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Ein Damoklesschwert schwebt über der Türkei


Um den Armenier-Genozid anzuerkennen, muss sich die Türkei mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. Das setzt eine kulturelle Wende voraus

Es lag schon vor der Resolution des EU-Parlaments zum Völkermord an den Armeniern auf der Hand: Setzt sich die Türkei nicht mit ihrer Vergangenheit auseinander, ergreift sie keine Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten im Land, wird sie der EU nicht

beitreten können. Doch bei der Sache geht es eigentlich gar nicht um den Beitritt zur Union und um das Befolgen von Regeln. Die Angelegenheit ist tiefgreifender: Sie hat mit dem Respekt einer Gesellschaft gegenüber der Demokratie und den

Menschenrechten zu tun.

Damit die Türkei dem überhaupt nachkommen kann, muss sie sich zunächst kulturell fundamental wandeln. Momentan steht sie kulturell außerhalb des europäischen Geistes. Es ist nicht ein europäischer, sondern ein islamisch-nationalistischer Geist, der die Türkei unserer Tage prägt.

Ursprung im Osmanischen Reich

Diese Denkweise ist nicht erst der Regierung Erdogans entsprungen. Ihr Ursprung liegt viel weiter zurück: im Osmanischen Reich. Damals existierte die islamische Rechtsordnung – das Millet-System –, mit der im damals noch multikonfessionellen Osmanischen Reich nichtmuslimische Gemeinschaften kontrolliert und der Sultan geschützt werden konnte.

Die Idee der über andere "herrschenden Nation" – Millet-i Hakime – hat sich später mit europäischen nationalistischen Strömungen vermischt und im Zuge der Gründung einer laizistischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk zu einem ausgeprägten Nationalismus entwickelt. Diesen Nationalismus hat die Türkei bis heute nicht abgelegt. Er wird nach wie vor mit der Zugehörigkeit zum Islam und zur türkischen Nation definiert. Und genau da liegt der Hund begraben.

Demokratie als Fundament

Die Türkei hat diesen nahezu tyrannisierenden Nationalismus nie hinterfragt. Jede Regierung in den 92 Jahren Republik hat ihn stattdessen akzeptiert. Das Land hat nie gelernt, von seiner Geschichte so Abstand zu nehmen, dass eine objektive und reflektierte Betrachtung überhaupt möglich wäre. Das hat zur Folge, dass sich in der Türkei nur in engen Kreisen eine demokratische und kritische Denkweise über die eigene Geschichte entwickelt hat, die von der kulturellen Identität gelöst ist. Deswegen ist die Politik auch nicht in der Lage, die vielen historischen Baustellen in Angriff zu nehmen und den Tatsachen ins Auge zu sehen: der Bewältigung des Kurdenproblems, den Spannungen mit den Aleviten, Griechen und den Linksextremen im Land.

Damit diese Probleme angegangen werden können, braucht die Türkei eine kulturelle Wende, mit der sich eine demokratische Denkweise etabliert.

(Tugba Ayaz, derStandard.at, 17.4.2015)

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