Freitag, April 19, 2024
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Kommentar: Germanwings – Lernen aus dem Unglück

Airbus A320 // CC-BY SEBASTIEN MORTIER, bearbeitet von Lämpel

Mein Job ist es, Wege für ein einfacheres, besseres und gutes Leben zu finden. Immer die soziale Frage nach der Veränderung zu stellen. Diesen Wandel selbst auch umzusetzen und andere Menschen damit zu ähnlichen Veränderungen zu motivieren. Das ist eine eigene Welt, in der ich mich Fehler, Gruppe existiert nicht! Überprüfen Sie Ihre Syntax! (ID: 2)bewege. Und trotzdem lässt mich das aktuelle Geschehen nicht unberührt. Denn wenn sich ein junger Mensch im Zuge der Ausübung seines Berufes das Leben nimmt, dann stellt sich für mich die soziale Frage. Die Frage nach dem

Dahinter, dem sozialen Umfeld. Nicht jedoch stellt sich mir die technische Frage und welche Strukturen hier versagt haben könnten. Nein, es geht ums Soziale, um das Menschliche. Schließlich saßen ja 150 Menschen in der Unglücksmaschine des Fluges 4U9592 der Germanwings.

“Kulturen der Fremdversorgung tendieren zu einer immer weitergehenden Verlagerung von Entscheidungen in technische Abläufe. Spurhalteassistent, Abstandsradar…entlasten von Entscheidungsdruck, aber auch von Verantwortung…”, schreiben Sommer/Welzer in “Transformationsdesign” (ebda, S. 116). Dieses sich Verlassen auf Technologien lässt die Gesellschaft immer weniger widerstandsfähig gegenüber äußeren Störfällen werden und führt ganz nebenbei zum Verlust an Empathie und sozialer Intelligenz ihrer Mitglieder. Die Technik soll lösen, was menschelt, was unkontrollierbar scheint. Die Infrastruktur, Gesetze, festgeschriebene Regelwerke und Abläufe sollen von der zwischenmenschlichen Verantwortung befreien. Und jetzt, als Reaktion auf die Ursache des Absturzes, einen neuen Standard im Flugverkehr hervorzaubern helfen. Vier Augen sollen das “Risiko Mensch” kontrollieren, setzen dabei aber nur die eingangs erwähnte “Fremdversorgung” und  “Verlagerung von Entscheidungen” fort.

Ein Studienkollege meinte vor einem guten Jahr zu mir, er werde bald kündigen. Er hält das kalte Klima im Konzern nicht mehr aus. Die Kollegen könnten nicht einmal grüßen, ein “Guten Morgen” hört man nicht. Alle Mitarbeiter hätten ihre eigene Karriere im Kopf, stellten ihr Ego in den Vordergrund und liefen gesenkten Kopfes gehetzt an ihren Arbeitsplatz. Das Unternehmen sei ein “herzloser, kalter Haufen”, denen das Menschliche abhanden gekommen sei. Der Studienkollege arbeitet bei einem Konzern in Süddeutschland, und kehrt in wenigen Wochen zurück nach Österreich. Hängt den Technik-Job jetzt an den Nagel, weil er diesen nicht mehr aushält.

Mir fällt auf, die Piloten dieses deutschen Luftfahrtkonzernes streikten in den vergangenen Monaten viel zu oft, als dass man über deren Anliegen hinwegsehen konnte. Psychische Belastungen durch Leistungsdruck, immer mehr Arbeit infolge der Einsparungen bei immer weniger Lohn nannte man als Motive für die Streiks. Die Luftfahrtunternehmen antworteten mit Effizienzsteigerung. Also fliegt 

man jetzt billiger, bei weniger Personal und weniger Leistung für den Fluggast. Effizienter eben und kommt damit wieder in die Gewinnzone. Die deutsche Wirtschaftswunder-Mentalität hat dabei alles im Griff. Technisch sauber, “safety first”. Was menschlich bei den Betroffenen durch diesen offensichtlichen Effizienz- und Leistungswahn passiert, fragt niemand nach. Die Technik übernimmt das Risiko Mensch. Regelwerk kontrolliert das Verhalten und der Grad seiner Einhaltung bestimmt die Karrierewege der Betroffenen. Ganz nebenbei nehmen seit rund zehn Jahren Depressionen, Burnouts und Angstzustände in allen Gesellschaftsgruppen zu. Je mehr wir leisten (müssen), umso labiler scheinen wir zu werden. Fragen Sie doch mal Ihren Hausarzt, wie das ist, mit der Zunahme an psychischer Belastung. Meine Ärztin kann ein Lied davon singen.

Dass jetzt eine Gesellschaft mit fassungloser Menschlichkeit auf den Absturz reagiert, mit Tränen vor den Mikrofonen kämpft, zeigt mir: Endlich ist ein Funken an Empathie und Mitgefühl in den Seelen dieser Gesellschaft angekommen. Und sie erkennt vielleicht, dass wir alle aufeinander zugehen müssen – so wie die französischen Familien in der Absturz-Region ihre Wohnungen den Opferfamilien öffnen. Wir müssen aufeinander zugehen und nicht alles der Karriere, der Effizienzsteigerung, dem Haben, dem Konsum, der Produktivität, dem gewinn und Profit, sowie dem Klischee vom richtigen Maß des Erfolgs opfern. Es geht nicht darum, so akkurat und technokratisch wie möglich in der Gesellschaft zu funktionieren, nur weil wir alle Wachstum und Konsum benötigen, um damit wohlständig glücklich zu werden. Es geht bei unserer Suche nach Glück und Wohlstand darum, dass es zwischen uns allen ordentlich menschelt, nicht dass uns unser eigener Lebensstil erdrückt oder in Einzelhaft sperrt – Depression ist eine Form des erdrückt Werdens, der Co-Pilot saß in einem “Tresor”, sperrte sich in “Einzelhaft”.

Ja, es darf menscheln, wenn eine Journalistin den Flug versäumt und dadurch vielleicht gezwungen wird, über ihre Art des Lebensstiles und ihren Job nachzudenken. Ja, es darf menscheln, wenn ein Geschäftsmann 16 Stunden mit dem Mietwagen zurückfährt, weil er nicht im Unglücks-Flieger saß, da ein Kunde noch bedient werden wollte. Vielleicht kommen nun immer mehr Menschen drauf, dass es im Leben nicht um Leistung, viel Geld, Konsum und Mangel an Zeit geht. Und wie wir uns diesen “Wohlstand” so effizient, produktiv, technokratisch und kontrolliert ermöglichen. Sondern um genau das Gegenteil. Es geht um das Zeit-Haben. Um das Hinsehen, wie es dem anderen neben mir geht. Ob er still wird und nicht auffällt und innerlich aber aus Wut und Aggression gegenüber seinem Leben beinahe platzt.

Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einer kollektiven Störung der deutschen Gesellschaft, von “Geburtstrauma”, “narzißtischem Mißbrauch” und “Autoritären Verhältnissen”, welche sich im Kollektiv als “Ordnung, Disziplin, Gehorsam und Leistung” manifestieren (ebda, S.146f). Maaz spricht an anderer Stelle auch von einer “narzisstischen Gesellschaft”. Ja, es geht bei diesem Ereignis rund um den Unglücksflug der Germanwings um den Auftrag des kollektiven Erkennens, was uns verletzt und womit wir uns selbst verletzen (lassen). Und dass wir zur Verarbeitung dieses Schmerzes Hilfe benötigen, nicht aber ein neues Regelwerk oder eine neue Technologie.

Ein Gutes Leben hat damit zu tun, dass wir inneren Frieden erreichen. Zu-Frieden-heit mit dem, was wir tun. Sinn finden im Alltag und Zeit für ein Miteinander. Zeit für einen Tag Fahrt um von einer Ecke Europas in die nächste zu gelangen. Ein Bloggerfreund schrieb unlängst, nur wer zu Fuß unterwegs ist, könne auch ankommen. Ein anderer Freund aus den USA (!) unternahm vor zwei Jahren eine Europa-Reise nicht mit dem Flieger, sondern mit dem Bus. Er erklärte mir seine Entscheidung damit, er wolle die Landschaft sehen, in der er sich reisend fortbewegt. Er wollte sich verorten, seiner Reise einen Platz geben.

Ein Gutes Leben bedeutet, seinen Platz einzunehmen, sich selbst zu verorten und dabei den Menschen, das Zwischenmenschliche in den Vordergrund zu stellen. Nicht das Geld, die Karriere, der Job, die Zahl der besuchten Städte und Flüge sind wichtig. Gutes Leben ist nur auf zwischenmenschliche Art möglich und mit dem sich Nehmen von Zeit. Leistung um jeden Preis erbringen und den Vorstellungen und Erwartungen anderer entsprechen zu müssen, gehört nicht dazu. Gutes Leben entsteht aber, 

wenn wir uns endlich Zeit nehmen, unsere Lebensstile und Arbeitsstile zu überdenken. Innezuhalten, um darüber zu reflektieren, was wirklich wichtig ist und was wir getrost beiseite lassen können. Manchmal zwingt uns eben ein Unglück zum Innehalten. Dann, wenn wir dieses längst hätten tun müssen.

Ich glaube, was wir aus diesem Unfall alle lernen können ist: Werden wir wieder Menschen. Gehen wir aufeinander zu. Auch auf Fremde, besonders im Schmerz eines Verlustes. Lassen wir die Schuldzuweisungen beiseite, sie verhindern nämlich unser Lernen an diesem Ereignis. Begegnen wir uns stattdessen aus dem Herzen und lassen wir doch mal die Technikverliebtheit und Kontroll-Lust, den Wahn, das Menschliche ausschalten zu können, unbegrenzt belastbar und leistungsfähig sein zu müssen, weil es sich eben so gehört, außen vor. Lernen wir, sich Zeit für uns selbst zu nehmen und diese mit anderen zu teilen. Lernen wir, endlich auf die Realisierung eines wirklich guten Lebens zuzugehen. Dieses zu finden und umzusetzen. Alle miteinander.

Die Welt und das Lebendige auf ihr ist von sich aus eine Ausdrucksform des Guten Lebens, nicht aber Spielplatz und Versuchslabor für Technik, Wirtschaftswachstum, Karrieresucht und Profitgier. Die Welt ist pulsierendes Leben. Sie ist umso widerstandsfähiger, je mehr man sie in ihrer Verletzlichkeit respektiert. Sie ist umso zerstörungsanfälliger, je mehr wir sie verwalten und zu kontrollieren, zu unterdrücken (Depression) suchen. Die Welt ist verletzliches Menschsein. Und Verletzungen können nur durch Mensch-Sein geheilt werden. Das erscheint mir als Botschaft des Fluges 4U9592.

Verteiler: Neopresse

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