Donnerstag, April 25, 2024
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Warum die Nato vor Russland sicher ist und Moskau weiter auf Atomwaffen setzt

Für eine mögliche russische Aggression gegenüber der Nato gibt es kein Motiv und auch keine Absicht. Das stellt ein russischer Ex-Militär in einem Meinungsaustausch mit einem deutschen Militärexperten fest. Er erklärt zugleich, warum Moskau sich nicht vom Prinzip der Abschreckung verabschiedet.

Alle Nato-Staaten einschließlich Polen und dem Baltikum sind vollständig vor einem russischen Überfall sicher. Das stellt der russische Politikwissenschaftler und Ex-Offizier Dmitri Trenin in der August-Ausgabe der Zeitschrift „WeltTrends“ klar. „Die dort existierenden Ängste vor einem russischen Einmarsch werden von Erinnerungen, nicht aber von nüchternen Lageanalysen unterfüttert.“

Damit widerspricht der heutige Direktor des Carnegie Moscow Centers wiederholten Aussagen aktiver und ehemaliger westlicher Politiker über die angebliche „russische Gefahr“. Es fehle „ein überzeugendes Motiv, das heißt ein politischer Sinn eines solchen Überfalls“, so Trenin.Erst am Dienstag hatte der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, bei einer Buchvorstellung in Berlin von der Aufgabe der Bundeswehr gesprochen, „mögliche russische Aggressionsabsichten“ abzuschrecken. Solche werden Moskau auch wiederholt im Zusammenhang mit der Ukraine und Syrien unterstellt.

Imperiale Epoche vorbei

Trenin erklärt dagegen in der Zeitschrift: „Der Kreml folgt einer nationalen Agenda, aber keiner globalen. Die imperiale Epoche der russischen und sowjetischen Geschichte ist vorbei.“ Die These von der russischen Aggressivität diene dazu, die Nato zusammenzuhalten und die transatlantischen Beziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA sowie deren globale Dominanz zu sichern.

Seine Aussagen gehören zu einem in den „WeltTrends“ veröffentlichten ausführlichen Meinungsaustausch, den er mit Siegfried Fischer führte. Dieser ist Ex-Offizier der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR und heute unter anderem als Militärexperte der „Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit“ (SES) tätig. Beide sprechen über gegenseitige Bedrohungen und Abschreckung aus deutscher und russischer Sicht.

Neue Rivalität

Für Trenin geht es „schlicht um die Rivalität der Großmächte und die Transformation der Weltordnung“. Und: „Es ist nur natürlich, dass die Hauptnutznießer der noch existierenden Ordnung danach streben, sie zu erhalten und die Konkurrenten kleinzuhalten. Die Konkurrenten streben ihrerseits danach, die Spielregeln in der Welt zu verändern.“

Der russische Analytiker meint, „nach 25 Jahren allgemein anerkannter globaler Dominanz der USA – ich nenne das Pax Americana – kommt die Rivalität der Großmächte in die Weltpolitik zurück“. Russland sei wieder zur aktiven Weltpolitik zurückgekehrt: „Das sprengte de facto die im Ergebnis des Kalten Krieges entstandene Weltordnung.“

Nutznießer der Abschreckung

Militärexperte Fischer erinnert daran, dass „der militärisch-industrielle Komplex der USA und dessen westeuropäische Miniaturnachbildungen“ Nutznießer der Abschreckung waren und sind. „Trotz der offensichtlichen inneren und äußeren Gefahren der Abschreckung für die westlichen Demokratien gibt es ein länderübergreifendes Interesse der transatlantischen Eliten an ihrem Erhalt.“Die russische Streitkräfteentwicklung zeigt laut Trenin, dass Moskau danach strebe, „die strategische Stabilität gegenüber den USA und der Nato zu erhalten, die garantierte Abwehr eines beliebigen Aggressors, der auf russisches Territorium vordringen würde, zu gewährleisten sowie Fähigkeiten für die Führung regionaler und lokaler Kriege außerhalb der russischen Grenzen zu entwickeln“.

Bei letzterem Punkt verweist der Politologe neben Syrien auf die beiden Fälle in den letzten zehn Jahren, in denen Russland militärische Gewalt gegen Nachbarstaaten, frühere Sowjetrepubliken, anwandte: Georgien 2008 und Ukraine 2014. „Beide Konflikte haben ihre Wurzeln in Prozessen, die mit dem Zerfall der Sowjetunion begannen und mit der Erweiterung der Nato auf das Territorium der früheren UdSSR verbunden waren.“

Moskaus Sicht und Interesse

Fischer bezeichnet dabei die Abschreckung als „untaugliches, antirussisches transatlantisches Konzept für die Gegenwart und Zukunft“. Sie sei außerdem „generell ein kreuzgefährliches Instrument für die Gestaltung der internationalen Beziehungen“.

Sein Gesprächspartner widerspricht ihm aus russischer Sicht: „Ich glaube nicht, dass die Abschreckung veraltet ist. Ein logisches Resultat der gegenseitigen nuklearen Abschreckung ist die Verhinderung nicht nur eines nuklearen, sondern generell eines beliebigen Krieges zwischen Nuklearmächten. Letzten Endes blieb der vierzigjährige Kalte Krieg zwischen Moskau und Washington kalt.“

„Keine zuverlässigere Garantie“

Dabei beruhen laut Trenin die Beziehungen der nicht miteinander verbündeten Nuklearmächte „auf dem Prinzip der nuklearen Abschreckung (deterrence). Sie ist das Modell der Kriegsverhinderung durch gegenseitige Androhung einer garantierten gänzlichen Vernichtung (mutual assured destruction, MAD).“

„Ungeachtet der Kritik dieses Modells als ‘verrückt‚ (mad), konnte bisher noch niemand eine zuverlässigere Garantie vorschlagen. Selbst in der Periode der russisch-amerikanischen Zusammenarbeit in den 1990er Jahren wurde die gegenseitige Abschreckung zwischen Russland und den USA – insbesondere durch ‚Vorsichtsmaßnahmen‘ – lediglich ‚gefestigt‘, aber nicht aufgehoben.“

Der Abschreckungsfaktor habe beispielsweise eine militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland in Syrien verhindert, und „offensichtlich auch einen Krieg zwischen Indien und Pakistan“. „Selbst eine primitive nukleare Abschreckung hat es Nordkorea möglich gemacht, die USA zu Verhandlungen zu bringen.“

„Schrecklicher Preis“

Die Zeitschrift „WeltTrends“ hat ein umfangreiches Themenspektrum

Trenin übersieht aber nicht den Preis, „der für die nukleare Abschreckung gezahlt werden muss. Das ist die reale Möglichkeit eines Kernwaffenkrieges, wenn eben die Abschreckung nicht funktioniert. Das ist ein schrecklicher Preis.“

Fischer verweist zur Frage, ob Russland die USA und die Nato bedroht, auf das militärische Kräfteverhältnis. Darum sei es heute im Gegensatz zum Kalten Krieg „stiller geworden“. Es falle heute „eindeutig zugunsten des transatlantischen Bündnisses aus“. Das zeige unter anderem der aktuelle SIPRI-Bericht über die Militärausgaben und die Streitkräftestärken.

Zwar sei inzwischen die Kampfkraft der russischen Streitkräfte wieder höher: „Reformen und Rekonstruktionen haben die postsowjetischen Streitkräftetrümmer wieder zu einer funktionierenden Streitmacht gemacht.“ Fischer ergänzt: „Jedoch könnte diese unmöglich einen Aggressionskrieg gegen die Nato führen.“ Einzig am nuklearen Kräfteverhältnis zwischen den Kontrahenten habe sich nichts geändert.

Klarheit auf beiden Seiten

„Die einsatzfähigen nuklearen Gefechtsköpfe der USA (1350) und Russlands (1444) auf jeweils 652 US-amerikanischen und 527 russischen Trägersystemen manifestieren weiterhin die Fähigkeit zur gegenseitig garantierten Vernichtung. Dieses nukleare Patt auf Overkill-Niveau ist eine militärische Bedrohung per se, die man aber nicht Russland anlasten kann.“

Trenin hebt hervor, sowohl in Moskau als auch in Washington sei klar, „dass es in einem Kernwaffenkrieg keine Sieger geben kann und dass er zum Untergang der Menschheit führt. Folglich wird damit auch die Möglichkeit eines konventionellen Krieges zwischen den Großmächten blockiert.“Das Budget des Pentagons sei „um Größenordnungen höher“ als das Budget des russischen Verteidigungsministeriums. „Dennoch wird das in Moskau nicht als Katastrophe betrachtet. Russland, das keine mit den USA vergleichbaren Ressourcen hat und deswegen asymmetrisch handelt, entwickelt Waffensysteme und Antwortstrategien, um die Überlegenheit der USA zu kompensieren.“

Russlands „einzigartige“ Position

Der Moskauer Analytiker glaubt nicht, dass die USA „ungeachtet ihres Potenzials“ beabsichtigen, Russland militärisch anzugreifen. Auch dafür würde ein „überzeugendes Motiv“ fehlen. Er bezeichnet die geopolitische und strategische Position Russlands als „einzigartig“. „Es ist kein Mitglied eines großen Militärbündnisses (wie Deutschland) und es kann nicht auf Hilfe und Unterstützung zahlreicher Bündnispartner zählen (wie die USA).“

Russland müsse „ausreichend stark sein, um für sich einstehen und seine Interessen verteidigen oder durchsetzen zu können. Diese Einsamkeit hat auch einen Vorteil: ein hohes Niveau der Manövrierbarkeit und das Fehlen von großen Verpflichtungen gegen nicht vorhandene Bündnispartner.“

Der Direktor der Carnegie Moscow Center erklärt: „Im Kreml sitzen weder Pazifisten noch Idealisten. Moskau unter Putins Führung, das ist eine Bastion von Realpolitikern, die fähig sind, militärische Gewalt einzusetzen. Sie haben aber keine Gründe, diese Gewalt gegen Nato-Staaten anzuwenden, es sei denn als Antwort auf einen nichtprovozierten Angriff seitens der USA. Es ist klar, dass Russland in einem solchen gegenwärtig höchst unwahrscheinlichen Fall bereit ist, einen nuklearen Antwortschlag zu führen.“

Argument der Stärke

In Russland werde die Abschreckung weiterhin „als wichtigster Faktor der nationalen Sicherheitsstrategie“ betrachtet. „Ohne nukleare Abschreckung seitens Russlands, so nimmt man in Moskau an, hätten die USA die Möglichkeit, gestützt auf ihre ökonomische Stärke und ihre militärische Überlegenheit, Russland ihren Willen aufzuzwingen.“

Nach Putins Meinung würden die USA nur das Argument der Stärke verstehen, so Trenin, „andere Argumente prallen an ihnen ab. Die Geschichte der jüngsten amerikanisch-nordkoreanischen Beziehungen, die zu Gipfelgesprächen in Singapur geführt haben, bestätigt indirekt diese These.“

„Russland einbeziehen!“

Der Meinungsaustausch der beiden ehemaligen Militärs in dem „WeltTrends“-Heft Nummer 142 ist jedem zu empfehlen, der etwas über das Verhältnis zwischen Russland und dem US-geführten Westen wissen will. Für all jene, die ohne Belege und ohne Rücksicht auf Fakten von der „russischen Gefahr“ reden und schreiben, sollte er Pflichtlektüre sein.Fischer erklärt: „Für Europa ist es im wohlverstandenen eigenen Interesse, nicht Russland ‚abzuschrecken‘, sondern in ein stabilisierendes europäisches Sicherheitssystem einzubeziehen! Deshalb sollten die Sicherheitsinteressen Russlands genauso wie die aller anderen europäischen Staaten berücksichtigt werden.“

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