Donnerstag, April 18, 2024
StartZARONEWS PresseAgenturHerr Erdogan, wir sind besorgt!

Herr Erdogan, wir sind besorgt!


Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei werden vom einstigen Reformer, der nun im Präsidentenpalast sitzt, zurückgedrängt. Andersdenkende bekommen die volle Härte des türkischen Behördenapparats zu spüren

Die aktuellen Ereignisse in der Türkei ziehen die Kritik der internationalen

Gemeinde an, doch es scheint, dass die türkischen Machtinhaber taub sind. Einst ein Reformer, hat sich Recep Tayyip Erdogan zu einem 

 

Führer entwickelt, der jeden einzelnen Demokratisierungsfortschritt, der unter seiner bisherigen Führung geschah, Schritt für Schritt wieder rückgängig macht – warum? Um an der Macht zu bleiben.

Es ist nicht lange her, da sind wir entzaubert worden: Wir mussten alle gemeinsam feststellen, dass die Demokratisierung für ihn notwendig war, um den Weg zu ebnen, und derzeit ein Hindernis für die von ihm angestrebte absolutistische Herrschaft darstellt, veraltet ist. Demokratie ist in den Augen von Erdogan veraltet. Der Raum für die freie Entfaltung wird immer mehr eingeschränkt – Grundrechte werden von denjenigen verletzt, die einen Eid darauf abgegeben haben, diese zu beschützen.

Internationale Einrichtungen wie das Freedom House und Human Rights Watch (HRW) bringen ihre Besorgnis über den von der Türkei eingeschlagenen Kurs zur Sprache und stufen die Türkei bei jedem Index, den sie veröffentlichen, niedriger ein. Die Repräsentantin der Medienfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Dunja Mijatovic, mahnte die türkische Regierung, dass "Gesetze nicht zur Unterdrückung anderer Meinungen verwendet werden sollten". Auch offizielle Statements der EU-Behörden unterstrichen, dass das Vorgehen der türkischen Machtinhaber undemokratisch sei: Nach dem Twitter-Verbot betonte Stefan Füle, der damalige EU-Kommissar für Erweiterung, dass es große Bedenken gibt, ob die Türkei den EU-Werten und Normen wirklich treu ist. Es wurden Stimmen laut, die forderten, dass die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei aufs Eis gelegt werden, damit ein klares Zeichen gesetzt wird.

Es darf aber nicht außer Betracht gelassen werden, dass es das eine ist, Kritik an einem Land zu üben, welches weit weg ist, und das es etwas vollkommen anderes ist, in solch einem Land tagtäglich zu leben.

Wir, die Bürgerinnen und Bürger der Türkei, die den antidemokratischen Praktiken Erdogans gegenüber distanziert und kritisch sind; wir, die verweigern, sich gegenüber einem Personenkult zu verbeugen; wir, die auf einem Rechtsstaat bestehen; wir, die anders als Erdogan denken – wir sind besorgt. Wir, Demokraten, Liberale, Linke, Aleviten, Sunniten, Unternehmer und Aktivisten, werden durch die feindliche und polarisierende Rhetorik von Erdogan und durch die Diffamierungskampagne seines Medienimperiums zur Zielscheibe gemacht.

Eine Frage der Würde

Jeden Tag. Nur weil wir anders sind; weil wir nicht der autoritären Politik der Regierung zustimmen, nur weil wir unsere Freiheit nicht verlieren möchten und nur weil uns die Würde wichtig ist – unsere und die der "anderen".

Unsere Rechte, die in der Verfassung verankert sind, schützen uns nicht, da die Verfassung selber täglich verletzt wird.

Wir sind besorgt, über die Abwesenheit der Toleranz und das Nichtvorhandensein des gesetzlichen Schutzes für Andersdenkende. Die überwältigende Mehrheit der Medien hat sich bereits der Willkür der Regierung übergeben. Der Staatsanwalt fordert für einen regierungskritischen Tweet fünf Jahre Haft. Wir sind schockiert angesichts der aktuellen Ereignisse, sodass wir sprachlos sind und unsere Meinung nicht äußern. Wir, die anders denken, verlieren unsere Stimme angesichts dieser Welle der Gewalt.

Null Nachbarn …

Wir sind besorgt: Wir haben einen Präsidenten, der den gesamten Westen als "Heuchler" definiert und über diesen Westen sagt, "dass sie uns nur dann mögen, wenn wir und unsere Kinder tot sind". Wir haben eine Außenpolitik, die sich von "null Problemen mit den Nachbarn" zu "null Nachbarn ohne Probleme" entwickelt hat. Wir besitzen keine diplomatische Repräsentation in den Schlüsselstaaten unserer Region; Ägypten, Israel und Syrien. Wir fühlen uns beengt, eingeengt. Ohne Sauerstoff.

Wir sind besorgt darüber, dass die Justiz in der Türkei nicht mehr unabhängig ist. Wir sind sehr frustriert, weil wir Zeuge werden, dass die Justiz unfähig ist, dem Druck der Regierung entgegenzuhalten. Wir sind sehr betrübt darüber, feststellen zu müssen, dass die letzten Türen, die aufgesucht werden können, die Türen des Rechts, versiegelt sind.

… ohne Probleme

Wir sind besorgt, weil uns die Chancengleichheit nicht nur im öffentlichen Bereich verweigert wird, sondern auch auf dem "freien" Markt, der alles andere als frei ist, wie er sein sollte – Nepotismus gehört bereits zu den Spielregeln.

Wir sind besorgt, dass das vorhandene Potenzial des friedvollen Zusammenlebens zerstört wird – von ausgerechnet denjenigen, die es fördern und unterstützen sollten.

Wir sind besorgt, weil wir in unserem eigenen Land, nicht nach Glück streben können, wie wir es uns wünschen.

Wir sind zwar besorgt, aber unsere Hoffnung verlieren wir nicht:

Wir werden weiterhin an der Demokratie festhalten und stets bemüht sein, die Wunden, die uns durch Autoritarismus hinzugefügt werden, zu heilen. (Yasemin Aydin, Fatih Ceran, DER STANDARD, 13.3.2015)

Yasemin Aydin ist Linguistin. Sie arbeitet als freie Journalistin und ist in NGOs ehrenamtlich aktiv.

Fatih Ceran ist Politikwissenschafter. Ceran, der ebenfalls als freier Journalist aktiv ist, arbeitet derzeit in einer transnationalen NGO mit Sitz in Istanbul.

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