Mittwoch, April 24, 2024
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„Phantomzeit-Theorie“ und „Erfundenes Mittelalter“: Lüge der Menschheitsgeschichte?

Karl der Große war im Mittelalter ein mächtiger Herrscher mit großem Einfluss auf die weitere Entwicklung Europas. Was aber, wenn der Frankenkönig in Wahrheit nie gelebt hat? Die These vom erfundenen Mittelalter hält sich hartnäckig. Was hat es damit auf sich?

Karl der Große ist eine der schillerndsten und mächtigsten Figuren des Mittelalters. Von 768 bis 814 war er König des Fränkischen Reichs und dehnte es unter seiner Herrschaft weiter aus. Die bis dato heidnischen Sachsen bekämpfte der Karolinger in langwierigen Kriegen und zwang sie schließlich zur Christianisierung. Mit dem Sieg über die Langobarden zementierte er seine Macht.

Der erste abendländische Kaiser des Mittelalters

Auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft wurde Karl zum ersten abendländischen Kaiser des Mittelalters gekrönt. Damit dokumentierte er seine Vorherrschaft in Europa. Aus dem Frankenreich gingen später Frankreich und Deutschland hervor, auch deshalb wurde Karl der Große rückwirkend „Vater Europas“ genannt.

Kulturell kam es unter dem Frankenkönig zu einem Aufschwung. Karl der Große ließ unter anderem eine einheitliche Schriftart, den karolingischen Minuskel, einführen, Schulen bauen und Buchkopien zahlreicher antiker Schriften anfertigen. Aachen wurde sein Herrschaftssitz. Hier starb der mächtige Herrscher und Reformer am 28. Januar 814.

Hat er gar nicht gelebt?

Vorausgesetzt, er hat überhaupt jemals gelebt. Die These, dass genau dies eben nie der Fall war, ist weiterhin im Umlauf. Ist unser Schulwissen über ihn also nichts als reine Fiktion? Sind wir alle eine der größten Lügen der Menschheitsgeschichte aufgesessen?

Ja, sagt der deutsche Publizist und Verleger Dr. Heribert Illig, der Urheber des Verdachts. Er behauptet nicht nur, Karl der Große habe nie existiert, der Mann will gleich 297 Jahre komplett aus der Geschichte streichen.

Auf das Jahr 614 sei das Jahr 911 gefolgt, so die abenteuerlich wirkende These aus Illigs 1996 erstmals erschienenem Bestseller „Das erfundene Mittelalter“. Die sogenannte Phantomzeit-Theorie hat seitdem immer wieder Anhänger gefunden. Sie besagt, dass der genannte Zeitraum erst im Nachhinein mit erfundenen geschichtlichen Aussagen und Akten aufgefüllt worden sei.

Doch wer hätte überhaupt ein Interesse an diesem Unterfangen gehabt? Und wer die Möglichkeit, es umzusetzen?

 

Nur wenig archäologische Funde

Illig sieht die Urheber in den Kaisern Konstantin VII. und Otto III. sowie Silvester I. Otto (Kaiser 996-1002) wollte nach alter christlicher Rechnung 6.000 Jahre nach Schöpfung den siebten Welttag als Stellvertreter Jesu Christi einläuten. Der von ihm inthronisierte Papst (999-1003) half ihm als Kenner auch der arabischen Astronomie und Mathematik.

Hinzu kam, dass Ottos Mutter vom byzantinischen Hof abstammte, und damit eine Verbindung zum dortigen Kaiserhaus bestand. Byzanz brauchte ebenfalls hinzugefügte Zeit, da die Perser 614 das Kreuz von Golgotha, die wichtigste Reliquie der Christenheit, unwiederbringlich geraubt hatten. Nur innerhalb erfundener Zeit ließ sich das Rückgewinnen des Kreuzes erzählen und begründen.

Zudem wurden in allen Kulturkreisen heimlich die Bezugspunkte der Jahreszählungen verändert; die Zeit wurde „im Namen Gottes“ manipuliert, wovon nur Eingeweihte wussten. Die Byzantiner wechselten von 1014 Seleukidenära auf 6508 Schöpfungsära, die Christen im Westen von 419 Märtyrerära auf 1000 n. Christi Geburt; die Juden stellten von 1014 Seleukidenära auf 4464 nach Erschaffung der Welt um.

Die leere Zeit musste gefüllt werden, und so erfanden Otto und Silvester Geschichten und einen besonders großen Kaiser Karl, auf den sich Otto genauso beziehen konnte wie das Papsttum, das ihn gekrönt und gesalbt hätte.

Dieser Karl erhielt mit dem 25.12.800 einen Krönungstag, der schon 497 Jahre früher als Beginn des letzten Welttages errechnet worden war. Karl erfüllte demnach dieselbe Bedingung wie Otto, „wobei die Krönung des erfundenen Karls hinter dem Jahrtausendkaiser Otto zurückstehen sollte“ (Illig).

Der Idealisierung Karls des Großen wurde von Otto III. bis Friedrich II. so weit vorangetrieben, dass eine reale Person kaum noch dahinter stehen konnte. An anderen Orten entstanden weitere Geschichten, etwa um den ebenfalls fiktiven Zeitgenossen Karls, Harun al-Raschid (dem Erfinder der „Märchen aus 1001 Nacht“). „So hat sich das Mittelalter zu einem Teil selbst erfunden“ (Illig).

Um seine These zu untermauern, führt Illig scheinbare Belege aus Disziplinen wie der Astronomie, der Kunstgeschichte, der Archäologie und der Literaturwissenschaft an. Der Aachener Dom, so Illig, könne beispielsweise gar nicht aus der Karolingerzeit stammen, die steinerne Kuppel müsse wegen ihrer Bauweise eindeutig jünger sein.

Generell gäbe es nur sehr wenige bauliche Zeugnisse und archäologische Funde aus den von ihm angezweifelten Jahrhunderten.

Ist so eine Behauptung vermessen? Die anerkannte Geschichtswissenschaft hält von der These jedenfalls nichts. Und tatsächlich scheint es kaum vorstellbar, dass dieses Vorhaben flächendeckend und nachhaltig in die Tat hätte umgesetzt werden konnte, ohne dass eine Quelle je die Lüge aufgedeckt hätte.

Von Mediävisten wurde Illig erst mit Hohn und Spott überschüttet und dann mit Nichtbeachtung gestraft. Der Hauptvorwurf an ihn: Er ignoriere historische Quellen, die nicht zu seinem Lebensthema passen, bewusst.

 

Gibt es einen wahren Kern?

Eins jedoch scheint sicher: Eine rein objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht. Die Aussagen von Zeitzeugen und Geschichtsschreibern sind stets subjektiv eingefärbt. So schreibt beispielsweise die Universität Konstanz: „Eines der vielleicht wichtigsten Probleme ist für den Historiker dabei, dass er die Geschichte erinnerungstheoretisch rekonstruiert, zugleich aber selbst als Individuum in einem lebensgeschichtlichen Kontext mit seinem Thema steht.“

Um sich nicht nur auf die Aussagen von Zeitzeugen zu verlassen, zieht die Geschichtswissenschaft zahlreiche weitere Disziplinen, wie etwa die Astronomie oder die Archäologie, zu Rate.

„Im Rahmen aller Untersuchungsöffnungen können wir übrigens festhalten, dass die Eisenringanker oder Eisenklammerringanker alle satt im karolingischen Mörtel lagen, also im Zusammenhang mit dem Aufmauern eingebaut worden sind.“ Soweit der Befund des Dombaumeisters. Die entscheidende Frage, ob dies für die Aachener Pfalzkapelle vor 800 oder nach 1100 der Fall war, ist nunmehr geklärt.

Ein klarer ‚eisenharter‘ Beweis durch Dr. Heribert Illig, der seit nunmehr über 25 Jahren die These vom erfundenen Mittelalter vertritt und gegen alle Widerstände stetig untermauert.

Sein Beweisgang beschränkt sich nicht auf die Aachener Pfalzkapelle, das Herz von Karls Residenz und von Karls Reich, sondern bezieht Aachen, Köln, Ingelheim und weitere „karolingische“ Fundorte ein.

Für den führenden französische Historiker Le Goff eine rätselhafte Periode „in der das Nachdenken über das Jenseits anscheinend stagnierte“.

Zwischen Columbanus (604, Vogesen) und den Kartäusern (1084) wird merkwürdigerweise kein Mönchsorden gegründet. Wenig später wieder schlagartig: Franziskaner, Klarissinnen, Dominikaner, Servioten, Tertianer, Cölestiner, Augustiner. Auffallend ist auch, dass die letzten Mosaike der Antike im 6. Jahrhundert n.Chr. verlegt werden, zum Beispiel im Katharinenkloster (Berg Sinai). Dann erst wieder 1018 in Venedig. Ist diese Baukunst in der Zwischenzeit verlernt worden?

Wenn auch die Altersbestimmung mit der C-14-Methode nicht immer exakt ist, so belegt sie doch zusammen mit der Dendrochronologie (Altersbestimmung durch Zählung der Jahresringe von Bäumen) die klassische Geschichtsschreibung, was freilich von dem Autor Uwe Topper, einem weiteren Chronologiekritiker, ebenfalls bezweifelt wird.

Die Auseinandersetzung mit der Theorie des „fiktiven“ Zeitalters wird wohl weitergehen. Und auch wenn Illig mit seinem erfundenen Mittelalter nicht recht behalten sollte, so hat er doch zumindest eine lebhafte Diskussion um das Selbstverständnis von Geschichtsschreibung in Gang gesetzt und die Frage angestoßen, ob die Idealisierung Karls des Großen nicht relativiert werden muss.

Literatur:

Geschichte, Mythen, Katastrophen: Über Velikovsky hinaus von Heribert Illig

Das Rätsel der Donauzivilisation: Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas von Harald Haarmann

Die Chiemseeklöster: Neue Sicht auf alte Kunst von Heribert Illig

Göbekli Tepe von Andrew Collins

Beitragsbild: PublicDomain/Freenet/Web/Dr. Heribert Illig

Quellen: PublicDomain/Freenet/Web/Dr. Heribert Illig am 29.01.2017

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