Mittwoch, April 24, 2024
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Tafeln als „Ausputzer der Nation“ – Politik versagt bei millionenfacher Armut

Millionen Menschen leben in Deutschland in Armut. Immer mehr von ihnen nehmen die Angebote der seit 25 Jahren bestehenden „Tafeln“ in Anspruch. Darauf haben Barbara Eschen von der Nationalen Armutskonferenz und Antje Trölsch von der Berliner Tafel am Dienstag aufmerksam gemacht. Sie sehen die Politik in der Pflicht, die Lage zu ändern.

Autor: Tilo Gräser

13,6 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen. Sie machen etwa 16,5 Prozent der Gesamtbevölkerung von derzeit 82,6 Millionen Menschen in diesem Land aus. Auf diese Tatsache in einem der reichsten Länder der Erde wies Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz (NAK), am Dienstag in Berlin erneut hin. Vor ausländischen Medienvertretern erläuterte sie gemeinsam mit Antje Trölsch von der Berliner Tafel, was Armut hierzulande bedeutet.

„Armut ist nicht nur die Frage, wie kann ich überleben, sondern wie kann ich in der Gesellschaft, zu der ich gehöre, überleben.“ So werde Armut in Deutschland und in der Europäischen Union (EU) insgesamt definiert, erklärte NAK-Sprecherin Eschen. Deshalb werde eher von „Armutsgefährdung“ gesprochen.

Viele Wege in die Armut

Die Grenze dafür werde mit der 60-Prozent-Formel errechnet. Damit wird angegeben, wie hoch 60 Prozent des sogenannten Median-Einkommens sind. Wer weniger verdient, gilt als armutsgefährdet. Aktuell liegt die Grenze laut Eschen für Alleinlebende in Deutschland bei 1064 Euro im Monat und für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2230 Euro.

Essener Tafel-Logo auf dem Auto (Archiv)
© AFP 2018/ Patrik STOLLARZ

Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben, sagte die NAK-Sprecherin, die auch Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ist. So hätten „nicht wenige Menschen“ sehr geringe Einkommen trotz Arbeit. Es treffe auch zunehmend Rentner und Menschen, die krank werden oder chronische Krankheiten haben, wie sie im Interview mit Sputnik ergänzte.Große Sorgen würden ihr und den an der NAK beteiligten Wohlfahrtsorganisationen jene EU-Bürger bereiten, die meist aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland kommen und nicht abgesichert sind. Sie seien oft unter falschen Voraussetzungen gekommen oder hergelockt worden. „Wenn sie kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis eingehen können und dann in Not geraten, bekommen sie gar nichts“, hob Eschen hervor.

von links: Barbara Eschen (NAK) und Antje Trölsch (Berliner Tafel)
© Sputnik/ Tilo Gräser, von links: Barbara Eschen (NAK) und Antje Trölsch (Berliner Tafel)

Gesellschaftlicher Anspruch nicht eingelöst

Mit Blick auf die Hartz-IV-Regelsätze erklärte sie, dass diese aus Sicht der NAK nicht ausreichend sind und unter dem Existenzminimum liegen. Die Berechnungsgrundlagen hätten in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass die Regelsätze nach unten gedrückt wurden. Bestimmte Bedarfspositionen seien herausgerechnet worden. Das sei auch damit begründet worden, so Eschen, dass, „wer kein Geld hat und kein Geld verdient, dem steht das nicht zu“. Die Höhe der Regelsätze sei zudem an den unteren Einkommensschichten ausgerichtet worden, also an jenen, die schon wenig haben.

Die NAK habe festgestellt, dass der Regelsatz um 70 bis 150 Euro höher sein müsste. Zur Zeit liegt er für eine erwachsene Person bei 416 Euro im Monat. Eigentlich habe in der Bundesrepublik gegolten: „In unserer Gesellschaft soll derjenige, der arm ist, so aufgefangen werden, dass er eine Wohnung hat, die heizen kann, dass er Kleidung hat, dass er sich gut ernähren kann, aber dass er auch Bildung hat und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.“ Das sei aber nicht mehr gegeben und „besonders schwierig für die Kinder“, betonte die NAK-Sprecherin.

Wachstum der Tafeln

Viele der von Armut bedrohten und betroffenen Menschen würden inzwischen die Hilfe der Tafeln in Anspruch nehmen. Das bestätigte gegenüber den ausländischen Korrespondenten Antje Trölsch. Sie ist Geschäftsführerin der Berliner Tafel, der ersten der vor 25 Jahren gestarteten Organisationen dieser Art bundesweit. Etwa 125.000 Menschen würden in der Hauptstadt monatlich von den über 40 Ausgabestellen allein der Berliner Tafel sowie über soziale Einrichtungen anderer Organisationen mit Nahrungsmitteln unterstützt.

„Wir unterstützen, wir versorgen nicht“, stellte Trölsch klar. Nicht weil die Tafeln existieren, würden immer mehr Menschen deren Angebote wahrnehmen, sondern weil immer mehr bedürftig seien, betonte sie. Zu den Vorfällen bei der Essener Tafel, die Migranten zeitweilig ausgeschlossen hat, erklärte sie: „Bei uns werden keine Nationalitäten erfasst.“ Es werde nur die Bedürftigkeit der Menschen geprüft, die zur Tafel kommen. Dazu müssen diese einen Beleg dafür vorweisen, dass sie unter anderem Hartz-IV-Leistungenoder eine geringe Rente beziehen oder einen Asylbewerber-Leistungsbescheid haben. Trölsch stellte zum „großen Missverständnis“ mit Blick auf Migration und Flüchtlinge klar:

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„Es wird häufig gesagt: Die werden ja voll versorgt in den Unterkünften und bekommen da morgens, mittags und abends Essen, und dann kommen sie noch zu den Tafeln. Das ist hier nicht der Fall! Wenn Flüchtlinge kommen, die in einer Einrichtung untergebracht sind, und sie erhalten dort Mahlzeiten, dann sind sie nicht Kunden bei den Ausgabestellen der Tafel. Sie sind dann Kunden, wenn sie sich selber versorgen. Dann haben sie entweder einen Asylbewerber-Leistungsbescheid, oder sie sind nach abgeschlossenem Verfahren Hartz-IV-Empfänger und erhalten auch Lebensmittel.“Tafel-Geschäftsführerin Trölsch und NAK-Sprecherin Eschen bestätigten, dass die Lage von Osteuropäern ohne Arbeit und festen Wohnsitz in Berlin am prekärsten sei. Darauf reagiere die Berliner Politik und suche inzwischen nach Lösungen zum Beispiel für die zahlreichen obdachlosen Polen.

Kommunikation hilft Probleme lösen

Die Vertreterin der Berliner Tafel bestätigte, dass es bei Ausgabestellen immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Wartenden komme. Ursache sei meist, dass gerade jenen, die kein Deutsch können, oft nicht bekannt sei, nach welchen Regeln Lebensmittel ausgegeben werden. Darauf habe die Berliner Tafel mit einem Warte-System reagiert, auch um Schlangen vor den Ausgabestellen zu vermeiden. Zudem gebe es Informationen in mehreren Sprachen und zunehmend Helfende, die zum Beispiel Arabisch sprechen. „Kommunikation ist alles“, sagte Trölsch dazu im Sputnik-Interview. Von Verdrängungen deutscher Kunden durch Migranten habe sie in Berlin nichts erfahren, hatte sie zuvor erklärt.

Antje Trölsch, Geschäftsführerin der Berliner Tafel
© Sputnik/ Tilo Gräser, Antje Trölsch, Geschäftsführerin der Berliner Tafel

Die Tafeln seien inzwischen die „Ausputzer der Nation“, weil die staatliche Politik nicht genug tue, erklärte NAK-Sprecherin Eschen. Es sei „eine staatliche und gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder sein soziokulturelles Existenzminimum bekommt“, sagte sie auf Sputnik-Nachfrage. Das sei im Grundgesetz der Bundesrepublik festgeschrieben.

„Mindestlohn ist zu niedrig“

Das habe nichts mit „Empörungslyrik“ zu tun, reagierte Eschen auf entsprechende Vorwürfe selbst von Vertretern von Wohlfahrtsorganisationen. „Das sollte man ganz nüchtern so betrachten“, sagte Eschen. Das sei eine Frage an die Politik. „Eigentlich ist es viel besser, wenn Menschen eine Arbeit haben und von dieser Arbeit leben können.“ Doch der gesetzliche Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro je Stunde sei ebenfalls zu niedrig, um Armut und den Bezug von zusätzlich Sozialleistungen zu verhindern.

Die NAK-Sprecherin forderte zudem mehr Unterstützung für Langzeitarbeitslose, um Arbeit zu finden. Doch die Mittel dafür seien von 6,6 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 3,9 Milliarden Euro fünf Jahre später gesenkt worden. Eschen begrüßte das im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung angekündigte Konzept für öffentlich geförderte Beschäftigung. Die in Aussicht gestellten Mittel dafür seien aber nur „eine relativ kleine Summe“.

Medien befördern schlechtes Bild der Armut

„Niemand möchte sagen, dass er arm ist“, bestätigte sie als Problem der Betroffenen. Das führt dazu, dass die „verdeckte Armut“ noch weiter verbreitet ist als die offiziell erfasste. „Ausgegrenzt und abgefunden“ – so heißt eine entsprechende Studie, auf die Eschen hinwies, weil sie sehr gut die Situation beschreibe. Armut stigmatisiere: „Wenn man sagt, jemand ist arm, dann denkt man sofort: Ja, der schlägt seine Frau und der trinkt und die Kinder gehen nicht zur Schule und und und … Es ist immer ein negatives Bild.“

Kinder (Symbolbild)

Auch die derzeitige Medienberichterstattung zum Thema ziele darauf ab, „Menschen in eine ganz bestimmte Ecke zu stellen“. Deshalb gebe es viele Menschen, die ihnen zustehende Leistungen nicht in Anspruch nehmen. So heißt es auf der Website der Diakonie: „Nach aktuellen Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nehmen rund 40 Prozent der Leistungsberechtigten solche Leistungen nicht in Anspruch.“Eschen warnte vor der „Teller-Wäscher-Ideologie“, die den Menschen erkläre, wer sich anstrenge, werde nicht arm. „Das ist in Wirklichkeit nicht so. Armut hat sich verfestigt: Arme Kinder haben arme Eltern und werden wieder arme Kinder haben.“ Mit dieser Ausgrenzung sei oftmals Hoffnungslosigkeit verbunden – „die ist das Problem!“ Gerade wegen der hohen Kinderarmut fordere die Armutskonferenz gemeinsam mit anderen Organisationen eine eigenständige Grundsicherung für Kinder, egal in welchem Elternhaus diese aufwachsen.

Das Interview mit Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz (NAK)

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