Dienstag, April 30, 2024
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Deutsch­land: Das zer­ris­sene Land

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Es ist ein Trauer­spiel: Das dritte Jahr in Folge muss der Par­itätis­che Gesamtver­band seinen Armuts­bericht mit dieser Botschaft eröff­nen: Noch nie war die Armut in Deutsch­land so hoch wie derzeit – und zudem die regionale Zer­ris­senheit so tief[1].

Die Armut­squote im Jahr 2013 – auf dieses Jahr beziehen sich die Daten, die dem Bericht zugrunde liegen – betrug in Deutsch­land 15,5 Prozent. Damit hat sie im Ver­gle­ich zum Vor­jahr um 0,5 Prozent­punkte zugenom­men. Rein rech­ner­isch müssen rund 12,5 Mil­lio­nen Men­schen zu den Armen gezählt wer­den. In der länger­fristi­gen Betra­ch­tung wird so ein klarer Trend wach­sender Armut seit

2006 deut­lich, von 14 auf besagte 15,5 Prozent; das bedeutet einen Anstieg der Armut um 11 Prozent.

Damit muss die Behaup­tung der Bun­desregierung, die Armut in Deutsch­land sei in den let­zten Jahren rel­a­tiv

kon­stant geblieben bzw. die Aus­sage der dama­li­gen Arbeitsmin­is­terin Ursula von der Leyen, man könne sogar wieder von einer sich schließen­den Einkom­menss­chere sprechen, als wider­legt betra­chtet wer­den.[2]

Wie in jedem Jahr wertete der Par­itätis­che Gesamtver­band für seinen Armuts­bericht die Daten des Sta­tis­tis­chen Bun­de­samtes aus und unter­legte und ergänzte diese mit eige­nen Berech­nun­gen. Der gängi­gen Meth­ode der Armutsmes­sung von OECD, WHO und Europäis­cher Union fol­gend, markiert dabei ein Net­toeinkom­men von unter 60 Prozent des nach Haushalts­größe bedarf­s­gewichteten mit­tleren Einkom­mens (Median) die Armutsgrenze.[3] Ob man bei dieser Grenze von Armut sprechen kann, hängt von den Schwellen­werten ab, die sich aus dieser Berech­nung ergeben. Im Jahr 2013 lag die so errech­nete Armutss­chwelle für einen Sin­gle­haushalt bei 892 Euro netto, für Fam­i­lien mit zwei Erwach­se­nen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1873 Euro.[4]

Wach­sendes Ungleichheitsgefälle

Die amtlichen Sta­tis­tiker sprechen dabei mit aller Vor­sicht von einer Armutsgefährdungsschwelle. Diesem Ter­mi­nus wollte der Par­itätis­che Gesamtver­band in seinem aktuellen Armuts­bericht jedoch nicht mehr fol­gen: Denn die 60-​Prozent-​Schwelle liegt mit­tler­weile – je nach Wohnort und Mietkosten – nahe oder sogar unter­halb der Hartz-​IV-​Bedarfsschwelle. So läge beispielsweise die vierköp­fige Mod­ell­fam­i­lie mit ihren 1873 Euro in Mecklenburg-​Vorpommerns Greif­swald zwar mit 57 Euro noch sehr knapp über dem Hartz-​IV-​Niveau, im teuren Wies­baden in Hes­sen jedoch bere­its 206 Euro darunter. Wer heutzu­tage mit der 60-​Prozent-​Schwelle arbeitet, muss daher in weiten Teilen Deutsch­lands von Armut sprechen.

Mit Aus­nahme von Bran­den­burg, Sach­sen und Sachsen-​Anhalt ist die Armut in allen Bun­deslän­dern gestiegen, wenn auch unter­schiedlich stark. Auf­fäl­lig dabei: Ger­ade die Län­der, die in Deutsch­land die ger­ing­ste Armut aufweisen, näm­lich Bay­ern (11,3 Prozent) und Baden-​Württemberg (11,4 Prozent) zeigen auch deut­lich unter­durch­schnit­tliche Zuwach­sraten, während die Län­der, die sich ohne­hin rel­a­tiv abgeschla­gen am Fuße der Wohl­stand­sleiter befinden – näm­lich Berlin (21,4 Prozent), Mecklenburg-​Vorpommern (23,6 Prozent) und Bre­men (24,6 Prozent) – auch über­pro­por­tionale Steigerungsraten aufweisen. Beim Schlus­slicht Bre­men hat die Armut im Jahr 2013 sogar um 1,7 Prozent­punkte zugenom­men. Das heißt: Jeder Vierte muss hier bere­its zu den Armen gezählt werden.

Die Fliehkräfte in Deutsch­land nehmen somit zu, die regionale Zer­ris­senheit wird von Jahr zu Jahr tiefer. Betrug die Dif­ferenz zwis­chen der Region mit der niedrig­sten Armut­squote (Schleswig-​Holstein Süd mit 7,8 Prozent) und der Region mit der höch­sten Quote (Vor­pom­mern mit 25,6 Prozent) im Jahre 2006 noch 17,8 Prozent­punkte, so waren es 2013 bere­its 24,8 Prozent­punkte Abstand: Heute ste­hen sich das baden-​württembergische Bodensee-​Oberschwaben mit 7,8 Prozent und Bre­mer­haven mit 32,6 Prozent gegenüber. Ist in der einen Region ger­ade jeder Dreizehnte arm, so ist es in der anderen bere­its jeder Dritte. Von gle­ich­w­er­ti­gen Lebensver­hält­nis­sen in Deutsch­land kann mit Blick auf der­ar­tige Unter­schiede keine Rede sein.

Ost-​West-​Schablone greift nicht mehr

Die gängige Ost-​West-​Schablone greift dabei nicht mehr. Unter den 20 ärm­sten der ins­ge­samt 95 Rau­mord­nungsre­gio­nen in Deutsch­land befinden sich sieben west­deutsche, vom Schlus­slicht Bre­mer­haven bis zu den Regio­nen Dort­mund, Han­nover oder Duis­burg. In Bre­men steigt die Armut­squote seit 2009 nun­mehr im vierten Jahr hin­tere­inan­der steil an. In dieser rel­a­tiv kurzen Zeit ist die Armut dort um mehr als ein Fün­f­tel von 20,1 auf 24,6 Prozent gewach­sen. In Berlin lässt sich ein solch klarer Trend bere­its seit 2006 beobachten. Hier ist die Armut­squote seit­dem sogar um mehr als ein Vier­tel angestiegen, von damals 17 auf nun­mehr 21,4 Prozent. Hinzu kommt, dass Berlin die Region mit der höch­sten Hartz-​IV-​Quote bleibt. Während diese bun­desweit 9,6 Prozent beträgt, sind es in der Bun­de­shaupt­stadt 20,7 Prozent. Ins­beson­dere Kinder sind betrof­fen: Jedes dritte Kind lebt in Berlin von Hartz IV.

Eine ähn­liche Dynamik, wenn auch glück­licher­weise auf niedrigerem Niveau, zeigt Nordrhein-​Westfalen. Hier hat die Armut­squote im Jahr 2007 erst­mals den gesamt­deutschen Mit­tel­w­ert über­schrit­ten und steigt seit­dem – außer 2012 – in jedem Jahr stärker als in Gesamt­deutsch­land. Der Zuwachs seit 2006 beträgt in Nordrhein-​Westfalen 22,7 Prozent.

Eine beson­dere Prob­lem­re­gion bildet dort nach wie vor das Ruhrge­biet. Bestand im let­zten Jahr noch Hoff­nung, dass der lang anhal­tende Anstieg der Armut in dieser Region 2012 erst ein­mal gestoppt sein kön­nte, nahm die Armut in 2013 erneut um 0,9 Prozent­punkte zu. Damit steigt die Armut­squote im Ruhrge­biet auf den Wert von 19,7 Prozent und liegt damit noch höher als in Bran­den­burg, Thürin­gen oder Sach­sen. Die Hartz-​IV-​Quote lag 2013 bei 16,1 Prozent und damit ent­ge­gen dem Bun­de­strend sogar noch leicht höher als im Jahr 2006 (15,7 Prozent).

Neue, alte Risikogruppen

Was die beson­deren Risiko­grup­pen der Armut anbe­langt, so liefern die aktuellen Daten im Wesentlichen Alt­bekan­ntes. Genau darin aber liegt der eigentliche poli­tis­che Skan­dal: 59 Prozent aller Erwerb­slosen und 42 Prozent aller Allein­erziehen­den müssen als einkom­men­sarm gel­ten. Und ihr Risiko der Ver­ar­mung nimmt von Jahr zu Jahr über­pro­por­tional zu. Betrug die Steigerung der all­ge­meinen Armut­squote zwis­chen 2006 und 2013 in Deutsch­land 11 Prozent, waren es bei der Gruppe der Allein­erziehen­den im gle­ichen Zeitraum 16,2 Prozent und bei den Erwerb­slosen sogar 18,8 Prozent. Es gelang also offen­sichtlich nicht, dieses alt­bekan­nte Prob­lem auch nur annäh­ernd abzu­mildern. Stattdessen ist es noch größer geworden.

Betra­chten wir die Armut­squoten bei den unter­schiedlichen Alters­grup­pen, so fallen ins­beson­dere zwei Befunde ins Auge: Zum einen der sehr hohe Wert bei den bis 18jährigen, der mit einem leichten Anstieg der Hartz-​IV-​Quote in dieser Gruppe ein­hergeht. Mit 15,4 Prozent lag die Hartz-​IV-​Quote bei Kindern auch 2013 über der Quote, die bei der Ein­führung von Hartz IV im Jahr 2005 vorherrschte (14,9 Prozent).

Die regionale Spreizung ist auch hier außeror­dentlich. Sie reicht von 2 Prozent im bay­erischen Land­kreis Pfaf­fen­hofen bis zu 38 Prozent in Bre­mer­haven. Ins­ge­samt weisen mit­tler­weile 16 Kreise und kre­is­freie Städte in Deutsch­land eine Hartz-​IV-​Quote bei Kindern von über 30 Prozent auf. Die Zahl der Kreise, die von echter Kinder­ar­mut geprägt sind, ist erschreck­end hoch.

Ein weit­eres beson­deres Augen­merk sollte zum anderen einer Gruppe gel­ten, die bisher unter Armuts­gesicht­spunk­ten rel­a­tiv wenig disku­tiert wurde. Es sind die Haushalte von Rent­ner­in­nen und Rent­nern sowie Pen­sionären. Sie liegen mit einer Armutsquote von 15,2 Prozent zwar noch leicht unter dem Bun­des­durch­schnitt, ihr Armut­srisiko ist dafür aber in den let­zten Jahren ger­adezu drama­tisch angestiegen – seit 2006 um ganze 47,6 Prozent. Das Bild der auf uns „zurol­len­den Law­ine der Alter­sar­mut“ findet hierin seine sta­tis­tisch ein­drück­liche Bestä­ti­gung. Die Armut alter Men­schen und ins­beson­dere der Rent­ner nimmt also sehr viel stärker zu als bei irgen­deiner anderen Bevölkerungs­gruppe. Gle­ich­wohl ist kein­er­lei poli­tis­che Inter­ven­tion zu erken­nen, die geeignet wäre, diesen Trend zu stop­pen oder wenig­stens abzu­mildern – das Renten­paket der Bun­desregierung aus dem Jahr 2014 wird jeden­falls aller Voraus­sicht nach keine pos­i­tiven Wirkun­gen für die betrof­fe­nen armen Ruh­eständler entfalten.

Angesichts der Tat­sache, dass die Trends der Armut­sen­twick­lung bere­its seit 2006 anhal­ten, stellt sich die Frage, ob diese auf poli­tis­che Unter­las­sun­gen zurück­zuführen sind. Auf­fäl­lig ist, dass sich die Entwick­lung der Armut­squoten und die wirtschaftliche Entwick­lung in Deutsch­land völ­lig voneinan­der abgekop­pelt haben. Mit Aus­nahme des Krisen­jahres 2009 haben das Volk­seinkom­men, der gesellschaftliche Reich­tum in Deutsch­land seit 2006 kon­tinuier­lich zugenom­men – genauso kon­tinuier­lich, wie die Armut in Deutsch­land wuchs. Mit anderen Worten: Gesamt­ge­sellschaftlich han­delt es sich bei der Armut­sen­twick­lung in Deutsch­land weniger um ein wirtschaftliches als vielmehr um ein Verteilung­sprob­lem. Stetig wach­sender Wohl­stand führt seit Jahren zu immer größerer Ungle­ich­heit und nicht zum Abbau von Armut. Offen­sichtlich fehlt ein armut­spoli­tis­ches Korrektiv.

Der Kampf gegen die Armut

Dabei ist seit Jahren bekannt, wie die Armut wirk­sam bekämpft wer­den kön­nte: Durch öffentlich geförderte Beschäf­ti­gung, eine Erhöhung der Hartz-​IV-​Regelsätze auf ein men­schen­würdi­ges Maß, die Umstruk­turierung des Fam­i­lien­las­te­naus­gle­ichs, so dass diejeni­gen die meis­ten Hil­fen bekom­men, denen es in der Tat am schlecht­esten geht – und nicht umgekehrt, wie es derzeit der Fall ist –, aber auch durch ziel­ge­naue Pro­gramme für Allein­erziehende mit ihren Kindern, durch Bil­dungsanstren­gun­gen für Kinder in benachteiligten Fam­i­lien, die Bekämp­fung der wach­senden Alter­sar­mut und schließlich – mit Blick auf die regionale Zer­ris­senheit – durch einen Län­der­fi­nan­zaus­gle­ich, der tat­säch­lich den­jeni­gen Regio­nen in der Bun­desre­pub­lik zugute kommt, die sich nicht mehr am eige­nen Schopf aus dem Sumpf ziehen können.

Doch die Große Koali­tion ver­schließt die Augen und ist nicht gewillt, an dieser beschä­menden Sit­u­a­tion etwas zu ändern. Denn der Geburts­fehler dieser Koali­tion liegt in der Tabuisierung jeglicher Steuer­erhöhun­gen. Solange der Staat in diesem fün­fre­ich­sten Land der Erde darauf verzichtet, sehr große Ver­mö­gen, sehr hohe Einkom­men genauso wie Erb­schaften und Kap­i­talerträge stärker zu besteuern, so lange bleibt jegliche Debatte darüber eine rein akademis­che Übung.

Über fünf Bil­lio­nen Euro pri­vaten Geld­ver­mö­gens wer­den in Deutsch­land auf Kon­ten, in Aktien­paketen oder Lebensver­sicherun­gen gehortet. Um 36 Prozent ist dieser Geld­berg – Krise hin oder her – in den let­zten zehn Jahren gewach­sen; in den let­zten 20 Jahren sogar um märchen­hafte 145 Prozent! Wohlge­merkt: Es geht nicht um Pro­duk­tion­sstät­ten, um Grund­stücke, Häuser oder Wälder. Es geht allein um Geld­ver­mö­gen, das bei ziem­lich weni­gen zu finden ist. Die reich­sten 10 Prozent in Deutsch­land teilen ganze 58 Prozent des gesamten Ver­mö­gens unter sich auf. Jeder dritte Euro, der in Deutsch­land erwirtschaftet wird, fließt am Ende in diese Haushalte.

Darunter lei­den die Armen ebenso wie die öffentlichen Haushalte. Deren Finanznot stellt mit­tler­weile nicht nur the­o­retisch, son­dern ganz prak­tisch eine echte Bedro­hung unseres Sozial­staates dar. In den Kom­munen besteht ein Investi­tion­srück­stand von fast 100 Mrd. Euro. Über ein Vier­tel davon ent­fällt allein auf Schulen und andere Bil­dungs– und Erziehung­sein­rich­tun­gen. Sporthallen und Spielplätze sind vielerorts in mar­o­dem Zus­tand. Schwimm­bäder, Büchereien und The­ater wer­den geschlossen. Jugendzen­tren und Pro­jekte in soge­nan­nten sozialen Bren­npunk­ten sind genauso Opfer dieser Entwick­lung wie Senioren­tr­e­ffs oder fam­i­lienun­ter­stützende Dien­ste – Ein­rich­tun­gen, die für die Leben­squal­ität in einer Kom­mune von zen­traler Bedeu­tung sind.[5]

Wer Armut ern­sthaft und sub­stanziell bekämpfen will, muss endlich etwas gegen diese extreme verteilungspoli­tis­che Schieflage tun. Alles andere ist nur Kos­metik – und einer sozialen Demokratie unwürdig.

Verweise:

[1] Der Par­itätis­che Gesamtver­band (Hg.), Die zerk­lüftete Repub­lik. Bericht zur regionalen Armut­sen­twick­lung in Deutsch­land 2014, Berlin 2015.

[2] Bun­desmin­is­terium für Arbeit und Soziales, Lebensla­gen in Deutsch­land – Der vierte Armuts– und Reich­tums­bericht der Bun­desregierung, Berlin 2013, S. IX f. und das Inter­view mit Arbeitsmin­is­terin von der Leyen, in: „Bild“, 6.5.2013.

[3] Vgl. zum Ver­fahren: Ulrich Schnei­der, Armes Deutsch­land – Neuere Per­spek­tiven für einen anderen Wohl­stand, Frank­furt a. M. 2009.

[4] Vgl. Sta­tis­tis­che Ämter des Bun­des und der Län­der, www​.amtliche​-sozial​berichter​stat​tung​.de.

[5] Vgl. dazu Ulrich Schnei­der: „Die Reichen wer­den es danken“, in: Thorsten Schäfer-​Gümbel (Hg.), Eigen­tum verpflichtet – 14 mal Artikel 14 (2) Grundge­setz“, Frank­furt a. M. 2015, S. 131 – 137.

Quelle:

Weitere Artikel: linkezeitung.de vom 09.05.2015

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