Samstag, April 20, 2024
StartZARONEWS PresseAgenturFriedrich Schiller ‒ oder der Mord, den fast niemand sehen will

Friedrich Schiller ‒ oder der Mord, den fast niemand sehen will

Bildlizenz: Urs Bigler, Canon EOS 6D

„Schaut mal genau hin!“ Einen Spruch dieser Art haben sich wohl 1000 Weimarer am Ende des Zweiten Weltkrieges anhören müssen, als ihnen befohlen wurde, durch das Konzentrationslager Buchenwald zu gehen. Die Alliierten hatten es für nötig befunden, diese Menschen, die jahrelang weggeschaut hatten, zum Hinschauen zu

zwingen. Es ist allerdings nicht so, dass das Nicht-hinschauen-Wollen ein gesellschaftliches Phänomen des Thüringer Städtchens ist ‒ überall auf der Welt, zu jeder Zeit ist es zu beobachten. Vergehen und

Verbrechen geschehen immer wieder, von denen unbeteiligte Menschen angestrengt wegschauen. Sei es beispielsweise bis weit in die fünfziger Jahre in der Schweiz, als man Kinder von verarmten Familien oder aus Waisenhäusern als Arbeitssklaven bei Bauern unterbrachte, sei es in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20 Jht., als man Übergriffe von Angehörigen kirchlicher Einrichtungen gar nicht erst thematisierte oder sei es im 19 Jht., als arme Tessiner Familien ihre Kinder als Spazzacamini für den Einsatz in den russigen Mailänder Kaminen verkauften oder sei es … die Liste von verbrecherischem Handeln, von dem unbeteiligte Menschen wegschauen, könnte wohl Seiten füllen.

Ein Verbrechen jährt sich zum 210. Mal

Ganz in der Tradition dieses Vogel-Strauß-Gebarens steht ein Ereignis, das sich zu Beginn des 19. Jht. ‒ Zufall oder nicht ‒ im Thüringer Städtchen Weimar zutrug und bis heute nicht wirklich an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Im kommenden Wonnemonat, nämlich am 9. Mai, jährt sich zum 210. Mal ein Verbrechen, das bislang ungesühnt ist und wohl als der perfekte Mord bezeichnet werden muss. Der Mord an Friedrich Schiller.

Der Täter ist Freimaurer – aber kein lupenreiner

Und weil ich nach längerer Recherchearbeit weiß, dass eine solche Behauptung sogleich einen Abwehrreflex auslöst, quasi den Hals versteift und das Blickfeld auf ein Minimum einengt, sei gerade angemerkt: Ich gehöre nicht dem braunen Lager an, das den Mord des Dichters politisch instrumentalisieren will und den Dichter als Opfer freimaurerisch-jüdischer Verschwörung hinstellt. Zwar hat auch dieses Lager nicht ganz Unrecht, denn tatsächlich hat sich ein Freimaurer die Hände schmutzig gemacht, aber dieser Freimaurer darf nicht als lupenreiner Jünger der Bewegung gesehen werden. Er funktionierte vielmehr als deren Störfaktor: Seine Mitgliedschaft war ein geschickter Schachzug, der es ihm erlaubte, die Machenschaften eines politischen Gegners zu überwachen und die Informationen über keimende Verschwörungen aus erster Hand zu haben. Und er ließ Schiller nicht aus politischen Gründen ermorden, sondern handelte aus tiefer, persönlicher Kränkung ‒ die Rede ist von einem weltbekannten Mann der Weimarer Klassik, dem Freimaurer-Herzog Karl August von Weimar.

Armin Risi und die Zeugenaussage von Goethe

Es war die Publikation von Armin Risi im Internet, die mich zum genaueren Hinschauen veranlasste. Der Autor befasst sich mit einer Stelle in Faust II, die mit den Kranichen des Ibykus überschrieben ist und eindeutig auf eine Ballade von Schiller (in der übrigens ein Dichter getötet wird) verweist. In dieser Stelle findet sich eine Anagrammbotschaft, die Armin Risi entschlüsselt. Goethe belastet mit ihr den Herzog schwer und bezichtigt ihn gar des Mordes am Dichterfreund Schiller.

Eine Lüge, die auch noch heute nachgeplappert wird

Wenn Menschen nicht genau hinschauen, so tun sie dies oft, weil das Gegenteil gefährlich sein könnte. Und das war in Weimar des Jahres 1805 gewiss der Fall. Wenn der Fürst in einem absolutistischen Staat mordete, gab es keine weitere weltliche Instanz, die ihn verurteilen konnte. Schließlich war er nur Gott Rechenschaft schuldig. Das wussten die Zeitgenossen, und darum erblindeten sie partiell. Doch dem nicht genug. Erschwerend für Wahrheitsfinder erwies sich, dass allseits Nebelpetarden geworfen wurden. Eine der kräftigsten war wohl eine Behauptung im Zusammenhang mit Schillers Begräbnis, das in aller Stille um Mitternacht stattfand (man lese und staune: Friedrich Schiller, der damals wohl berühmteste Bühnendichter, gefeiert und geschätzt auch am mächtigen Zarenhof in Russland, wurde zur Geisterstunde begraben ‒ wie ein Pestkranker bzw. ein Schwerverbrecher!).

Der europaweiten Empörung musste in der Folge etwas entgegengehalten werden: Man behauptete, in Weimar seien Nachtbegräbnisse gang und gäbe, darum könne man an Schillers Beisetzung nichts bemängeln und alles sei in traditioneller Butter. Diese Lüge wird frisch und munter auch heute noch in Fachkreisen nachgeplappert. Als ich im Winter in Weimar zu Recherchezwecken weilte, wurde mir nicht nur einmal in völliger Gutgläubigkeit von Schiller-Kundigen diese Version aufgetischt. Ich neige dazu, ihr nicht zu glauben, sondern den Recherchearbeiten von Henning Fikentscher zu vertrauen, einem Mediziner, der genau hingeschaut hat. Nach aufwändiger Archivarbeit kommt er zum Schluss, dass es im Zeitraum von 1803 bis 1822 fünf wirkliche Nachtbeerdigungen und 4310 Tagbeisetzungen gegeben hat. Kurz: bei einem Verhältnis von 1: 862 kann kaum von einer Tradition gesprochen werden ‒ oder man hat einen reichlich verqueren Traditionsbegriff.

Bildlizenz: Urs Bigler, Canon EOS 6 D

Die Prinzessin von Zelle ‒ ein Fragment, das wohl wichtiger ist, als es scheint

Wie ein Staatsanwalt, der in einem Indizienprozess gegen einen Mörder die Anklage führt, bin ich überzeugt, dass Herzog Karl August Schillers Mörder ist. Vieles deutet darauf hin, einige Hinweise sind sehr gewichtig, so zum Beispiel die erwähnte Anagrammbotschaft von Johann Wolfgang Goethe und das wissenschaftlich unhaltbare Sektionsprotokoll von Dr. Huschke, das auch heute noch völlig unreflektiert in der Sekundärliteratur von Schiller-Experten als Beweis für den körperlichen Zerfall des Dichters herumgereicht wird.

Wer an dieser Stelle neugierig geworden ist, kann die ganze „Anklageschrift“ mit sämtlichen Fußnoten und Quellenangaben studieren. In Der Fall Schiller-Anklage Mord (ISBN 9 78-3-906240-23-7) sind alle Argumente für einen Mord zusammengetragen und wird ausführlich Karl Augusts Mordmotiv entwickelt. Das Buch erscheint beim Informationslücke-Verlag(Basel) und ist demnächst im Handel erhältlich. Starkes Gewicht erhält in den Untersuchungen ein unscheinbares Detail: das Fragment mit dem Titel Die Prinzessin von Zelle. Dieses soll am Todestag auf Schillers Schreibtisch gelegen haben. Es ist unter anderem ein Schlüssel zum Verständnis für den Mord an Schiller. Denn der Dichter erlaubte sich vermutlich einen gesellschaftlichen Fauxpas, worauf dem Herzog der Kragen platzte. Eine DNA-Analyse könnte Klarheit schaffen und die Mord-These auf ein naturwissenschaftliches Fundament stellen ‒ oder auch falsifizieren. Träfe Ersteres zu, müssten jede Literaturliebhaberin und jeder Literaturliebhaber anders auf die Ereignisse in Weimar blicken. Ohne starren Hals, mit Verständnis für eine turbulente Zeit mit brüchig gewordenen gesellschaftlichen Schranken. Heute zumindest sind keine Konsequenzen für ein genaues Hinschauen zu fürchten, der Herzog ist tot.

Verteiler: Neopresse

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