Samstag, April 20, 2024

Orgasmus im Kopf

Einbildung, Suggestion oder epileptische Anfälle? Wieso manche Menschen in gewissen Situationen ein Kribbeln im Hinterkopf spüren, ist wissenschaftlich nicht geklärt.

Das Rätsel Gehirn. Michael Horowitz über ein YouTube-Phänomen und die offenen Fragen der Hirnforschung.

Schlaflos in Seattle, Singapur oder St. Pölten. Weltweit helfen selbsternannte Entspannungs-Gurus seit kurzem gestressten und schlaflosen Menschen zur Ruhe zu kommen, in fast drei Millionen Videoclips – mit einer Art Orgasmus fürs Gehirn. ASMR – Autonomous Sensory Meridian Response – heißt das neueste angenehme, fast ansteckende Internet-Phänomen streng wissenschaftlich. Unglaublich viele Menschen lauschen auf

YouTube schon den sanften, 

flüsternden Stimmen von zumeist jungen, attraktiven Frauen wie der blonden Russin Maria. Und beobachten sie dabei, wie sie mit einer Art Schminkpinsel über ein Mikrofon streicht (was ein angenehmes Geräusch ergibt), Wäsche faltet oder mit Papier raschelt. Menschen mit Schlafstörungen befinden sich in einem Zustand der

Erregung, zitiert die New York Times den Schlafforscher Carl. W. Bazil von der Columbia University. Und ASMR-Videos sind offenbar eine Möglichkeit, unser Gehirn auszuschalten.

Den New York Times-Artikel hat Maria, der ASMR-Star, natürlich sofort zwischen den sanften Tönen und Berührungen den Fans in ihrem Videoclip vorgelesen. Mit leiser Stimme und dem beruhigenden Streichen mit dem Pinsel. In der Welt des Chaos will ich deine geheime Insel der Erholung und des Friedens sein, beschreibt Marketing-Genie Maria auf YouTube ihr Rollenspiel für Gestresste. Diese empfinden zumeist ein angenehmes Prickeln im Hinterkopf, danach breitet sich warmes Kribbeln im Rücken aus. Wissenschaftler haben noch keine Antwort auf die Frage gefunden, was die Internet-Entspannungs-Gurus mit ihrem Gentle Whispering, dem sanften Flüstern, im Gehirn auslösen. Der US-Neurologe Steven Novella von der Yale University ist allerdings davon überzeugt, dass alltägliche Kleinigkeiten wie wohlige Geräusche Stress abbauen können. Jedenfalls wird es dauern, bis man die Wirkung dieser nebensächlichen Eindrücke auf das Gehirn erforscht haben wird. Noch viel länger wird es dauern, bis man das Wunder Gehirn entschlüsselt hat. 100 Milliarden Nervenzellen kommunizieren in unserem Denkapparat miteinander, die Nervenbahnen sind rund 58 Millionen Kilometer lang – das entspricht einer Strecke, die 145-mal um die Erde führen würde. Obwohl die Hirnforschung  in den letzten Jahren enorme Fortschritte verzeichnen konnte, ist man weltweit skeptisch, dass das Wunder Gehirn schon in naher Zukunft entschlüsselt werden kann.


Das Gehirn wird noch lange ein Rätsel bleiben, Rätsel zu erforschen ist für Wissenschaftler immer spannend. Wie entsteht Bewusstsein, wie werden rationales und emotionales Handeln miteinander verknüpft, was hat es mit der Vorstellung des freien Willens auf sich? Die großen Fragen der Neurowissenschaft zu stellen ist wichtig – dass sie sich aber schon in den nächsten Jahren beantworten lassen, ist aber unrealistisch. Heute versteht man noch nicht einmal annähernd, wie alltägliche Abläufe funktionieren. Was im Gehirn geschieht ist ziemlich weit von der Realität entfernt. Es filtert und gewichtet, sortiert aus und vergisst. Und plötzlich wird aus dem, was man sieht oder hört, liest oder riecht, ein neuer Gedanke, dann ein Plan und schließlich der Befehl zum Handeln. Bis dem menschlichen Denken die großen, letzten Geheimnisse entrissen sein werden, bis man entdeckt hat, welche Codes Nervenzellen benutzen und bis alles über Verstand, Gefühle und Bewusstsein erforscht ist, wird das Gehirn rätselhaft bleiben. Und das ist eigentlich gut so.

Verteiler: Freizeit

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