Mittwoch, April 24, 2024
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EU will „Verteidigungs-Union“ werden – Wer hat davon einen Nutzen?

Die EU will militärisch enger zusammenarbeiten, Militärausgaben dauerhaft erhöhen, ambitionierte Rüstungsprojekte auflegen, gemeinsam militärische Einsätze bestreiten. So lautet der Beschluss vom Dezember 2017.

Ein lang gehegter Traum der EU-Lokomotiven Berlin und Paris. Doch ist solch eine Verteidigungsunion überhaupt erstrebenswert?
Supranationale Organisationen wie die Europäische Union (EU) operieren gern mit Abkürzungen, hinter denen sich Dinge verbergen, die Brüssel weniger gern ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sehen will. Dazu gehört Pesco. Das Kürzel steht für Permanent Structured Cooperation, zu Deutsch: Ständige Strukturierte Zusammenarbeit. Doch selbst das dürfte einer EU-Durchschnittsbürgerin komplett unverdächtig vorkommen, ist doch die gesamte EU auf strukturierte Zusammenarbeit ausgelegt.

Erst ein weiterer Blick hinter den Namensvorhang offenbart, dass es sich hier um den massiven Ausbau der EU zu einer Gemeinschaft von Staaten handelt, die wie ein Militärbündnis handeln können soll. Die Mehrheit der Pesco-Staaten ist bereits Mitglied der Nato. Wozu eine Doppelstruktur gut sein soll, fragen sich viele Experten. Geht es nach Hans Peter Bartels (SPD), Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, dann erhält diese Parallelorganisation sogar ein eigenes militärisches Hauptquartier, neben dem der Nato in Brüssel. Daran ließ Bartels auf einer Veranstaltung der Europäischen Akademie in Berlin keinen Zweifel aufkommen.

Klare Mehrheiten der Deutschen ist gegen Aufrüstung
Für Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linkspartei nahesteht, ist die Marschrichtung klar, nicht erfreulich, aber klar. Im Gespräch mit Sputnik erläutert er:

„Das ist sicherlich im Interesse von bestimmten politischen Kreisen. Wie die Bundesregierung im Papier ‚Neue Macht – Neue Verantwortung‘ formuliert hat, dass Deutschland eine globale Rolle, eine Weltrolle spielen will, natürlich immer im Bündnis mit Frankreich. Die Frage ist, ob das im Interesse der breiteren Bevölkerung ist. Die Bundesregierung hat als Grundlage ihres Koalitionsvertrages auch mit dem Papier ‚Neue Macht – Neue Verantwortung‘ gearbeitet, wo in der imperialen Perspektive formuliert wird, dass Deutschland so globalisierungsabhängig sei, dass eine freie, damit ist eine kapitalistische Weltordnung gemeint, aufrechterhalten werden soll. Notfalls mit militärischen Mitteln.“

Der Begriff Freiheit werde dabei mit Kapitalismus gleichgesetzt – ganz so wie die EU mit Europa gleichgesetzt wird. Solty erinnert daran, dass eine solche Politik wie die der Ständig Strukturierten Zusammenarbeit ganz klar gegen die Meinung der deutschen Bevölkerungsmehrheit gerichtet ist. Erstaunlich sei dies vor allem deshalb, weil die Deutschen trotz permanenter Berichterstattung über diverse Bedrohungsszenarien etwa durch internationalen Terror ziemlich gefestigt in ihren Sichtweisen bezüglich neuer deutscher militärischer Abenteuer sind.

Umfragen belegen, dass zwei Drittel der Deutschen gegen Aufrüstung sind. Neun von zehn Deutschen sprechen sich gegen Rüstungsexporte aus. Die aber werden mit der EU-Verteidigungsunion zwingend kommen. Jeder, der sich mit Rüstung einigermaßen auskennt, weiß, dass die enormen Kosten, die Entwicklung und Bau von modernen Waffensystemen erfordern, in einer kapitalistischen Gesellschaft Exportanstrengungen geradezu erzwingen. Und das beste Werbemittel für Waffenexporte ist ihr erfolgreicher Kriegseinsatz.

Bundesregierung heizt Konflikte weltweit an
Ingar Solty wirft der Bundesregierung deshalb eine inkonsequente Politik vor. Einerseits beteuert sie, die Ursachen für Krieg und Flucht bekämpfen zu wollen. Aber de facto betreibt sie eine Politik, die systematisch Konflikte anheizt. Fast jeder Konflikt heutzutage beginnt eigentlich als Verteilungskonflikt und konfessionalisiert dann sehr schnell. Es sieht von außen so aus, als würden sich „nur“ religiöse Gruppen bekämpfen, bis der Konflikt dann „ethnisiert“. Und dann zum Beispiel auch mit deutschen Waffen ausgefochten wird. So wie aktuell in Nordsyrien, wo deutsche Leopard-Panzer von regulären türkischen Truppen gegen kurdische Selbstverwaltungsstrukturen eingesetzt werden.

Solty ist nicht der einzige, der das Verhalten der Bundesregierung in dieser Sache mehr als befremdlich findet:

„Es ist selten ein so offensichtlicher Tatbestand gewesen. Da verletzt ein Nato-Staat die Grenzen eines souveränen Staates, in Syrien, das ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, und Außenminister Gabriel sagt, dass die Dinge scheinbar undurchsichtig seien und unübersichtlich und ruft beide Seiten zur Mäßigung auf. Das ist ein sehr bemerkenswerter Vorgang, der aber unterstreicht, in welcher Bringschuld sich die Bundesregierung offenbar gegenüber der türkischen Regierung, gegenüber Erdogan sieht. Im Hinblick auf das Bündnis, das man mit der Türkei geschlossen hat, gegen Flüchtlinge. Die sechs Milliarden Euro, die in das Flüchtlingsregime an der türkisch-syrischen Grenze investiert wurden, um das europäische Festland von geflüchteten Menschen freizuhalten. Von daher ist es ein Skandal, was da passiert, der, wie so oft in der Geschichte, auf dem Rücken des kurdischen Volkes ausgetragen wird.“

„Deutschland ist Kriegspartei“
Moralisch fragwürdige Interessenkonflikte könnten die Regel werden, wenn die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit Fahrt aufnimmt. Solty weiß, dass Realpolitik nicht ohne eine Antwort für Sicherheits- und Verteidigungspolitik auskommt. Aber einen neuen globalen Rüstungswettlauf wie zu Zeiten des Kalten Krieges hält er für die denkbar schlechteste Idee.

„Wir haben gesehen, wohin Rüstungswettläufe führen. Sie sorgen dafür, dass zivile Strukturen ausgetrocknet werden. Wir sind in einer Situation, wo es in allen europäischen Staaten, inklusive Deutschland, an Personal in Hochschulen, Krankenhäusern, in Schulen mangelt, wo Infrastruktur zerbröckelt, wo in Europa Infrastrukturinvestitionen nötig sind, um die Ungleichgewichte zu beheben, geschweige denn, was an entwicklungspolitischen Maßnahmen im globalen Süden und in den Grenzregionen Europas zu tun wäre. Tatsächlich ist es so, dass Deutschland und die EU dort die Situation verschärft, durch die Handelspolitik, die ‚Economic Partnership Agreements‘ und den ‚Compact with Africa‘ etc. Aus der Perspektive der Sympathisanten des Islamischen Staates ist Deutschland Teil des Krieges in Syrien, durch die Waffenlieferungen an die Peschmerga. Unabhängig davon, wie man moralisch dazu steht, aber rein objektiv ist Deutschland dort Kriegspartei geworden. Von daher ist diese Politik, die als neue Verantwortungspolitik bezeichnet wird, tatsächlich eine Politik der Verantwortungslosigkeit.“

Interview mit Ingar Solty (Rosa-Luxemburg-Stiftung)

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