Mittwoch, April 24, 2024
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„Jihadtourismus ist zu einer sozialen Seuche geworden“


Terrorismusforscherin Jessica Stern über das altvaterische Image von Al-Kaida und die apokalyptischen Visionen der IS-Miliz

Noch nicht einmal ein Jahr ist es her, dass die IS-Terrormiliz den Irak und Syrien überrannt hat. Absehbar war eine solche Entwicklung jedoch schon viel früher, macht die Politologin Jessica Stern in einem Buch über den Aufstieg der

Jihadisten klar. derStandard.at hat mit ihr unter anderem über den Machtkampf von IS und Al-Kaida

gesprochen.

derStandard.at: Sie charakterisieren die IS-Miliz als eine Organisation, die der Apokalypse verhaftet ist. Warum ist es so wichtig, das zu begreifen?

Stern: Interesse an der Apokalypse gab es auch bei Al-Kaida im Irak, dem Vorgänger der IS, aber jetzt spielt es eine wesentlich wichtigere Rolle. Das sieht man zum Beispiel am Namen, den die Jihadisten ihrem Onlinemagazin gegeben haben, nämlich "Dabiq", der Ort, an dem nach ihrem Glauben die letzte Schlacht stattfinden soll. Der Endzeitkampf beinhaltet Schlachten zwischen Sunniten und Schiiten sowie gegen den Westen. Deshalb hofft die IS naturgemäß, die Anti-IS-Allianz mit hineinzuziehen.

Diese Endzeitvisionen erklären bis zu einem gewissen Grad auch die Barbarei. Wir haben schon viele Gräueltaten in der Geschichte gesehen, meistens werden diese versteckt. Die IS aber stellt das stolz zur Schau.

Es ist schwierig zu sagen, wie viele IS-Mitglieder wirklich an diesen Verlauf glauben und wie viele das nur als Weg sehen, um mehr Leute zu rekrutieren. Aber nur, um eine Richtschnur für den Stellenwert der Apokalypse zu geben: In Tunesien glauben laut einer Befragung vom Pew Institut 73 Prozent, dass sie noch während ihrer Lebenszeit die Ankunft des Mahdi (Nachkomme Mohammeds, Anm.) beziehungsweise die Endzeit miterleben werden.

derStandard.at: Wie erklären Sie sich den rasanten Anstieg der Zahl westlicher Jihadisten?

Stern: Es gibt kein singuläres Profil für jene, die sich ins Ausland aufmachen. Mich erinnert das Ganze aber an die 1960er-Jahre: Die Bewegungen damals waren auch ansteckend, die Art und Weise, wie die Welt plötzlich gesehen wurde. Im Unterschied zu heute beteiligten sich damals nur sehr wenige an Gewaltakten. Der Jihadtourismus ist zu einer Art sozialen Seuche für Leute geworden, die sich neu erfinden wollen, nach einer neuen Identität suchen. Sie brauchen nur diese Schablone benützen, um ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo ausdrücken zu können.

derStandard.at: Wie wird das Ringen von IS und Al-Kaida um die Terrorvorherrschaft ausgehen?

Stern: Ungefähr 20 Gruppen, viele davon sehr unbekannt, haben bis dato den Eid auf die IS geschworen. Viele fragen sich derzeit zum Beispiel, warum Boko Haram den Eid geleistet hat und Al-Shabaab nicht. Es hat sehr lange gedauert, bis Al-Shabaab von Al-Kaida anerkannt wurde. Bin Laden wollte zuerst nicht, dass sie ein Ableger werden. Jetzt gibt es allerdings unterschiedliche Bestrebungen, manche Mitglieder sind zumindest interessiert an der IS.

Das altvaterische Image ist ein Problem für Al-Kaida. Man braucht sich nur deren Videos anzusehen, wo alte Männer langatmige und langweilige Reden halten. Die IS ahmt in ihren Videos hingegen Computerspiele nach.

foto: ap/mohammed
Schiitische Milizen feiern die Rückeroberung Tikrits und die Zurückschlagung der IS.

derStandard.at: Ist Al-Kaida deshalb unter Zugzwang?

Stern: Die IS ist definitiv auf dem Vormarsch. Es gibt zwei Möglichkeiten, was passieren könnte: Al-Kaida wird noch gewalttätiger. Oder aber Al-Kaida löst sich auf. Es gibt seit vergangener Woche Gerüchte, dass Al-Kaida-Chef Aiman az-Zawahiri alle Jihadisten dazu auffordern könnte, sich der IS anzuschließen und den Eid auf Abu Bakr al-Baghdadi zu leisten.

derStandard.at: Im Jemen wird nun auch gekämpft. Wird diese neue Front von der IS ablenken?

Stern: Das ist schon möglich. Es ist schon interessant, dass Saudi-Arabien, ein Land, das auch von der IS bedroht wird, es wichtiger findet, gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen vorzugehen. Im Irak kämpfen wiederum genau die vom Iran unterstützten Milizen gegen Saudi-Arabiens Feinde – also gegen die IS. Die Frontverläufe sind also nicht klar.

derStandard.at: Mit welchen Strategien kann die IS-Miliz bekämpft werden?

Stern: Fast alles, was wir tun, um gegen die IS in Syrien zu kämpfen, hilft auf den ersten Blick auch Bashar al-Assad. Zusätzlich sehen sich die USA plötzlich an der Seite des Iran im Kampf gegen die IS. Und im Jemen ist man es dann doch wieder nicht. Ich bin sehr skeptisch, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft – aufgrund der Möglichkeit, dass das der IS und anderen Gruppen nützen würde. Es stärkt ihr Argument, dass es ein Kampf des Islam gegen den Westen ist. Wir können es auch moralisch nicht rechtfertigen, einerseits die IS zu bekämpfen, Assad andererseits aber nicht.

Es wäre wichtiger, dem Irak zu helfen, eine liberale Demokratie zu entwickeln, in der auch Minderheiten geschützt werden. Nämlich in diesem Fall Sunniten, die sich ja in Bedrängnis gesehen haben, wovon die IS stark profitieren konnte. Assad ließ es zu, dass viele sunnitischen Jihadisten während des Krieges in den Irak konnten. Er ließ viele von ihnen aus dem Gefängnis, um es auch so darzustellen, dass die Opposition nur aus Jihadisten besteht, die sich unterdrückt fühlen. Es wäre wichtig, eine sunnitisch-schiitische Koalition zu bilden, um der IS etwas entgegenzusetzen.

Natürlich müssen wir auch den Kampf um die Ideen aufnehmen. Es gibt viele Imame und Gelehrte, die die IS und ihre Interpretation des Islam verurteilen. Nur werden sie vor allem von der Jugend nicht gehört, weil die davon gelangweilt ist. Wir müssen diese Argumente in angemessener Weise der Jugend übersetzen.

foto: reuters/orsal
Die zerstörte syrisch-kurdische Stadt Kobane im Jänner 2015.

derStandard.at: Sollen Betreiber sozialer Medien zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie die Verbreitung jihadistischer Propaganda zulassen?

Stern: Man sollte es den Terroristen auf jeden Fall schwerer machen. Das ist möglich. Wir erlauben ja auch keine Verbreitung von Kinderpornografie.

derStandard.at: Wie sollten Journalisten mit dem Thema IS umgehen?

Stern: Es ist ein Dilemma, denn der ursächliche Grund für Journalismus ist es ja, die Menschen über Vorgänge zu informieren. Sie haben ein Recht, es zu wissen. Aber wie Margaret Thatcher einst sagte: "Medienaufmerksamkeit ist der Sauerstoff für Terrorismus." Es ist wichtig, nicht zu übertreiben und die Dinge immer in einen Kontext zu stellen. Aber es gibt hier keine einfachen Antworten.

derStandard.at: Wie lange wird die IS noch den Nahen Osten in Atem halten?

Stern: Das wird sicher noch Jahre dauern.

derStandard.at: Gibt es nicht schon einen teilweisen Rückzug?

Stern: An manchen Orten wie in Tikrit verlieren sie an Boden, an anderen – siehe etwa das Flüchtlingslager Yarmuk – gewinnen sie wieder. Es ist derzeit eine Pattsituation. Wir sind nicht einmal ansatzweise so weit, dass wir von einer substanziellen Schwächung der IS sprechen können. (Teresa Eder, derStandard.at, 8.4.2015)

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