Freitag, April 19, 2024
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„Lasse sie nicht zum Gebet“: Pädagogin aus Russland lehrt Migranten in Deutschland

Erklären, was Anti-Baby-Pillen oder ein Museum sind, oder beibringen, wie man eine Toilette benutzt. Der Flüchtlingsandrang in Europa wirft akut die Frage nach der sozialen Anpassung der Neuankömmlinge auf.

In Deutschland halten sich derzeit 900.000 Flüchtlinge auf. In die Organisierung desDeutsch-Unterrichts für Ausländer (DaF) investieren die Behörden viel Geld. Auch die ehemalige Journalistin Swetlana Grünwiese, die vor fast 15 Jahren aus Russland nach Deutschland kam, gehört zu den Lehrern, die Flüchtlinge unterrichten.

Swetlana bezahlte früher viel Geld für ihre Deutsch-Kurse. Heute unterrichtet sie in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Unter ihren Schülern sind Flüchtlinge und Gefängnisinsassen, für die der Unterricht kostenlos ist.

Die Lehrerin schildert, wie ihre Schüler sich an die europäische Kultur anpassen, welche Grundlagen ihnen beigebracht werden sollen und wie Konflikte zwischen Vertretern verschiedener Länder und Konfessionen vermieden werden können.

Zu Flüchtlingen

Meine Schüler – Frauen und Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren – stammen nicht nur aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran, sondern auch aus dem Kosovo, aus Serbien, manchmal aus Polen, Georgien bzw. Tschetschenien. Es gibt Musliminnen mit und ohne Kopftuch, sie lernen problemlos in Gruppen mit Männern. Obwohl es in der benachbarten Stadt vor kurzem einen Gerichtsprozess gegen einen Staatsbürger Iraks gab, der seine Frau niederstach, weil er dachte, sie gehe fremd, wobei sie in Wirklichkeit die Sprachschule besuchte. Es kamen sehr viele Menschen, die unsere Zivilisation nicht kennen.

Die meisten Schüler sind Flüchtlinge, die einen entsprechenden Status bekommen, in Deutschland bleiben und dann ihre Familien hierher bringen wollen. Sie bekommen in Deutschland Sozialhilfe, der Arbeitsmarkt zwingt sie dazu, das irgendwie zu entschädigen, beispielsweise Sprachkurse zu besuchen. In diesem Fall werden wegen Versäumnissen die Hilfen gekürzt.

Zu Alltagsfragen und Kulturschock

Sowohl Frauen als auch Männer wenden sich mit intimen Fragen an mich, um Probleme zu vermeiden. Ich habe so viel gehört! So habe ich erwachsenen Menschen das Geheimnis über die Existenz von Anti-Baby-Pillen gelüftet – sie haben das nicht gewusst!

Vor zwei Jahren unterrichtete ich in einem Flüchtlingslager. Die Menschen kamen voller Hoffnung auf ein neues Leben dorthin. Die Übersetzer mussten mit Erklärungen beginnen, wie man die Toilette richtig benutzt.

Intelligente und vielgereiste Menschen ermöglichen eine konfliktlose Koexistenz vieler Kulturen. Bildungsferne Menschen aus Dörfern erleben einen Kulturschock.

Als ich Kinder unterrichtete, kamen manchmal Väter zu mir, um über ihre Kinder zu sprechen. Während des Gesprächs blickten sie mich an, als sei ich eine Wand. In unserer europäischen Zivilisation wird das als fehlender Respekt gedeutet.  Doch als Muslime, denen es verboten ist, „fremden Frauen direkt in die Augen zu schauen“, zeigten sie damit eben Respekt.

Nehmen wir eine neutralere Situation. Die Deutschen begrüßen sich mit Händeschütteln. Egal ob Frauen oder Männer. Doch muslimischen Männern ist es verboten, andere Frauen zu berühren, für Frauen gilt dieselbe Regel. Wenn sie nicht die Hand zur Begrüßung reichen, deuten die Deutschen dies als Beleidigung. Das ist eine Tradition.

Ich sage meinen Schülern: „Wenn Sie das nicht machen können, sagen Sie einfach, dass Sie eine Grippe haben und deshalb nicht die Hand schütteln könnten. Denn falls Sie den wahren Grund in Ihrem schlechten Deutsch eine halbe Stunde lang erklären werden, wird sich Ihr Gesprächspartner trotzdem gekränkt fühlen.“

Zum Analphabetentum

Nach Deutschland kamen sehr viele ungebildete Menschen. Ich kenne keine Statistiken, doch sie sind in der Mehrzahl. Menschen, die in der Heimat studierten, wissen, was Unterricht bedeutet. Ein Teil der Menschen ist gebildet. Zum Beispiel: Ich redete über die Längeneinheiten Meter, Dezimeter, Zentimeter, Millimeter, und ein Syrer fügte da hinzu – Nanometer …

Es gibt Schüler, die vier bzw. fünf Sprachen kennen … Es gibt aber auch jene, die in ihrer Muttersprache nicht lesen können. Für uns Lehrer bedeutet das nur eines – alles sehr langsam mehrmals wiederholen.

Mit einem Schüler haben wir zweimal pro Woche Unterricht. Wir versuchen, das Wort „Mama“ zu lesen. Er vergisst ständig den Unterschied zwischen „m“ und „n“. Dabei schreibt er diese Buchstaben ohne Fehler, versteht sie aber nicht. Doch ich glaube daran, dass er das Lesen lernen wird.

Zu schwierigen Fragen

Zum Beispiel solche Fragen wie Prüfungsvorbereitungen – an ein Reisebüro eine kurze E-Mail schreiben, in der man berichtet, dass man im August Dresden besuchen will und nach Museen, Kinos und Hoteladressen fragt. Die erste Frage der Schüler: Wer ist Dresden? Die zweite: Was ist Museum? Ich meinte zunächst, dass sie diese Wörter auf Deutsch nicht kennen, doch dann erkannte ich, dass sie das nicht verstehen. Als letzte Hoffnung fragte ich: Die Mona Lisa, Leonardo Da Vinci – haben Sie davon gehört? Nein. Ehrlich gesagt, ich war verwirrt.

Ja, sehr viele Menschen besuchen keine Museen, aber ich dachte, dass alle wüssten, was das sei. Am Ende gab es im Brief über die Reise nach Dresden die Frage über Schischa-Bars und türkische Kneipen. Aber einen richtigen „Anti-Kultur“-Schock erlebte ich, als Kinder aus Afghanistan mir erzählten, dass ihre Mutter mit zwölf Jahren und deren Freundin mit zehn Jahren geheiratet hätten. Seit dieser Zeit betone ich stets, dass Deutschland kein Afghanistan sei, so dass man sich zunächst vergewissern sollte, dass ein Mädchen schon 18 sei.

Zu Religion und falscher Toleranz

Ich respektiere zwar die religiöse Zugehörigkeit (ich bin selbst orthodox), werde aber nie einen Schüler vom Unterricht freistellen, damit er beten geht. Zwar haben die Muslime bestimmte Gebetszeiten, aber sie können später beten – der Koran erlaubt das ja. Wir führen den Unterricht während muslimischer Feste, während der muslimischen Fastenzeit – also gibt es bei uns da keine Ruhetage. Ich sage immer: Das ist eure Privatsache, und wir erzählen einander keine Einzelheiten über unsere privaten Angelegenheiten. Und Schluss.

Vor kurzem sprach ich mit einer Türkin, die noch als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen war und Jahre später einen Deutschen heiratete und Kinder von ihm gebar. Ihre Familie hat es ihr immer noch nicht verziehen, dass sie es gewagt hatte, einen Nicht-Muslim zu heiraten. Und es stellte sich nämlich heraus, dass sie noch als Teenager gehofft hatte, dass ihre deutschen Lehrer mit der Faust auf den Tisch schlagen und ihren Eltern sagen würden:

„Ihr seid in Deutschland, und hier gehen Kinder in normalen Badeanzügen zum Schwimmunterricht!“

Aber ihre Eltern behaupteten immer, ihre Tochter wäre krank gewesen, und die deutschen Lehrer drücken daraufhin ein Auge zu und sprachen sie vom Schwimmunterricht frei. So etwas halte ich für falsche Toleranz.

Zu Konflikten im Unterricht

In jeder Gruppe gibt es immer auch Vertreter von Konfliktseiten  – sie müssen gemeinsam arbeiten. Sie wissen, dass sie vor dem Krieg in einen „ruhigen Hafen“ geflüchtet sind, und dieser „ruhige Hafen“ bleibt ruhig, solange alle die dort gültigen Spielregeln einhalten. Wir Pädagogen  werden unterrichtet, wie wir mit Menschen umzugehen haben, die vieles erlebt haben.

Ehrlich gesagt, habe ich da meine eigene Vorgehensweise. Ich bin keine Psychologin und mag es nicht, wenn jemand offen über seine geistigen Schmerzen erzählt. Falls jemand im Unterricht beginnt, darüber zu erzählen, was für Alpträume er oder seine Verwandten im Krieg erleben mussten, sage ich: Ja, ein Krieg sei immer eine große Tragödie, und alle müssten alles tun, damit es keine Kriege mehr gibt.

Manchmal – aber sehr selten – habe ich das Gefühl, dass irgendwelche Schüler praktisch Propaganda betreiben und mich überzeugen wollen, dass ausgerechnet ihr Volk vom Krieg mehr als alle anderen betroffen war. Da muss ich solche Versuche zwar diplomatisch, aber entschlossen unterbinden. Aber es fiel mir auf, dass solche Schüler üblicherweise sofort das Interesse am Lernen verlieren und nicht mehr in der Schule erscheinen.

Krieg ist eine Angelegenheit für Erwachsene. Aber als ich Kinder unterrichtete, gab es auch Auseinandersetzungen nach dem nationalen Prinzip. Doch nach dem Streiten versöhnten sie sich immer in fünf Minuten wieder miteinander. All diese Flüchtlinge, wie auch die Deutschen, sind einfach verrückt nach Fußball – und wie kann man Fußball ohne Mannschaft spielen? Da wird die Nationalfrage nicht mehr gestellt, wenn man einen guten Spieler in sein Team kriegen will.

Zur Arbeit mit Häftlingen

Im Gefängnis habe ich eine kleine Gruppe, und der Unterricht verläuft im Computerraum. Die Schüler sitzen an Computertischen in Kopfhörern, mit Mikrofonen, und jeder beschäftigt sich auf seinem Niveau – von absoluten Analphabeten bis hin zu Menschen mit Universitätsausbildung. Das ist sehr bequem, denn da kann ich eine Gruppe aus zwei oder drei Personen nehmen und ihnen an der Tafel etwas erzählen, während die anderen auf der Website arbeiten.

Im Gefängnis gibt es keinen Internetanschluss, es ist nur diese Website zugänglich – auf meine Bitte. Es mag komisch klingen, aber meine Arbeit im Gefängnis wird am schlechtesten bezahlt. Allerdings gebe ich diesen Job nicht auf, denn ich kann keinen anderen Lehrer finden, der mich ablösen würde. Und es gibt immer mehr Menschen, die sich am Unterricht beteiligen wollen.

Diese Menschen, die in ihrem Leben vieles angestellt haben, brauchen immerhin kleine „Erfolgsgeschichten“. Zur ersten Prüfung musste ich sie fast zwangsläufig holen – sie hatten Angst. Aber alle bestanden die Prüfung. Die zweite Prüfung bestanden sie noch besser, und die Stärksten haben schon den B1-Niveau hinter sich.

Im Unterricht herrscht eine absolut ruhige Atmosphäre. Ich frage niemanden, warum sie ins Gefängnis mussten. Für mich ist es leichter so. Was die Unterschiede angeht, so ist im Gefängnis alles geregelt: Es gibt das Obdach, das Essen und die Arbeit. Draußen haben die Menschen etliche Probleme: Kinder, Schule, Miete, Verkehr, vorhandene oder ausbleibende Perspektiven. Deshalb sind die Menschen draußen aus meiner Sicht weniger auf die Sprache konzentriert.

Zu den Perspektiven

Manchmal muss ich mit den Deutschen streiten, die mir sagen, man könne ohne gute Kenntnisse nicht arbeiten. Da führe ich ein Beispiel an: Ein Syrer, der kaum Deutsch spricht, hat schon einen Job gefunden, und zwar offiziell, mit einem Arbeitsvertrag. Er ist nämlich Kochgehilfe. Muss man denn wirklich perfekt Deutsch sprechen, um Kartoffeln zu schälen? Oder, sagen wir, es beklagen sich manche Hotelbesitzer, sie könnten keine Putzfrauen finden. Auch für diese Arbeit braucht man kein perfektes Deutsch.

Als viele russischsprachige Menschen nach Deutschland kamen, haben sie hier einen ganzen Wirtschaftszweig entwickelt: Es gibt hier russische Geschäfte, Reisebüros, Ärzte, Rechtsanwälte, Fahrschulen, wo die Mitarbeiter Russisch sprechen. Es gibt Zeitungen, Zeitschriften, Funk- und Fernsehsender. Jetzt wird sich wohl ein ähnliches System in der arabischen bzw. persischen Sprache entwickeln. Und wer die Sprache schneller beherrscht, dem gehört die Zukunft.

Beitragsbild: © AFP 2017/ Christof Stache

Quelle: https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20171021317962597-fluechtling-paedagogin-russland-niedersachsen/

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