Donnerstag, April 18, 2024
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Haben die Deutschen Angst vor der Revolution?

Es gibt vielfältige historische Gründe, warum die Deutschen bei Revolutionen „zurückhaltender“ agieren als Russen oder Franzosen. Das sagt der Historiker Oliver Auge aus Kiel. Er zitiert einen Spruch Lenins: „Wenn Deutsche Revolution machen, kaufen sie sich erstmal ein Zug-Ticket“. Im Sputnik-Interview erläutert der Historiker die Hintergründe.

Das aktuell begangene 100. Jubiläum der „Novemberrevolution 1918“ inspiriert die Kieler Universität momentan dazu, „Furcht und Angst vor Revolutionen“ in der Geschichte zu betrachten. „Die Vorgänge im November 1918 nimmt mein Lehrstuhl zum Anlass, um eine große Ringvorlesung hier in Kiel zu veranstalten, die das Thema trägt: Die Große Furcht. Revolution in Kiel und Revolutionsangst in der Geschichte“, erklärte Oliver Auge, Geschichtswissenschaftler am „Historischen Seminar“ der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, im Sputnik-Interview. Vom Kieler Matrosenaufstand ausgehend breitete sich die Novemberrevolution in ganz Deutschland aus.

„Schon Lenin hat gesagt: Wenn die Deutschen eine Revolution machen wollten, würden sie erst zum Bahnhof gehen und sich ein Zugticket kaufen“, erklärte der Historiker. „Es ist natürlich immer schwierig mit den Generalisierungen. Aber das ist ein ganz gutes Stichwort, dass die Zeitgenossen um 1917/18 die Deutschen als etwas behäbiger empfunden haben. Wenn wir genau auf die Ereignisse 1918 schauen, dann sehen wir, dass natürlich zunächst ein revolutionärer Elan beginnt. Aber dass sich sehr schnell alle möglichen Seiten – selbst die Revolutionäre – bemühen, alles wieder in geordnete Bahnen zu überführen.“Fahne der Revolution wandert von Ort zu Ort

Sein Mitarbeiter und Doktorant Knut-Hinrik Kollex habe das im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Uni Kiel „für Schleswig-Holstein schön nachzeigen können“, so Geschichts-Professor Auge. „Von Ort zu Ort geht die Fahne der Revolution. Und eine der ersten Maßnahmen, die dann die lokalen Arbeiter- und Soldatenräte unternehmen, ist, für Ordnung und Ruhe zu sorgen. Das verbindet man gemeinhin nicht mit einer Revolution.“

Obwohl viele revolutionäre Kräfte damals weitreichende Maßnahmen forderten, sei es nie „zu einer Bolschewisierung“ im Deutschland des Jahres 1918 gekommen. „Also, dass Zustände wie in Russland eintreten. Das wollte man in Deutschland unter allen Umständen vermeiden.“ Es habe jedoch bei den damaligen „ganz linken“ Kräften – darunter Spartakisten und die „Radikalen der USPD“ – solche Bestrebungen gegeben. „Aber die Mehrheits-Sozialdemokraten, sprich die MSPD, und natürlich auch die ganzen Bürgerlichen legten darauf keinen Wert.“ Insbesondere die Sozialdemokraten der MSPD seien bemüht gewesen, „die revolutionären Ereignisse zu deckeln und alles eher in einen reformerischen als einen revolutionären Prozess zu überführen“.

„Wir setzen bewusst auf Reformen“

Die Abschaffung adliger und monarchischer Strukturen waren erklärte Ziele und politische Folgen der Französischen Revolution und der Russischen Oktoberrevolution. In Deutschland traf die revolutionäre Welle den Adel vergleichsweise nicht so hart. „Der Adel ging weitgehend glimpflich aus der deutschen Revolution hervor“, erklärte der Geschichtsforscher. Es sei damals für Deutschland noch nicht klar gewesen, ob „das jetzt ein Zustand wie im bolschewistischen Russland“ werde. „Natürlich wurden einige Adelsprivilegien beseitigt. Die Vorrechte, die der Adel etwa in Preußen mit dem Drei-Klassen-Wahlrecht genossen hatte – das war vorbei. Aber man konnte es dennoch in diesem neuen Deutschland als Adliger aushalten. So weite Schritte, die man in Österreich gegangen ist, ging man in Deutschland nicht.“Die Haltung der damaligen Sozialdemokraten war laut dem Historiker so gelagert: „Wir setzen bewusst auf Reformen und das soll in einem kontrollierten Ablauf passieren. Das war die Haltung, die sich die Sozialdemokraten der Kaiserzeit mehr und mehr angeeignet haben.“ Ein revolutionäres Erdbeben „mit aufgehobenen Spielregeln und unkontrollierten Ereignissen“ habe die damaligen Revolutionäre „tatsächlich verunsichert“.

Keine Sozial-Experimente

Es waren letztlich mehr Reform-Maßnahmen als tiefgreifend-umstürzlerische Ereignisse, die das revolutionäre Deutschland 1918 kennzeichneten.

„Man kann das tatsächlich unter dem Aspekt der Reformen sehen. Ich möchte aber die Ereignisse 1918 nicht kleinreden: Wenn man bedenkt, was sich da tarifrechtlich getan hat. Allen voran das Frauenwahlrecht. Das sind tatsächlich umstürzende Ereignisse gewesen. Aber dass man die Gesellschaftsstrukturen und die ökonomischen Zusammenhänge gänzlich auf null zurückfährt oder dass man Sozialexperimente macht – das ist tatsächlich 1918 nicht gewollt worden von der Masse.“

Friedliche Revolution 1989/90

Auch in den letzten Tagen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) träumten manche Protestteilnehmer von einer „reformierbaren“ DDR.

Die Friedliche Revolution 1989/90 im Osten war für den Geschichtswissenschaftler ebenso durch einen Fokus auf Reformen geprägt gewesen. „In der damaligen Novemberrevolution 1989 hatte man auch kein Interesse, jetzt hier alles wieder ganz neu zu machen. Sondern man hat sich dann an ein Erfolgsmodell angegliedert: An die Bundesrepublik.“Für den Kieler Historiker ist klar: Revolutionen in Deutschland legten stets den Fokus mehr auf Reformen sowie die Schaffung „geordneter Bahnen“ und Zustände in der Gesellschaft. Dieser Fakt erkläre auch eine „gewisse Behäbigkeit“ und bis zu einem gewissen Grad auch die „Angst und Furcht“ deutscher Revolutionäre vor der Revolution.

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