Donnerstag, April 25, 2024
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Ghettos in Deutschland? – Studie: Soziale Spaltung in Städten nimmt zu

Deutsche Städte leiden nicht nur an schwachen Finanzen und fehlenden Investitionen. Zunehmend ist auch ihre soziale Architektur brüchig. Das stellt eine aktuelle Studie fest.

Danach nimmt die soziale Spaltung der Städte nach Wohngebieten für Reiche und Arme zu. Ko-Autor Marcel Helbig sieht darin aber noch keine Ghettoisierung wie in den USA.
Arm und Reich leben ebenso wie Jung und Alt in den bundesdeutschen Städten immer seltener Tür an Tür. Nicht nur die soziale Lage entscheidet über das Wohngebiet, sondern zunehmend auch das Alter. Das hat eine am Mittwoch veröffentlichte Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) herausgefunden. Ko-Autor Marcel Helbig beschrieb gegenüber Sputnik die Verschärfung der sozialräumlichen Spaltung in den meisten der 74 untersuchten Städte als wichtigstes Ergebnis der Studie.

„Arme Menschen leben in deutschen Städten zunehmend konzentriert in bestimmten Wohnvierteln“, heißt es in der WZB-Pressemitteilung zur Studie. „Auch junge und alte Menschen sind immer seltener Nachbarn.“ Helbig und seine Ko-Autorin Stefanie Jähnen haben die sozialräumliche Segregation (deutsch: Trennung – Anm. d. Red.) von 74 ost- und westdeutschen Städten in den Jahren von 2005 bis 2014 untersucht. Ihr Fazit: „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in vielen deutschen Städten die Idee einer sozial gemischten Stadtgesellschaft nicht mehr der Wirklichkeit entspricht.“

In etwa 80 Prozent der untersuchten Städte habe seit 2005 die räumliche Ballung von Menschen, die Grundsicherung nach SGB II (Hartz IV) beziehen, zugenommen. Am stärksten sei das dort der Fall, „wo viele Familien mit kleinen Kindern (unter 6 Jahren) und viele arme Menschen leben“. Und: „Den höchsten Anstieg verzeichnen ostdeutsche Städte wie Rostock, Schwerin, Potsdam, Erfurt, Halle und Weimar.“

Keine Ghettos in Deutschland
Um die räumliche Trennung nach sozialer Lage zu bestimmen, haben die beiden Autoren den sogenannten Segregationsindex berechnet. „Dieser gibt Auskunft darüber, wieviel Prozent der SGB-II-Bezieher eigentlich in einem anderen Stadtteil wohnen müssten, um gleichmäßig verteilt in einer Stadt zu leben. In einer Reihe von Städten betrifft das zwischen 35 und 40 Prozent der Leistungsempfänger.“ „Dieses Niveau kennen wir bisher nur von amerikanischen Städten“, sagt Helbig.

Der Professor am WZB und an der Universität Erfurt für Bildung und soziale Ungleichheit widersprach aber gegenüber Sputnik dem Eindruck, dass sich in Deutschland Ghettos wie in den USA herausbilden. Das würde für die Entwicklung hierzulande zu weit gehen.

„Die Ghettoisierung ist ein amerikanischer Begriff – und dort sollte man ihn auch lassen. Wir haben eine Zunahme an sozialen Brennpunkten. Diese Diagnose würde ich noch unterschreiben. Ein Ghetto ist dagegen ein Ort, wo die Institutionen des Staates an Wirkung verlieren und das soziale Zusammenleben überhaupt nicht mehr passt. Dafür gibt es für deutsche Städte eine zu geringe Datenlage.“

Ostdeutsche Städte besonders betroffen
Als „historisch beispiellos“ bezeichnet Helbig die Dynamik, mit der die sozialräumliche Spaltung der ostdeutschen Städte binnen weniger Jahre zugenommen hat. Diese stünden vor dem Problem, dass in der DDR-Zeit sehr stark die Plattenbauten hochgezogen wurden. Im Interview erklärte er dazu:

„In Rostock haben zur Wendezeit 1989/90 50 Prozent und etwas mehr aller Bewohner in der Platte gewohnt. Halle-Neustadt hatte 90.000 Einwohner. Diese Plattenbaugebiete, die in der DDR relativ begehrt waren, weil sie gut ausgestattet waren, wurden vollständig abgewertet, sowohl durch den Markt – die Mieten in diesen Gebieten sind extrem niedrig –, und zum anderen auch durch die Bewohner, die es einfach nicht mehr als lebenswert empfunden haben, dorthin zu gehen. Gleichzeitig wurden staatlich gestützt in den Vororten Einfamilienhäuser gebaut, wo die etwas besser situierten Ostdeutschen hinzogen.“

Eine Ausnahme würden Magdeburg und Dresden machen, so die Wissenschaftler. Sie begründen das damit, dass beide Städte im Zweiten Weltkrieg großflächig zerstört wurden und sich Neu- und Plattenbauten ausgewogener im Stadtraum verteilen. In ostdeutschen Städten mit heute hoher sozialer Trennung wie Rostock, Erfurt oder Jena seien die Plattenbauten eher am Stadtrand entstanden, die nach der Wende zunehmend zu sozialen Brennpunkten wurden.

Trennung nach sozialer Lage und Alter
„Die soziale Segregation ist in jenen Städten stärker angestiegen, wo mehr Familien mit kleinen Kindern (unter 6 Jahren) leben“, heißt es in der Studie. Vor allem arme Familien mit Kindern seien betroffen. In 36 Städten gibt es inzwischen Quartiere, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder von Leistungen nach SGB II leben, haben die Wissenschaftler festgestellt. „Diese Entwicklung kann sich negativ auf die Lebenschancen armer Kinder auswirken. Aus der Forschung wissen wir, dass die Nachbarschaft auch den Bildungserfolg beeinflusst“, so Ko-Autorin Jähnen laut WZB-Pressemitteilung.

Zugleich stellten die Autoren fest, dass bestimmte Altersgruppen „immer seltener Tür an Tür wohnen“. So würden sich junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren zunehmend in bestimmten Wohnvierteln konzentrieren, in anderen dagegen alte Menschen ab 65 Jahren.

Erstaunliche Ergebnisse
Für die Forscher zählt zu den überraschenden Ergebnissen, dass der Anteil von Sozialwohnungen die räumliche Ungleichheit innerhalb einer Stadt verstärkt.

„Sozialwohnungen sind in Gebieten zu finden, in denen ohnehin die Armen wohnen. Das Ideal einer sozial gemischten Stadt ist schon lange dem Ziel gewichen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“, wird Jähnen dazu in der WZB-Pressemitteilung zitiert. „Das bedeutet aber nicht, dass der soziale Wohnungsbau die soziale Segregation nicht wirkungsvoll eindämmen kann“, so die beiden Autoren in der Studie.

Erstaunlich ist ebenso, dass laut die Höhe der Mieten „keinen verstärkenden Einfluss“ auf die sozialräumliche Trennung in einer Stadt haben soll. Darauf angesprochen, sagte Helbig, es gehe vor allem um die Spaltung der Mieten. „Für Ostdeutschland hat sich gezeigt, es ist egal, wie hoch die durchschnittliche Miete in einer Stadt ist – für den Einzelnen natürlich nicht. Entscheidend ist, wie hoch die Spreizung der Mieten ist.“ In den Plattenbaugebieten am ostdeutschen Stadtrand seien die Mieten extrem niedrig, während sie in den Vororten und Innenstädten sehr hoch seien.

Nur soziale Reparatur möglich
Die räumlich ungleiche Verteilung von Ausländern in den deutschen Städten habe abgenommen, ist in der Studie zu lesen. Die Autoren schreiben dazu: „War die Segregation der Armen lange Zeit geringer als die von Personen ohne deutschen Pass, so ist es mittlerweile umgekehrt. Die vorliegende Untersuchung endet aus verschiedenen Gründen 2014. Inwieweit die Flüchtlingskrise seit 2015 die ethnische Segregation beeinflusst, müssen zukünftige Studien klären.“

Helbig sieht den geförderten sozialen Wohnungsbau nur als langfristige Möglichkeit, um das Problem zu beheben, wie er gegenüber Sputnik erklärte. Das oft angeführte Positivbeispiel Wien funktioniere nur, weil dort der soziale Wohnungsbau eine „Tradition von 100 Jahren“ habe. „Das ist in die DNA dieser Stadt eingeflossen“ und sei nicht einfach auf deutsche Städte übertragbar, gerade wo die Kommunen immer finanzschwächer werden.

„So bleibt uns wahrscheinlich nichts anderes übrig, als Reparatur zu betrieben, nämlich die Folgen der sozialen Segregation abzumildern, auch wenn das niemals vollständig gelingen wird.“ So müssten Schulen mit einem hohen Anteil an armen Kindern besser ausgestattet werden. „Doch genauer betrachtet ist auch das nicht ganz einfach“, weiß der Sozial- und Bildungsforscher:

„Mit mehr Mitteln ist auch gemeint, eigentlich brauchen wir in diesen Schulen die besten Lehrer! Es ist aber eher so, dass die besten Lehrer sich die Schulen aussuchen, die nicht in solch schwieriger Lage sind. In die anderen, wo sich die sozialen Problemlagen ballen, wie zum Beispiel im Wedding, da kommen nicht mehr die besten Lehrer hin.“

Interview mit Prof. Marcel Helbig

Quelle!

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