Donnerstag, März 28, 2024
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Deutschland: Der Arbeitsfetisch

Die Schizophrenie der modernen Industriegesellschaft

Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.

Nein, stopp: Nur die armen Arbeitslosen fallen in die Schublade »Ballastexistenz«. Millionenerben, Banker- und Industriellenkinder dürfen durchaus lebenslang arbeitslos und faul sein. Sie dürfen andere kommandieren, während sie sich den Bauch auf ihrer Jacht sonnen.

Der »heilige Arbeitsmarkt«

Früher glaubten viele Menschen an einen Gott. Wie viele heute noch glauben, da oben säße einer, der alles lenke, weiß ich nicht. Das ist auch egal. Gottes ersten Platz hat im modernen Industriezeitalter längst ein anderer eingenommen: Der »heilige Markt«. Der Finanzmarkt. Der Immobilienmarkt. Der Energiemarkt. Der Nahrungsmittelmarkt. Und der Arbeitsmarkt.

Der Arbeitsmarkt ist, wie der Name schon sagt, zum Vermarkten von Arbeitskraft da. Wer kein Geld und keinen oder nur sehr wenig Besitz hat, verkauft sie. Die Eigentümer der Konzerne konsumieren sie, um daran zu verdienen. Das geht ganz einfach: Sie schöpfen den Mehrwert ab. Sprich: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seiner Arbeit bezahlt. Den Rest verrichtet er für den Gewinn des Unternehmers.

Arbeit verkaufen, Arbeit konsumieren: So geschieht es seit Beginn der industriellen Revolution. Denn Sklaverei und Leibeigenschaft wurden ja, zumindest auf dem Papier, abgeschafft.

Der Arbeitsmarkt ist unser Gott. Jeder und jede muss in ihn integriert werden: Die Väter, die Mütter, die Jugendlichen, die Erwerbslosen, die Alleinerziehenden, die Behinderten, die Kranken. Und die Alten. Ja, die Alten! In Sachsen-Anhalt zum Beispiel ist gerade ein Programm namens »Jobperspektive 58 plus« angelaufen. Zwanzig Wochenstunden »zusätzliche Arbeit« sollen sie verrichten. Für 750 Euro brutto im Monat. Macht netto 580 Euro. Dass davon keiner leben kann, muss ich niemandem erzählen.

Der Witz dabei ist jedoch: Die meisten 60jährigen glauben sogar, was man ihnen sagt: Fühl dich integriert. Sie fühlen sich integriert. »Endlich fühle ich mich wieder gebraucht«, sagte mir 2013 eine 59jährige. Das Jobcenter hatte sie für 1,28 Euro die Stunde angeheuert. Sie und ihre Kolonne in blauen Arbeitsanzügen mussten die Elbufer vom Flutdreck säubern.

Arbeiten bedeutet heute nicht mehr das, was es früher war: Garten beackern, waschen, kochen, putzen, Kinder erziehen, den alten Papa pflegen. Arbeit gibt es heute nur noch auf dem Arbeitsmarkt, besser: Dem Lohnerwerbsmarkt. Der fähigste Sklave gewinnt. Manche werden auch zu »selbständigen« Selbstausbeutern. Wir verkaufen unsere Arbeitskraft.

Wer sich in diesen Markt integriert, so heißt es, wird auch sozial integriert. So tönt es aus den Bundes- und Landesparlamenten, in Ausschüssen und Stadträten, auf Managertreffen, in Zeitungen und Broschüren. Wer nicht mithält, wer nicht schuftet bis zum Umfallen, ist halt »marktfern«. Oder schlimmer noch: »bildungsfern«. Und sehr viele glauben das tatsächlich (Altersvorsorge adé: Rente – vollkommen überschätzt – wir arbeiten bis in den Tod!).

Maschine oder Mensch?

Andererseits tüfteln Wissenschaftler und andere schlaue Leute seit Jahrhunderten daran herum, wie der Mensch von der Arbeit befreit werden könnte. Maschinen spucken Autoteile aus oder backen Brot. Winzige Chips steuern Fließbänder, Turbinen oder Waschmaschinen. Roboter bauen Handys zusammen. Und vieles mehr. Und sehnsüchtig schauen die Kassiererin, die Bürokauffrau und der Elektriker auf die Uhr: Drei Stunden noch bis zum Feierabend. Ja was denn nun: Feiern oder arbeiten?

Letztens habe ich gelesen, dass im EU-Parlament sogar darüber nachgedacht wird, neben natürlichen (Menschen) und juristischen (Kapitalgesellschaften) auch elektronische Personen (Roboter) als Subjekte anzuerkennen – mit eigenen Gesetzen, die sich zwar wie aus der Zeit der Sklavenhaltergesellschaft lesen, aber immerhin: Bald könnten der Industrieroboter Paul oder die Altenpflegeroboterin Lucy (müssen sie auch geändert werden?) ganz eigene Regeln bekommen: Sie sollen arbeiten, arbeiten, arbeiten und gehorchen.

Super, dank der Technik kann der Mensch nun kürzertreten und nach drei, vier Stunden täglich nach Hause gehen, und all die schönen Dinge, die geschaffen werden, auskosten. Könnte. Denn Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und ihresgleichen scheinen diese einfach Logik noch nicht kapiert zu haben. Was ihr Parteikollege, Ex-Vizekanzler Franz Müntefering bei der Einführung von Hartz IV verlangte, ist Gesetz: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Er hätte genauso gut sagen können: Wer nicht arbeitet, hat kein Recht zu leben. Der kann verrecken. Und so hält man es auch: Wer nicht pariert, wird sanktioniert (Hartz IV: Strafen gegen 15-jährige Schüler).

Steine klopfen, Löcher graben?

Denke ich an diese für solche Propagandaverbreitung exorbitant bezahlten »Intelligenzbolzen« in den politischen Gremien, denke ich an vier Millionen »erwerbsfähige Leistungsberechtigte« im Hartz-IV-Bezug, an eine Million Arbeitslosengeld-I-Bezieher, an eine halbe Million Behinderte, an fünf Millionen Menschen, die aus Scham keine Sozialleistungen beantragen, an was weiß ich wie viele Millionen Ehefrauen, die, einkommenslos, ihre Selbstbestimmung mit der Hochzeit an den Nagel gehängt haben. Ich stelle mir vor, all jene schleppten in Steinbrüchen schweres Geröll. Millionen Schwerstarbeiter, ausgelacht von »elektronischen Personen«. Und einen Teller Suppe als Lohn bekommen nur die Fleißigsten.

Haben wir eigentlich so viele Steinbrüche? Falls nicht, irgendwas wird sich wohl finden. Gegen die Faulheit. Für den Fleiß. Man könnte die Arbeitslosen auch einfach Löcher schaufeln und wieder zuschütten lassen. Ihre Kinder könnten ihnen helfen. Um – ja was wohl? – arbeiten zu lernen.

Als ich vor einer Weile in einer Keramikfabrik sah, wie hunderte Kloschüsseln mit Zutun von nur drei (natürlichen) Personen fix und fertig vom Band kamen, musste ich an früher denken. Vor 30 Jahren wimmelte das Werk von Arbeitern. Die bekamen damals alle ihren Lohn. Die Automaten brauchen kein Geld. Was tun die Leute heute, wenn sie nicht gestorben sind? Schwatzen sie, in Anzug und Krawatte gezwängt, alten Frauen Versicherungsverträge auf? Fahren sie in Dienstwagen durch die Lande, um Kühlschränke oder Immobilien zu verkaufen? Mähen sie für einen Euro die Stunde in einer Gruppe über 50jähriger den Rasen im Landschaftspark? Oder – ich wage es kaum auszusprechen – hängen die etwa faul herum?

Maschinen machen arbeitslos

Monat für Monat tönen die Jubelmeldungen durch die Presse: Weniger Arbeitslose. Unter 2,7 Millionen! Dabei ist schon der Begriff falsch. Eine Mutter, die kocht, wäscht und mit den Kindern Hausaufgaben macht, arbeitet. Ein Vater, der einen Schrank zusammenbaut oder die Stube streicht, arbeitet. Der ehrenamtliche Feuerwehrmann, die unbezahlte Vorleserin im Altenheim arbeiten. Selbst ein Bettler, der mit der Gitarre am Bahnhof sitzt und musiziert, arbeitet. Sie meinen also nicht Arbeit, sondern bezahlte Arbeit. Erwerbsarbeit. Und sie meinen auch nicht reiche Arbeitslose, die sich auf dem Dach ihrer spanischen Villa sonnen und ab und an die Kontostände checken. Sie meinen ganz konkret die armen Schlucker, die keiner kaufen will (Arbeitslosigkeit und frisierte Statistiken: Atypische Jobs auf dem höchsten Stand seit 13 Jahren).

Früher, vor dem Kapitalismus, gab es keine Erwerbslosen. Im Feudalismus gehörten alle, die weder Land noch Adelstitel besaßen, einem, der Land oder Adelstitel besaß. Die einen arbeiteten für die, die andere für sich arbeiten lassen konnten. Weil sie über Besitz verfügten. Genauer: Über Produktionsmittel. Also Boden und Werkzeuge.

Die »Arbeitslosen« kamen mit der Industrialisierung. Firmen wuchsen heran zu großen Fabriken. Maschinen ersetzten die Arbeiter. So landeten immer mehr von ihnen auf der Straße. Sie sind ein Produkt der modernen Industriegesellschaft. Wir bekämpfen sie, obwohl wir vorher wussten: Mit den Maschinen wird die Arbeit weniger.

Zurück zum Faustkeil?

Es ist zum Verrücktwerden. Gewerkschaften fordern mehr Arbeitsplätze in Rüstungsfabriken. Einfach, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Ich frage: Wollen wir, um des »heiligen Arbeitsmarktes« willen, zulassen, dass irgendwelche Rüstungsbonzen noch mehr Kriegsgerät zum Morden und Märkte erobern für Profit verkloppen? Wollen wir Arbeitsplätze mit Leichen und Kriegswaisen bezahlen? Mit privatisiertem Wasser und Verdurstenden? Mit blutigen Kämpfen zwischen Islamisten und Christen, die in Wahrheit doch nur alle ein möglichst großes Stück vom längst verteilten Kuchen abbekommen wollen?

Wir brauchen einen Ausweg. Man könnte einfach alles einmotten. Vergraben vielleicht. Und den Faustkeil wieder reaktivieren. Zurück zu Säbelzahntigern und Vollbeschäftigung. Wir könnten das jedenfalls tun, wenn wir nicht dummerweise einen Verstand bekommen hätten, mit dem wir Autos, Schiffe, Flugzeuge und Computer bauen und die Verteilung quer über den Planeten regeln könnten. Mit Satelliten und Hochleistungsrechenmaschinen könnten wir die Verfügbarkeit der Ressourcen überprüfen. Arbeitsministerin Nahles scheint das nicht zu wissen. Sie redet von Arbeiten 4.0. Und ihre Kumpels von Schwarz-Rot-Grün in Sachsen-Anhalt schicken über 58jährige in Jobs, mit denen sie auf Sozialhilfeniveau herumvegetieren. Schlimmer noch: Wer von lebenslanger Lohnarbeit redet und Rente mit 75 (oder war es schon 80?), nennt sich heutzutage »Wirtschaftsweiser« oder »Ökonom«.

Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir Fortschritt und weniger Arbeit für alle? Oder doch in 60-Stunden-Wochen schuften bis ins Grab? Wollen wir Produziertes nach Bedarf verteilen? Oder sollen reiche Kapitalisten, die wir nicht mal kennen, jedes Jahr weiter Hunderttausende Tonnen Lebensmittel vernichten, um die Preise oben zu halten? Wollen wir Zeit zum Nachdenken und für Innovation oder Dauermaloche, die uns Abend für Abend todmüde ins Bett fallen lässt? Wollen wir Beschäftigungstherapie a la 58 plus oder lieber kreativ sein? Wollen wir das letzte Öl, das letzte Gas, die letzte Kohle aus der Erde holen, damit noch einer dran verdienen kann? Oder wäre es sinnvoller, endlich Wind, Wasser, Sonne zu nutzen? Wollen wir uns weiter um die Kosten für wissenschaftliche Projekte streiten oder es einfach tun? Wollen wir weiter gegeneinander konkurrieren, statt zu kooperieren?

Ende der Konkurrenz?

Wenn die Konkurrenz ein Ende haben soll, müssen wir über Eigentum nachdenken. Wenn wir privat Kloschüsseln besitzen, kann niemand damit ein Problem haben. Aber damit jeder eine besitzen kann, muss die Kloschüsselfabrik allen gehören. Genauso ist es mit den eigenen vier Wänden und der Baufirma, dem Licht und dem Energielieferanten, dem Brot und dem Acker, der Kleidung und den Textilfabriken.

Ich lese schon die Kommentare. Sie werden sein, wie verschiedentliche Reaktionen, die ich erhalte, wenn ich Menschen von meinen Vorstellungen erzähle. Manche gehen so: Die will den Kommunismus. Gulags! Nun, man hat uns jahrzehntelang eingetrichtert, dass sozial und gemeinschaftlich irgendetwas mit Stalin, Mao oder gar Pol Pot zu tun haben muss. Mindestens mit Diktatur. Dass sogar Marx in seinem kommunistischen Manifest das Gegenteil davon vorausgedacht hatte, lernen wir nicht. Aber auch egal: Meinetwegen können wir das neue System auch Bockwurst oder Wattebällchen nennen.

Andere Widersacher poltern gerne los: Dann würde niemand mehr arbeiten! Ihnen halte ich entgegen: Wie, zum Kuckuck, hat die Menschheit, wenn sie so faul ist, überhaupt je Computer und all die hübsche Technik erfinden können? Wie hat sie überhaupt zwei oder fünf Millionen Jahre durchgehalten? Warum kam sie überhaupt jemals von den Bäumen herunter und aus den Höhlen raus? Weil sie so faul war und ständig zur Arbeit angetrieben werden musste?

Die Faulheitsdebatte ist nichts als Propaganda. Um die Sklaven dort zu halten, wo sie sind: Unten. Sie sollen fröhlich um die Brotkrumen bitten. Und gefälligst reiche Säcke bedienen. Gibt es keine Arbeit mehr für sie, sind sie am besten zu entsorgen (Die neuen Sklaven: Wie Bürger für dumm verkauft werden).

Und so strecken wir unsere Hände unseren Herren entgegen. Demütig, die anderen Sklaven unterbietend. Ja, ich mache es auch für achtfünfzig. Überstunden? Kein Problem. Die Faulheitsdebatte taugt einzig dazu, die Herrschaft über die Beherrschten zu erhalten. Blöd könnte es nur werden, wenn die Beherrschten erkennen, dass sie viel mehr sind. Und dummerweise diesem Arbeitsfetisch verfallen sind.

Literatur:

Deutschland am Abgrund: Wir schaffen das… von Sarah Wagner

Aus kontrolliertem Raubbau: Wie Politik und Wirtschaft das Klima anheizen, Natur vernichten und Armut produzieren von Kathrin Hartmann

Armut in einem reichen Land: Wie das Problem verharmlost und verdrängt wirdvonChristoph Butterwegge

Quellen: PublicDomain/Susan Bonath/linkezeitung.de am 20.07.2016

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