Donnerstag, April 25, 2024
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Oskar Lafontaine EXKLUSIV: Ja zum Sozialstaat, ja zu Russland, nein zu Erdogan!

Drei Landtagswahlen stehen an, den Anfang macht zunächst das Saarland. Der dortige Linke-Spitzenkandidat ist Oskar Lafontaine. Doch auch auf die Bundesebene hat er weiterhin einen kritischen Blick. Sputnik hat mit ihm EXKLUSIV über einen schwindenden Sozialstaat, die „Narrenfreiheit“ von Präsident Erdogan und das Verhältnis zu Russland gesprochen.

Herr Lafontaine, am 26. März wird im Saarland gewählt. Ein halbes Jahr später erwartet uns dann die Bundestagswahl. Nun sind Sie ein Landespolitiker, der auch mit der Bundespolitik eng verbunden ist. Welchen Termin erwarten Sie mit größerer Spannung?

Beide Termine erwarte ich mit Spannung. Hier im Saarland geht es darum, die Landespolitik der vergangenen Jahre deutlich zu korrigieren. Das heißt, wir brauchen mehr Investitionen in die Infrastruktur, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch zu hoch. In der Bundespolitik geht es um die Herstellung des Sozialstaats und um eine friedliche Außenpolitik.

Nun hat sich das Wahlverhalten in Deutschland verändert, die AfD spielte beispielsweise vor vier Jahren kaum eine Rolle. Im Saarland und auch bundesweit wird sie nun aber wohl den Einzug in die Parlamente schaffen. Bereitet Ihnen das Sorge?

Ja selbstverständlich. Aber wir müssen daraus den Schluss ziehen, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu korrigieren. Der Vorsitzende der IG Metall hat treffend gesagt, die Verunsicherung der Lebenssituation vieler Menschen begünstige die Rechten. Es geht um die Tatsache, dass viele Arbeitsplätze unsicher geworden sind. Und das führt dazu, dass die Menschen oft nicht wissen, ob sie am Monatsende ihre Rechnungen bezahlen können — oder ob sie in wenigen Monaten überhaupt noch Arbeit haben. Also all diejenigen, die eine Verantwortung an der so genannten „Prekarisierung“ des Arbeitsmarktes tragen — und das sind CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne — sind mitverantwortlich für den Aufstieg der AfD.

Innenpolitisch scheint das Wahlkampfthema Nummer eins also die soziale Gerechtigkeit zu sein. Martin Schulz und die SPD konnten damit in den Umfragen deutlich gewinnen. Als Sie im Jahr 1998 mit der SPD im Wahlkampf waren, war das Programm recht weit links angesiedelt. Wo sehen Sie die Sozialdemokraten heute?

1998 war der Wahlsieg der SPD nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass wir ein wirklich soziales Programm hatten — und dass die Menschen uns das geglaubt haben. Umso schlimmer war es ja, dass dann nachher die Agenda 2010 kam. Damit wurden die Menschen wieder im großen Umfang enttäuscht. Heute ist die SPD eine andere Partei. Die führenden Sozialdemokraten befürworten nach wie vor die Agenda 2010 mit ihren Kernproblemen. Da ist einmal die Zumutbarkeit der Arbeit. Heute muss jemand einen Arbeitsplatz annehmen, egal wie schlecht er bezahlt ist und egal welche Qualifikation er hat. Das war vor Jahren ganz anders.

Und zweitens gibt es einen großen Druck, Arbeit wieder aufzunehmen, wenn das Vermögen sowieso sehr gering ist. Wenn zum Beispiel ein älterer Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz verliert, dann hat er gleich auch Angst davor, nach einem Jahr sein Haus verkaufen zu müssen, um überhaupt Hartz IV zu bekommen. Solche Bestimmungen bedeuten eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von Millionen von Menschen. Deshalb ist nur zu hoffen, dass die Sozialdemokratie umdenkt und erkennt, dass die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft ein stabiler Sozialstaat ist.

Einige Beobachter sprechen in diesem Jahr von einem „Wahlkampf der Populisten“. Damit ist nicht nur die AfD gemeint, sondern auch Martin Schulz und ebenso die Linke mit Sahra Wagenknecht. Ist dies der angespannten politischen Situation in allen Lagern geschuldet?

Es ist mehr eine Modeerscheinung, dass sich die Politiker gegenseitig Populismus vorwerfen. Wenn man die Betreffenden dann fragt, was sie genau unter Populismus verstehen, dann erntet man in der Regel ein Gestammel. Ich finde, man muss immer auch so argumentieren, dass die Menschen einen verstehen. Also man muss „populär“ argumentieren. Man darf eines aber natürlich nicht tun: Auf der Grundlage von Lügen Stimmung machen.

An wem könnte eigentlich ein rot-rot-grünes Bündnis nach der Bundestagswahl am ehesten scheitern: An der Schulz-SPD, Ihrer Partei, oder an den langsam ins konservative Lager steuernden Grünen?

Jede Partei hat ihre Positionen. Und wir sagen immer: Wenn es keine wirkliche Wiederherstellung des Sozialstaats gibt — also nicht nur kleinste Korrekturen — dann können wir uns nicht an der Regierung beteiligen. Das geht in erster Linie an die Adresse der SPD, aber in zweiter Linie natürlich an die Grünen. Denn die grünen Spitzenkandidaten halten die Agenda 2010 auch weiterhin für richtig.

Und zweitens wollen wir eine friedliche Außenpolitik. Da sind die Grünen ein größeres Problem, da die beiden Spitzenkandidaten beispielsweise eine Flugverbotszone in Syrien befürwortet haben, oder teilweise auch über Bodentruppen reden. Auch tragen sie die konfrontative Politik gegenüber Russland mit. Da ist es erfreulich, dass die Sozialdemokraten zumindest mit Worten — noch nicht mit Taten — an die Entspannungspolitik Willy Brandts anknüpfen wollen. Unabhängig davon, wie man zu den Systemen steht, muss eines für die deutsche Politik klar sein: Wir brauchen nicht nur gute Verbindungen zu den USA, wir brauchen auch immer gute Verbindungen zu Russland. Das ist im deutschen und im europäischen Interesse.

Lassen Sie uns thematisch bei der Außenpolitik bleiben: Da beschäftigen uns nicht nur Russland oder die Flüchtlingskrise. Aktuell macht uns auch das Verhältnis zur Türkei zu schaffen. Der türkische Präsident Erdogan droht offen mit einem Aufstand. Ist das eine neue Eskalationsstufe?

Das ist auf jeden Fall eine Eskalation. Wobei man sehen muss, dass das Hauptproblem die Entwicklung in der Türkei ist. Es gab natürlich auch Fehler der europäischen Gemeinschaft. Sicherlich war es auch ein Fehler Deutschlands, dass man der Türkei zu lange falsche Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft gemacht hat. Aber wenn man jetzt sieht, wie die Demokratie in der Türkei mehr oder weniger abgeschafft werden soll, tausende Menschen in den Gefängnissen gelandet sind, eine freie Presse gar nicht mehr möglich ist, dann muss man der Türkei ganz deutlich sagen, dass diese Politik von uns abgelehnt wird. Und man muss auch deutlich sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Arena für Wahlkämpfe sein kann, in der die Abschaffung der Demokratie befürwortet wird.

Würden Sie Herrn Erdogan im Saarland auftreten und dort Werbung für das Präsidialsystem machen lassen?

Ich halte das für falsch. In Deutschland ist häufig die Rede von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und daraus ergibt sich, dass man niemanden auftreten lassen kann, der sich als Propagandist oder Prophet gegen diese Grundordnung wendet — auch keinen Staatspräsidenten Erdogan.

Aber wäre ein Auftrittsverbot nicht Wasser auf die Mühlen Erdogans, der unsere Demokratie bereits als falsch und nationalsozialistisch bezeichnet hat?

Wir können Herrn Erdogan nicht jede Narrenfreiheit einräumen. Ich kenne keine anderen Präsidenten, die hier in Deutschland auftreten und Wahlkampf machen wollen. Das ist ja auch eine völlig unübliche Vorgehensweise. Man stelle sich nur einmal vor, was für ein Geschrei in Deutschland losginge, wenn Herr Putin eine Wahlveranstaltung für die russischen Aussiedler hierzulande anberaumen würde.

Egal ob innen- oder außenpolitisch, viele Experten sehen Deutschland und Europa im Jahr 2017 in einer großen Krise. Häufig wird ein sehr düsteres Bild von der Zukunft gezeichnet. Schließen Sie sich diesem Pessimismus an, oder ist das Glas eher halb voll, als halb leer?

Ich halte nichts davon, große Krisenszenarien zu verbreiten. Ich habe die Fehler in der gesellschaftlichen Entwicklung genannt und auch die Fehler in der Außenpolitik. Ich bin immer dafür, dass wir in die Zukunft schauen und die Fehler zu überwinden versuchen. Ich halte das in der sozialen Entwicklung unseres Landes für möglich: Wir können die Agenda 2010 rückabwickeln und wir können den Sozialstaat wiederherstellen, so wie er jahrzehntelang hervorragend funktioniert hat, ohne dass die Wirtschaft deshalb schwächelte.

Wir können andererseits an die Außenpolitik Willy Brandts anknüpfen, die auf Frieden und Ausgleich setzte. Und nicht zuletzt müssen wir auch daran anknüpfen, dass Brandt gesagt hat: „Lasst uns nicht aufrüsten, lasst uns abrüsten und das Geld für die Hungernden verwenden“. In Afrika verhungern Menschen, wir sehen tatenlos zu und quatschen über Aufrüstung.

Interview: Marcel Joppa 

Quelle: https://de.sputniknews.com/politik/

 

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