsch.rt.com/meinung/59707-dritte-reich-erneut-besiegen-warum-geschichtsrevisionismus-europa/

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