Donnerstag, April 18, 2024
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Pornos schauen mit Pfarrer: Früherer Domspatz erzählt SPUTNIK vom grauenhaften Alltag

Pornos, Alkohol und sexueller Missbrauch durch Geistliche auf der einen Seite, eiserne Disziplin mit harter körperlicher Gewalt auf der anderen Seite – so schildert ein Domspatz die zurückliegenden Erfahrungen. Die Eltern hätten kaum etwas getan, die Kirche lange Zeit alles daran gesetzt, das Geschehene zu vertuschen.

Insgesamt 547 Fälle von Kindermissbrauch und Gewalt gegen Kinder haben in den Untersuchungsbericht zu Missbrauchsfällen an den Regensburger Domspatzen gefunden, der am Dienstag erschienen ist. 500 Kinder waren dem Bericht zufolge von körperlicher, 67 von körperlicher und sexueller Gewalt betroffen.

Einer von ihnen war Alexander Probst, der in den 70er-Jahren vom Missbrauch betroffen war. Er hat sich aktiv an der Aufarbeitung beteiligt, ist Vertreter und Sprecher betroffener Domspatzen und erzählt im Sputnik-Interview von seinen Erfahrungen.

„Es war eine Zeit, die in erster Linie von Angst geprägt war von Verlassensein – denn man hatte ja niemanden mehr“, erklärt er. „Man war umgeben von Menschen, die anstelle der Fürsorge eine eiserne Disziplin verlangten.“

Die Prügelstrafe habe an der Tagesordnung gestanden, für Kleinigkeiten sei man verprügelt worden. „Alleine schon für fröhliches Kindsein gab es Ohrfeigen“, erzählt Probst. Auch mit Stöcken und anderen Gegenständen sei man geschlagen worden.

„Das war echte Körperverletzung, für die es außerhalb dieser Institute mit Sicherheit Gefängnisstrafen gegeben hätte“, stellt Probst fest. Und:  „Diese fortgesetzte schwere Körperverletzung ist jeden Tag passiert.“

Der Domspatz erzählt offen, dass er nicht nur Opfer körperlicher Gewalt gewesen sei: „Ich wurde missbraucht. Wir „durften“ Pornofilme angucken, rauchen, essen, Alkohol trinken und wurden dann – ich jedenfalls von einem bestimmten Präfekten – jeden Abend auf dem Zimmer besucht.“ Obwohl sich in dem Zimmer drei weitere Domspatzen befunden hätten, habe der Präfekt sich an Probst sexuell vergangen.

Für Probst steht fest: Das waren keine Einzeltäter. „Es ist systematische Gewalt gewesen“, sagt er fest. Dazu brauche man nur den Bericht aufmerksam zu lesen, dann würde man feststellen, dass Internatschule und Musik immer wieder zusammengearbeitet hätten – und die betreffenden Personen.

„Wenn man sich vorstellt: Es waren 50 verschiedene Täter und die waren jahrelang dort – dann ist System zu erkennen“, so Probst.

Was der Betroffene überhaupt nicht verstehen kann, ist die Bagatellisierung dieser zurückliegenden Gewalt durch Kirche und Gesellschaft. „Heute wird so getan als ob, wenn man das den Kindern angetan hat, das nicht so gewesen wäre“, so Probst.

Warum aber die Kinder sich nicht beschwert hätten, erklärt er so: „Denken Sie einmal an Gefängnisse oder an Konzentrationslager, an Systeme, die komplett geschlossen sind, wo weder Eindringen noch Flucht möglich ist.“ In so einem System hätte man überleben müssen, man habe Angst um sein Leben gehabt und insofern hätten die Kinder mit niemanden darüber gesprochen, zumal sie gewusst hätten, dass niemand ihnen Glauben schenken würde.

Viele andere Domspatzen hätten in Übereinstimmung mit Probst den Aufenthalt mit „Hölle“ und noch schlimmeren Namen betitelt. Und die meisten wären auch nicht länger als drei oder vier Jahre dageblieben. Manchmal hätten sich die Kinder an ihre Eltern gewandt, in den meisten Fällen aber seien die schulischen Leistungen aufgrund der Erfahrungen rapide gesunken – manchmal auch mit einer stillen Absicht der Kinder: „Das ist ja auch eine Möglichkeit, wie sich ein Kind einigermaßen rausziehen kann aus der Affäre, indem es keine schulischen Leistungen bringt“, erklärt Probst.

Und auch wieder in Freiheit gab es noch viel zu bewältigen:

„Die Menschen sind ganz unterschiedlich mit den Erfahrungen umgegangen“, sagt er. „Zum einen wurde ihnen sehr lange psychologische Hilfe versagt, weil man geglaubt hatte, die Leute müssten selbst damit fertig werden.“

Manche hätten das auch geschafft, wie Probst selbst. Andere hätten erst jetzt Hilfe bekommen und ganz andere seien fürs Leben gezeichnet und teilweise nicht in der Lage, Hilfe zu fordern. „Wenn man sie nicht darauf stoßen würde, dass es sie gibt, dann gehen diese Leute zugrunde“, bemerkt er.

Doch warum kommt das alles erst jetzt richtig auf? Warum hat die Gesellschaft, allen voran die Eltern, so wenig unternommen? „Die Eltern waren die, die sich am wenigsten beschwert haben“, sagt der ehemalige Domspatz trocken. Und die Printmedien seien damals auch nicht geeignet gewesen, auf solche Missstände hinzuweisen: „Es gab in den 50er-, 60er und 80er-Jahren schon ein paar Zeitungsartikel, aber die sind verraucht. Das Problem ist ja damals gewesen, dass die Medien nicht nachhaltig waren.“ Deswegen habe er sich auch erst 2010 an die Öffentlichkeit gewandt, als er wusste, dass die Artikel leicht verbreitet und erhalten bleiben würden.Zu den Zahlen des Untersuchungsberichts sagt der Betroffene, dass er glaubt, es würden sich noch einige Domspatzen melden und zu den 547 noch welche hinzukommen. Die Dunkelziffer von 700, die der mit dem Bericht betraute Rechtsanwalt Ulrich Weber nennt, hält Probst dagegen „für etwas zu tief gegriffen“.

Was die Mitarbeit der Kirche bei der Aufarbeitung angeht, sagt der Ex-Domspatz zu den letzten beiden Jahren: „Ich weiß nicht, ob es noch viel besser geht.“ Das sei aber nicht immer so gewesen: „Die ersten fünf Jahre war es dramatisch schlecht. Man hat versucht, die Sache auszusitzen.“ Zur Zeit des damaligen Bischofs von Regensburg Gerhard Ludwig Müller sei „das Ganze nichts anderes als ein Vertuschen und ein Opfer-zu-Tätern-Machen“ gewesen, „eine Qual für jeden, der das in irgendeiner Form erleiden musste.“

Valentin Raskatov

Das komplette Interview zum Anhören:

Beitragsbild: © AFP 2017/ DPA/Armin Weigel

Quelle: Sputnik Deutschland

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