Freitag, März 29, 2024
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Selma: Marsch ins amerikanische Herz


Am 7. März 1965 schlugen Polizisten den ersten Marsch von Selma brutal nieder. Doch am Ende triumphierten die US-Bürgerrechtler. 50 Jahre danach ringt der Ort um eine neue Identität.

 
Reginald Moore ist wieder auf der Brücke. Und er erzählt, als wäre es erstFehler, Gruppe existiert nicht! Überprüfen Sie Ihre Syntax! (ID: 3) gestern gewesen: Über die Edmund Pettus Bridge zogen Tränengaswolken, als wären es Nebelschwaden überm Alabama River. Polizisten schlugen mit Billy Clubs, schweren Knüppeln, auf fliehende

Menschen ein. Am schlimmsten waren die Polizisten auf Pferden, die dem Burschen vorkamen wie apokalyptische Reiter aus einem Horrorfilm. Reginald Moore war damals zehn. Er saß im Auto neben seinem Großvater, der beschlossen hatte, dem Chaos zu trotzen und über den Fluss nach Selma zu fahren. "Granddad sagte: 'Hab keine Angst, wenn sie uns angreifen, dann schieße ich, dir wird niemand was tun.' Aber er hatte ja nur sechs Patronen in seinem Revolver."

Reginald schaffte es bis nach Hause an jenem 7. März 1965. Der Schock saß tief, doch verletzt wurde er nicht, zumindest nicht körperlich. Bis heute trägt er die Bilder des "Bloody Sunday" mit sich herum, nicht nur im Gedächtnis, sondern auch gespeichert auf seinem Smartphone. Historische Motive von Fotografen, die für ihn eine sehr persönliche Bedeutung haben.

Eines zeigt seine Mutter, Margaret Moore, Lehrerin für Englisch und Geschichte. Erschöpft steht sie hinter einem Strommast, benebelt vom Gas. Sie blickt auf eine Kolonne von Streifenwagen, dahinter erkennt man die Helme der State Troopers, der berüchtigten, brutalen Polizeibeamten Alabamas. Es sind körnige Bilder, aufgenommen nach der Prügelorgie. Irgendwann war Reginalds Mutter zurück in ihrer Kirche, Brown Chapel, wo der Theologiestudent John Lewis zu den Versammelten sprach, obwohl er einen blutigen Verband am Kopf trug. Lewis ist heute Kongressabgeordneter, und nach Margaret Moore ist ein Anbau des Gotteshauses benannt. Sieger der Geschichte.

Schlüsselmoment der US-Geschichte

An dem Tag haben sie ihre vollen Bürgerrechte erkämpft, die 600 Demonstranten, die in Zweierreihen über die Brücke marschierten, bis ihnen ein blauer Block von Uniformierten den Weg nach Montgomery versperrte, in die Hauptstadt Alabamas, gut 80 Kilometer entfernt. Als die Troopers knüppelten, lief im Fernsehen gerade Das Urteil von Nürnberg, ein Gerichtsdrama über die Kriegsverbrecherprozesse. Der Sender ABC unterbrach sein Programm, um nach Selma zu schalten, sodass 48 Millionen Amerikaner an den Bildschirmen zusahen, wie der Polizistenmob wütete. 50 Jahre danach hat sich Hollywood mit dem Politdrama Selma dieses Schlüsselmoments in der amerikanischen Geschichte angenommen.

Es war ein Moment, der das Land veränderte. Präsident Lyndon B. Johnson setzte den Voting Rights Act durch, womit das Wahlrecht für schwarze Amerikaner, theoretisch garantiert seit dem Ende des Bürgerkriegs, nicht mehr nur auf dem Papier stand. Was immer sich weiße Rassisten an Tricks einfallen ließen, um es auszuhebeln – eine Wahlsteuer, willkürliche Lesetests: Es galt nun nicht mehr. Ja, sagt Moore, das sei erreicht, aber sonst gehe wenig voran in Selma. Er habe das Gefühl, als sei die Uhr stehengeblieben. Als Beispiel nimmt er die Schulen. In den 1960ern, in denen er die Schulbank drückte, wurden sie integriert, das heißt, Schwarze und Weiße saßen erstmals im selben Klassenzimmer. "Niggers, go home!", skandierten die Unverbesserlichen. Das Geschrei hat er nie vergessen. "Und heute ist die Rassentrennung zurückgekehrt, nur eben übers Geld und nicht per Gesetz." Weiße Kids gehen auf private Schulen, schwarze auf staatliche.

Gott gegen Gewehre

Brown Chapel liegt in einer Armensiedlung. Vor den schlichten Sozialbauten der George Washington Carver Homes, zwei Stockwerke, Klinkerfassade, lehnen junge Männer am Zaun und wissen nicht, wie sie die Zeit Totschlagen sollen. Drinnen handelt die Predigt des Pfarrers von der Überlegenheit gewaltfreier Proteste. "Eine Armee mit der seltsamen Strategie zivilen Ungehorsams, eine Armee von Turnschuhsoldaten, zieht los gegen Troopers, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Gott gegen Gewehre", ruft Leodis Strong mit dröhnendem Bariton. Der Status quo habe bekanntlich verloren, trotz der Knüppel, der Peitschen, der Kavallerie. Wer für etwas kämpfe und in schweren Stunden zu zweifeln beginne, der möge an Selma denken.

In der dritten Reihe sitzt Zenobia Robertson. Mit 17 ist sie über die Brücke auf den blauen Block zumarschiert, trotz ihrer Angst, im Alabama River zu landen und als Nichtschwimmerin zu ertrinken. Zwei Wochen später marschierte sie erneut, diesmal – beschützt von Soldaten und Nationalgardisten, mit Martin Luther King an der Spitze – ungehindert in Richtung Montgomery. Es war kalt, es nieselte, Zenobia kam nur bis zum Zeltlager auf Rosie Steeles Farm. "Dort bin ich umgekehrt, wir hatten ja bewiesen, was zu beweisen war", sagt die pensionierte Lehrerin mit ruhiger Stimme.

An der Broad Street reihen sich leere Läden an solche, deren Besitzer sich gerade noch über Wasser halten. "One Way Bookstore": die Fenster mit Sperrholz verrammelt. "Cahaba Furniture": draußen ein Schild – "Zu vermieten". Selmas Hauptstraße ist heruntergekommen, hier hat sich wiederholt, was etlichen Kleinstädten zwischen Kalifornien und Maine widerfuhr. Seit es am Ortsrand einen Wal-Mart-Supermarkt gibt, kaufen die Leute fast nur noch dort ein. Selma steckt in der Krise, ein Drittel der 18.000 Bewohner lebt in Armut, ein Fünftel der Erwerbsfähigen ist Arbeitslos.

Apathie und chinesische Investoren

Früher gab es in der Nähe eine Luftwaffenbasis: Craig Field. Als sie 1977 geschlossen wurde, brach Selmas größter Arbeitgeber weg. Nun träumt Bürgermeister George Evans davon, dass Investoren aus China helfen, das Ruder herumzureißen. Nebenan, im Wilcox County, hat ein chinesischer Hersteller von Kupferrohren eine Fabrik aufgemacht, der erste Silberstreif seit langem. Im Übrigen macht sich Evans, der zweite schwarze Mayor in der Geschichte der Stadt, Sorgen wegen der Wählerapathie. Bei der Kongresswahl im November lag die Wahlbeteiligung in Dallas County, dem Landkreis, in dem Selma liegt, bei gerade einmal dreißig Prozent. "Ausgerechnet hier", sagt Zenobia Robertson. "Wir müssen den Jungen wohl beibringen, was wir für dieses Recht alles durchmachen mussten."

Faya Touré sitzt zwischen Papierstapeln an einem sehr langen Tisch. An den Wänden afrikanische Königinnen, gemalt in Öl. Im Büro der Rechtsanwältin jagt eine Beratung die andere, es gibt viel zu besprechen, denn zum runden Jahrestag kommt Barack Obama nach Selma – und mit ihm an die hundert Kongressabgeordnete, so viele wie bei keinem Jubiläum zuvor. Für Faya Touré, die ein Netzwerk von Graswurzelaktivisten organisiert, werden es schwierige Tage, es wird eine Gratwanderung. Wann immer es heißt, ein Obama im Oval Office sei doch das beste Beispiel dafür, wie sich Amerika ändere, muss sie Einspruch erheben. "Nicht bei uns! Nicht im tiefen Süden!"

Faya Touré hieß Rose Sanders, bevor sie beschloss, den Namen ihrer versklavten Vorfahren abzulegen. Nach dem Jusstudium in Harvard gründete die Pfarrerstochter eine Anwaltskanzlei, ihr Ehemann Hank sitzt im Senat von Alabama. Und wegen der Sache mit Nathan Bedford Forrest ist sie vor ein paar Monaten in Handschellen abgeführt worden.

Ehrenmal für den Ku-Klux-Klan

Forrest, erst Bürgerkriegsgeneral, dann Anführer des Ku-Klux-Klan, symbolisiert den alten Süden mit seinem Rassendünkel. Als seine Verehrer auf dem Live-Oak-Friedhof von Selma eine Büste zu seinen Ehren aufstellen wollten, entbrannte heftiger Streit, mit Faya Touré an der Spitze der Opposition. Es endete damit, dass der Gemeinderat entschied, den "Friends of Forrest" Friedhofsland zur Verfügung zu stellen. Wohlgemerkt, ein Rat, in dem Afroamerikaner die Mehrheit bilden. Als Faya Touré in der entscheidenden Sitzung Protest anmelden wollte, holte der Bürgermeister die Ordnungshüter, um sie festnehmen zu lassen. "Nochmal: Es war ein schwarzer Amtsträger, der mich hinter Gitter brachte", wettert die Juristin und setzt zu einem Grundsatzreferat an.

Die Urenkel der Sklaven, lautet dessen Quintessenz, hätten das Erbe der Sklaverei nicht überwunden. Noch immer niste in vielen Köpfen der Gedanke, Weiße seien überlegen, Weißen sollte man nicht widersprechen, "der ganze Unsinn der vergangenen 400 Jahre". Ergo dulde ein dunkelhäutiger Bürgermeister ein Denkmal für den Klan – statt zu sagen, nein, auf keinen Fall, das sei ja so, als würde man einem Nazi in Deutschland ein Denkmal widmen. "Wir sollen vergessen und verzeihen, was man uns angetan hat. Was wir aber brauchen, ist schwarzes Selbstbewusstsein."

(Frank Herrmann, DER STANDARD, 28.2.2015)

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