Freitag, März 29, 2024
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Lange ein Tabu: Deutsche Historikerin über sexuelle Gewalt im Zweiten Weltkrieg

Krieg ist grausam und die Soldaten aller Armeen der Welt sind bei weitem keine Engel. Wenn man über die Beziehungen zwischen den Soldaten der Armeen der Alliierten und der Bevölkerung des besiegten Deutschlands spricht, kann man das heikle Thema der sexuellen Gewalt nicht außer Acht lassen.

In den letzten Jahren schreiben tschechische Medien oft über die Gräueltaten, die sowjetische Soldaten dort angeblich nach dem Einmarsch der Roten Armee in Europa verübt hätten. Dabei werden die Verbrechen der Armeen der westlichen Alliierten von der Presse lieber schamhaft verschwiegen.

Das Buch der deutschen Professorin Miriam Gebhardt mit dem Titel „Als die Soldaten kamen“, das vor drei Jahren in Deutschland erschien, hat mit dem verbreitetsten Klischee über den Zweiten Weltkrieg aufgeräumt. Demzufolge sollen sich nach der Befreiung Deutschlands von den Nationalsozialisten britische und amerikanische Truppen recht anständig benommen haben, während die Soldaten der Roten Armee Hunderttausende von deutschen Frauen im Alter von acht bis 80 Jahren vergewaltigt hätten.Angaben der Autorin soll von 860.000 vergewaltigten deutschen Frauen etwa ein Drittel (270.000) auf Soldaten der westlichen Alliierten entfallen. 180.000 Frauen sollen von Amerikanern, 50.000 von Franzosen und 30.000 von britischen Soldaten sexuell missbraucht worden sein. Die sowjetischen Soldaten sollen die Verantwortung für die Vergewaltigung von 590.000 Frauen tragen, obwohl ihnen früher zwischen einer und zwei Millionen solcher Taten zugeschrieben worden waren.

Dabei sollte angemerkt werden, dass sich die Stärke der Roten Armee und der Armeen der westlichen Alliierten in Europa wesentlich voneinander unterschieden haben. Zum Zeitpunkt des Beginns der Schlacht um Berlin gehörten mehr als zehn Millionen Soldaten der Roten Armee an. Gleichzeitig waren in Europa 3,3 Millionen US-Soldaten und 1,35 Millionen britische Soldaten stationiert.

Sputnik setzte sich mit der Autorin des Buches in Verbindung. Sie wurde gefragt, wer an Geschichtsklitterung interessiert ist und warum das Tabu des Schweigens über von westlichen Alliierten begangene Verbrechen erst heute gebrochen wird.

In westlichen Medien können wir in letzten Jahren Publikationen über die hässlichen Taten (Vergewaltigungen, Morde) sehen, die sowjetische Soldaten in Europa begangen haben. Aber über die hässlichen Taten der Alliierten schweigt die Presse. Was denken Sie – wer hat ein Interesse daran, nicht über die historische Wahrheit zu reden?

Ihre Vermutung ist nicht richtig. Als mein Buch „Als die Soldaten kamen“ im Jahr 2015 erschien, haben deutsche, französische, britische und amerikanische Medien, aber auch Medien in vielen anderen Ländern darüber berichtet. Tatsache ist, dass in der Sowjetunion die Vergewaltigungen der Roten Armee lange Zeit Tabu waren, und im Westen die Vergewaltigung der westlichen Alliierten. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Auf die Truppen, die Nazi-Deutschland besiegt hatten, sollte kein schlechtes Licht geworfen werden. Sowohl die US-Army als auch die Rote Armee waren immerhin die Befreier vom Faschismus, also Helden — da passte die sexuelle Gewalt nicht ins Bild. Der Kalte Krieg hat dieses Schweigen verlängert, denn jetzt bemühten sich alle Beteiligten, die eigenen Verbündeten zu schützen. Erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs werden diese Erinnerungsblockaden gelockert.Wie kann man die große Zahl der Fälle von Gewalt gegenüber Zivilisten in den Armeen der Alliierten erklären? Was war das – Rache, oder haben die Kommandeure die Soldaten einfach nicht kontrolliert?

Sexualisierte Kriegsgewalt hat immer verschiedene Motive und Funktionen. Grundsätzlich geht es darum, den Kriegsgegner zu schwächen und die eigene Armee durch die Mitwisserschaft von Verbrechen aneinander zu schweißen.

Ist Ihnen etwas über kriminelle Taten der Alliierten gegenüber Zivilisten in der Tschechoslowakei bekannt?

Die Rote Armee hat auch Frauen der eigenen Verbündeten in Polen oder in der Tschechoslowakei mit sexueller Gewalt überzogen. Auch tschechische Soldaten haben übrigens vergewaltigt. Die westlichen Alliierten haben ebenfalls Frauen der eigenen Verbündeten etwa in England und Frankreich vergewaltigt. Das zeigt, dass Rache nur ein kleines Motiv neben vielen anderen, viel wichtigeren war.

Wie hat die Führung der Streitkräfte der Alliierten Gewalt gegenüber Zivilisten bekämpft?

Die Rote Armee, die britische, amerikanische und französische Armee haben sexuelle Gewalt strengstens verboten und bestraft.

Es gab zum Beispiel bei der Roten Armee und bei der US-Armee spontane Lynchmorde an Vergewaltigern, es gab aber auch Gerichtsverhandlungen vor den Militärgerichten, die mit einem Todesurteil oder mit langen Jahren im Straflager geendet haben.

Ist es wahr, dass die Vergewaltigungen von deutschen Frauen auch nach dem Kriegsende weitergingen?

Alle Besatzungsarmeen haben weiterhin über Jahre hinaus sexuelle Gewalt in Deutschland ausgeübt. Wie diszipliniert oder undiszipliniert die Besatzungssoldaten waren, hing immer auch vom jeweiligen Vorgesetzten ab.

Warum hat man über die kriminellen Taten der Alliierten gerade jetzt zu sprechen begonnen? 

Wie gesagt, erst der Fall der Mauer macht es allmählich möglich, bestimmte Themen zu besprechen und zu erforschen.Außerdem war es in Deutschland wichtiger, erstmal die eigenen Verbrechen im Vernichtungskrieg und im Holocaust aufzuarbeiten.

Mein Buch „Als die Soldaten kamen“ erscheint derzeit auch auf Russisch. Es ist außerdem in Großbritannien, den USA, in der Türkei und in skandinavischen Ländern erschienen. Das zeigt, dass das Thema sexualisierte Kriegsgewalt inzwischen überall auf immer mehr öffentliche Sensibilität stößt. Das hat mit den Geschehnissen bei den Jugoslawienkriegen und in Ruanda zu tun und mit der internationalen Besserstellung der Frauenrechte.

Quelle!:

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