Samstag, April 20, 2024
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Warum die Eliten abheben und wie sie die Demokratie gefährden

In den westlichen Industrieländern sorgen die Eliten dafür, dass sich immer mehr Bevölkerungsteile von der Politik abwenden. Wie das geschieht, beschreibt der Soziologe Michael Hartmann in seinem neuen Buch. Der Elitenforscher erklärt im Interview seine Sicht auf die Entwicklung und was getan werden müsste, um sie zu verändern.

„Die Eliten sind in ihrer großen Mehrheit inzwischen so weit von der breiten Bevölkerung entfernt, dass sie zunehmend Schwierigkeiten haben, deren Probleme zu erkennen und die Folgen ihrer Entscheidungen zu verstehen.“ Das schreibt der Soziologe Michael Hartmann in seinem neuen Buch „Die Abgehobenen – Wie die Eliten die Demokratie gefährden“. Er nennt als Beispiel dafür, dass der Siemens-Konzern 2017 beschloss, etwa 3500 Arbeitsplätze abzubauen und dafür drei Werke in Thüringen und Sachsen zu verkaufen und zu schließen. Eines davon stehe in Görlitz, wo die AfD bei der letzten Bundeswahl ein Direktmandat holte.

Professor Michael Hartmann
© Foto: Sven Ehlers     Professor Michael Hartmann

Der Soziologe hat sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich mit der Elite beschäftigt und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Dazu zählt er hierzulande etwa 4000 Personen, „die durch Amt oder durch Eigentum in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen“.  Dazu würden auch die meisten sogenannten Superreichen dazu gehören, erklärte Hartmann im Sputnik-Interview, „weil sie große Unternehmen besitzen und ihrer großen Mehrzahl an der Leitung dieser Unternehmen beteiligt sind“. Das habe er 2016 in seinem Buch „Die globale Wirtschaftselite – Eine Legende“ nachgewiesen.

Elite – das unbekannte Wesen

Allgemein gilt, dass über die Elite in der Bundesrepublik wenig bekannt ist und wenig soziologisch geforscht wird. Wissenschaftler wie Hartmann, bis 2014 Professor für Soziologie an der Technischen Universität (TU) Darmstadt, die sich mit dieser sozialen Gruppe beschäftigen, sind selten. Die Angehörigen der Elite lassen sich nicht gern in ihre sprichwörtlichen Karten und Verhältnisse schauen.

Angela Merkel bei der Sitzung mit regionalen Politikern in Berlin (Archivbild)
© AFP 2018 / DPA/ Tim Brakemeier

Ein Beispiel ist dafür Dieter Schwarz, laut dem Wirtschaftsmagazin „Bilanz“ der derzeit reichste Bundesbürger. Der Eigentümer der Handelsketten „Lidl“ und „Kaufland“, geschätzter Gesamtwert 39,5 Milliarden Euro, hat mit Hilfe von Anwälten selbst dafür gesorgt, dass Fotos von ihm aus der Öffentlichkeit entfernt wurden. Zwar gibt er am Firmensitz Neckarsulm und in seinem Heimatort den Wohltäter, aber sein Vermögen konnte das Magazin ebenso wie das der anderen 999 reichsten Deutschen, über die es in seiner September-Ausgabe berichtete, nur schätzen.Es sei „außerordentlich schwer“, an die Mitglieder der Elite heranzukommen, bestätigte Hartmann aus jahrzehntelanger Forschung. Bis auf jene aus der Politik, die sich öffentlich äußern müssten, könnten alle anderen das vermeiden. Deren Logik sei: „Wenn man nicht über uns redet, ist das für die gegebenen Verhältnisse am besten. Das, worüber man nicht redet, darüber wird auch nicht kritisch berichtet oder diskutiert.“

Überall die gleiche Entwicklung

Die Reichen seien in repräsentativen statistischen Stichproben zur Bevölkerung und deren Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht erfasst, „weil es zu wenige sind“. Hinzu komme, dass die Sozialwissenschaften seit den 1960er Jahren „diesen Bereich vollkommen aus den Augen verloren haben“. Die „extreme soziologische Spezialisierung“ klammere gesamtgesellschaftliche Machtfragen und damit die Eliten weitgehend aus.

„Die Entwicklung ist in allen Industrieländern dieselbe“, erklärte Hartmann zu seinen jüngsten Forschungserkenntnissen, die er in dem aktuellen Buch wiedergibt. „Der Kern der Entwicklung ist eine zunehmende Entfernung der Eliten von der Bevölkerung.“ Das zeige sich auf zwei Ebenen. Zum einen werde die soziale Rekrutierung der Eliten exklusiver, vor allem in der Politik. „Die Wirtschaftselite hat sich seit Jahrzehnten immer exklusiv rekrutiert. Da stammen rund 80 Prozent aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung.“

Die politische Elite sei von ihrer Herkunft her dagegen nicht mehr so ausgeglichen zusammengesetzt wie in den Jahrzehnten zuvor. Das sei verbunden mit dem Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1980er Jahren, zuerst in den USA und Großbritannien. Damit verbunden sei der zweite Faktor: „Durch die neoliberale Politik haben sich die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in diesen Ländern deutlich zugunsten der Reichen und Wohlhabenden verändert.“ Davon würden alle Angehörigen der Elite profitieren. „Wenn man zu den Gewinnern einer Entwicklung gehört, neigt man in der Regel nicht dazu, diese kritisch zu betrachten.“

Konkrete Politik als Gefahr für Demokratie

Hartmann sprach sich gegen das von rechtspopulistischen Kräften gepflegte Pauschalurteil aus, die Eliten stünden grundsätzlich auf der einen Seite und das Volk auf der anderen. „Die Eliten gefährden die Demokratie durch eine konkrete Politik“, erläuterte er den Untertitel seines neuen Buches.

„Das ist die neoliberale Politik, die in allen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten dominant war. Diese Politik verschärft die Kluft zwischen Arm und Reich und führt in der unteren Hälfte der Bevölkerung dazu, dass ein zunehmend größerer Teil sich nicht mehr von den Eliten und der Politik vertreten fühlt.“

Eine Konsequenz sei, dass diejenigen nicht mehr wählen gehen. Hartmann verwies dabei auf die niedrigen Wahlbeteiligungen in den betreffenden Ländern. Ein Teil der Menschen wende sich in der Folge dem Rechtspopulismus zu, wenn die Politik auch bei niedrigerer Wahlbeteiligung nicht geändert werde. Das zeige sich von den USA und Frankreich über die Bundesrepublik bis nach Italien und Ungarn sowie Schweden.

Die Elite und die AfD

Der Soziologe sieht für den erstarkten Rechtspopulismus zwei Quellen. Die eine seien jene in der Bevölkerung mit einem „traditionellen, vergleichsweise stabilen rechten Weltbild“. Zu diesem Stammreservoir würden nun Protestwähler, die früher zumeist links gewählt hätten, kommen. Das seien in den westlichen Bundesländern vor allem enttäuschte SPD-Wähler, im Osten dagegen eine erhebliche Zahl von früheren Wählern der PDS bzw. Linkspartei. Für Hartmann ist der Unterschied zwischen den beiden Gruppen wichtig bei der Suche, wie dem Rechtspopulismus politisch begegnet werden könne.

Die AfD-Politikerin Alice Weidel „verfügt über beste Verbindungen in die Finanzbranche“, stellte das Online-Magazin „Telepolis“ vor einem Jahr fest. „Sie war bei der Investmentbank Goldman Sachs tätig, um hiernach in den Vorstand der Allianz Global Investors weiterzuziehen. In kaum einer anderen Personalie der AfD werden die fließenden Übergänge zwischen Neoliberalismus und Rechtsextremismus so deutlich wie bei Frau Weidel.“

Elite bleibt unter sich – Studie: Herkunft entscheidet weiter über Aufstiegschancen

Das scheint dem Anspruch der AfD, für Protest gegen das etablierte Politiksystem  zu stehen, zu widersprechen. Dennoch ist die Partei für den Soziologen Hartmann kein Eliten-Projekt: „Die stammen nicht aus der Elite, die stammen aus gutbürgerlichen Kreisen.“ Das gelte vor allem für die AfD-Funktionäre mit westdeutscher Herkunft, während jene aus Ostdeutschland eher kleinbürgerlich geprägt seien. Für die Protestwähler spiele das aber wie bei Donald Trump keine Rolle, „weil diese Leute sich erfolgreich als Nicht-Bestandteil des Establishments inszenieren“.

Auf Wirtschafts- und Sozialprogramme und ähnliches werde dabei nicht gesehen. „Die AfD eignet sich einfach dazu, die anderen zu ärgern“, sieht der Soziologe als Motiv der Protest-Wähler. Das sei auch in den anderen Ländern entsprechend der Fall. So stehen Trump, die italienische Lega unter Innenminister Matteo Salvini oder die FPÖ für eine krasse Umverteilung von unten nach oben. Aber für die Wähler sei entscheidend, dass sie den Etablierten einen „Denkzettel“ verpassen könnten.

Wie Elite Nachwuchs rekrutiert

Hartmann widersprach den Autoren des in diesem Jahr ebenfalls veröffentlichten „Elitenreports“, Bettina Weiguny und Georg Meck, beide Wirtschaftsreporter der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS). Sie meinen zwar ebenfalls, dass die Eliten abgehoben sind. Zugleich behaupten sie anhand verschiedener Beispiele vor allem aus der Wirtschaft, dass der soziale Aufstieg gewissermaßen allen offenstehe: „So soll es sein: Leistung soll sich lohnen.“

Mitarbeiter der DAX-Börse (Symbolbild)
© AFP 2018 / DANIEL ROLAND

Der Soziologe verwies auf die jahrzehntelang ausgewerteten Statistiken über die soziale Zusammensetzung der Eliten in den hundert größten deutschen Unternehmen: „Vier von fünf Spitzenmanagern stammen aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung.“ Das sei auch 2018 so, wie er gerade wieder recherchiert habe. Weiguny und Meck hätten nur die „berühmten Ausnahmen von der Regel“ gebracht. Ähnliches gelte auch für die Medien, wie er in einem Interview mit dem Online-Magazin „Nachdenkseiten“ kürzlich feststellte.Anders als in anderen Ländern wie den USA oder Frankreich sei das Bildungssystem in der Bundesrepublik nicht der entscheidende Filter für den Zugang zu den Elitekreisen, so Hartmann, sondern erst die Auswahlverfahren während der Berufskarriere. Bei deren Kriterien wirke die soziale Herkunft des Nachwuchses „ganz direkt“. Soziale Aufsteiger aus unteren Schichten hätten es entscheidend schwerer.

Alternativen ohne Revolution möglich

Der Soziologe, der sich politisch links einordnet, sieht zwei Lösungen für die Probleme. Die eine wäre, die Eigentumsverhältnisse grundlegend zu ändern, was aber „überhaupt nicht absehbar“ sei. Er werde zu seinen Lebzeiten nicht mehr erleben, was er einst in seiner Jugend forderte: den Kapitalismus abschaffen.

Drei der Bücher des Elite-Forschers
© Sputnik / Tilo Gräser   Drei der Bücher des Elite-Forschers
Dagegen sei es realistischer, die neoliberale Politik zu verändern. „Das ist keine zwingende Notwendigkeit, dass eine kapitalistische Wirtschaft nur mit neoliberaler Politik funktionieren kann.“ Er verwies auf das Beispiel der Labour-Partei in Großbritannien unter Jeremy Corbyn. Dieser habe ein Programm, „das explizit das Gegenteil vom dem enthält, was alle Regierungen seit Margaret Thatcher gemacht haben“.

Das zeige, dass es innerhalb des kapitalistischen Systems Handlungsspielräume für eine Politik gebe, die die Interessen breiter Bevölkerungsschichten berücksichtigt. Die soziale Zusammensetzung der Elite und ihre politische Ausrichtung sei entscheidend, um etwas zu verändern, betonte Hartmann.

Michael Hartmann: „Die Abgehobenen – Wie die Eliten die Demokratie gefährden“

Verlag Campus 2018. 276 Seiten, 19,95 Euro.

Interview mit Prof. Dr. Michael Hartmann

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