Freitag, April 19, 2024
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Offener Brief an Berlins Regierenden Bürgermeister

Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,

Schande über Sie und die übrigen Verantwortlichen, das Brandenburger Tor nach dem Anschlag von Sankt Petersburg nicht in den russischen Nationalfarben anzustrahlen!

Die Begründung des Senatssprechers ist ja nicht auf seinem Mist gewachsen, sie gibt vielmehr die Haltung des Senats als Gremium wieder, dem auch jemand angehört, der für Kultur zuständig ist. Geschichte ist Teil der Kultur, sie wird jedoch in diesem konkreten Fall von der Bürokratie beiseite geschoben: keine Partnerstadt von Berlin. Diese Begründung ist derart fadenscheinig, auch mit Blick auf Orlando, dass man sie mit Fug und Recht als Tarnkappe bezeichnen darf: einmal Frontstadt, immer Frontstadt. Als ob Berlin und Sankt Petersburg nicht durch grauenhafte historische Ereignisse enger verbunden wären, als durch jede formale Partnerschaft. Oder sollte dem Senat unbekannt sein, dass die ab 1941 von der Wehrmacht belagerte Stadt damals Leningrad hieß? Angesichts der Qualität der Berliner Politischen Klasse insgesamt wäre ich nicht überrascht.

Die Senatsentscheidung ist im Übrigen auch vor dem Hintergrund zu beurteilen, dass im Hauptstadtportal für die Rekrutierung russischsprachiger Komparsen durch die US Army geworben wurde. Was denkt darüber wohl ein Bürger in Russland, der sieht, dass deutsche und andere NATO-Verbände im Baltikum 150 Kilometer vor der 1941 belagerten und ausgehungerten Stadt stationiert sind? Was denkt sich eigentlich ein Kultursenator, der einer Partei angehört, die ausweislich ihres Programms eine Friedenspartei sein will? Oder gilt für Ihn das bekannte Dictum Ludwig Thomas, selber dieser Profession angehörig, über Juristen? Die sollten doch wenigstens einen zentralen Grundsatz ihres Metiers verinnerlicht haben: audiatur et altera pars.

Sollte die seit dem Ende des 2. Weltkrieges in Berlin mehrheitlich anzutreffende Provinzialität seines politischen Führungspersonals die tiefere Ursache für die Entscheidung sein, plädiere ich für die Einsetzung eines Bundeskommissars nach Artikel 37 Grundgesetz. Das würde Berlin übrigens in vielerlei Hinsicht guttun.

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Scholz, Berlin

Jochen Scholz (* 1943) Oberstleutnant a.D., war von 1962 bis 2000 Berufsoffizier in der Luftwaffe, u.a. sechs Jahre in multinationalen Nato-Stäben, 12 Jahre deutscher Vertreter in politischen Nato-Gremien, von 1994 bis 2000 Referent im Verteidigungsministerium.
Er ist seit 2002 Mitglied der Partei Die Linken und Mitglied der Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik e. V.
Heute publizistisch tätig zu historischen und geopolitischen Fragestellungen und in der Politikberatung.

Beitragsbild: © AP Photo/ Markus Schreiber

Quelle: Sputnik Deutschland

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