Freitag, April 26, 2024
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Schiedsrichter bei Bedarf

(Eigener Bericht) – Auf deutsche Initiative hat die EU am gestrigen Montag ihre Verhandlungen mit der Türkei über eine engere Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr fortgesetzt. Weitreichende Vorschläge lagen auf dem Tisch; eine Einigung werde allerdings wohl erst in den nächsten Tagen erfolgen, hieß es gestern Abend. Ankara hat sich bereiterklärt, sämtliche Flüchtlinge, 

 

 

die über türkisches Territorium nach Griechenland eingereist sind, zurückzunehmen – ganz unabhängig von der Frage, ob ihnen Asyl zusteht. Dabei erfolgt die Intensivierung der Kooperation ungeachtet der Tatsache, dass Ankara seine Repression im Innern massiv verschärft. Ende vergangener Woche wurde zum wiederholten Mal eine oppositionelle Tageszeitung unter Regierungskontrolle gebracht. Die blutigen Operationen gegen kurdischsprachige Rebellen im Südosten des Landes halten an; Beobachter gehen von über 500 zivilen Todesopfern und bis zu 300.000 Flüchtlingen aus. Kritiker sehen das Land auf dem Weg in die Diktatur. Während die Bundesrepublik bereits weniger gewaltsame Vorgänge genutzt hat, um Kriege gegen ihre Gegner zu legitimieren – zum Beispiel im einstigen Jugoslawien -, plädiert der Bundesinnenminister diesmal dafür, Berlin dürfe sich nicht zum “Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte” machen. Sogar eine Resolution des Bundestags zum Armenier-Genozid ist vor einigen Tagen aus Rücksichtnahme auf die Türkei aufgeschoben worden.

 

Auf Regierungslinie gebracht
Vor dem EU-Türkei-Gipfel am gestrigen Montag hatte die Regierung in Ankara gleich mehrfach deutlich gemacht, dass sie an ihrer immer brutaleren Repressionspolitik festhalten wird. Zunächst übernahm sie die Kontrolle über die konservativ-oppositionelle Tageszeitung Zaman, das auflagenstärkste Blatt der Türkei, das zum Imperium des Predigers Fethullah Gülen gehört. Dabei stürmte die Polizei das Redaktionsgebäude und ging mit Wasserwerfern gegen Proteste vor. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Regierung sich die Koza İpek Holding unterstellt und damit die bis dahin oppositionellen TV-Sender Bugün TV und Kanaltürk sowie die ebenfalls bis dahin regierungskritischen Zeitungen Bugün und Millet auf Regierungslinie gebracht. Darüber hinaus waren der Chefredakteur und der Verleger der Zeitschrift Nokta – auch sie zählte zur konservativen Opposition um Gülen – inhaftiert worden, weil beide, wie es hieß, zum “bewaffneten Aufstand” aufgerufen hätten. Tatsächlich hatten sie mit internen AKP-Dokumenten Differenzen innerhalb der Regierungspartei nachgezeichnet. Der Zeitung Hürriyet wurde ein Kurswechsel nahegelegt, indem ein Mob unter der Führung eines AKP-Abgeordneten die Redaktionsräume zu stürmen versuchte und wenig später ein Journalist des Blattes zusammengeschlagen wurde.[1]

 

 
Kaum noch Opposition
Daneben hatte vor allem Schlagzeilen gemacht, dass zwei Redakteure der traditionsreichen Tageszeitung Cumhuriyet inhaftiert und in ein Hochsicherheitsgefängnis gesperrt wurden. Sie hatten im Mai 2015 Aufnahmen publiziert, die den türkischen Geheimdienst MIT bei der Lieferung von Waffen und Munition an islamistische Milizen in Syrien zeigten; Empfäger war womöglich der “Islamische Staat” (IS/Daesh). Die Inhaftierung der beiden Journalisten ist als Warnung vor kritischer Berichterstattung jeglicher Art verstanden worden. Insgesamt sind, wie berichtet wird [2], allein im Jahr 2015 vier Journalisten ermordet, 69 körperlich angegriffen, 62 bedroht oder verbal attackiert, 120 in Untersuchungshaft genommen, 31 verurteilt worden; 348 Journalisten wurden entlassen oder anderweitig zur Aufgabe ihrer Tätigkeit genötigt. Ein Redakteur, der bis Ende vergangener Woche für die Tageszeitung Zaman tätig war, wird mit der Einschätzung zitiert, von den landesweit relevanten AKP-kritischen Blättern seien “nur noch ‘Cumhuriyet’ und ‘Sözcu’ übrig” – “aber niemand weiß, wie lange”.[3]

 

 
Gummigeschosse und Tränengas
Nach der Übernahme der Tageszeitung Zaman hat die türkische Polizei am Wochenende zudem mindestens zwei Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst – ein in dem Land längst übliches Vorgehen. Polizisten feuerten mit Gummigeschossen in eine Demonstration zum Internationalen Frauentag in Istanbul, auf der Gewalt gegen Frauen in der Türkei angeprangert wurde. Eine weitere Demonstration gegen Gewalt an Frauen in Ankara wurde ebenfalls mit Gewalt aufgelöst. Direkter Repression sind nicht nur Protestdemonstrationen ausgesetzt, sondern auch Menschenrechtsanwälte. Bekannt geworden ist insbesondere der Fall von Tahir Elçi, dem ehemaligen Präsidenten der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakir. Elçi hatte sich für Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Südosten der Türkei eingesetzt. Am 20. Oktober 2015 wurde er festgenommen, weil er in einer TV-Sendung die Auffassung vertreten hatte, die PKK sei keine Terrororganisation, sondern “eine bewaffnete politische Bewegung”.[4] Elçi wurde, während die Justiz den Prozess gegen ihn vorantrieb, freigelassen, wurde allerdings am 28. November ermordet. Der Fall ist bis heute nicht geklärt. Eine Protestdemonstration gegen den Mord, die noch am selben Tag in Istanbul stattfand, wurde von der Polizei unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst.[5]

 

 
Auf dem Weg in die Diktatur
Zusätzlich setzten türkische Polizisten und Militärs vor dem gestrigen EU-Türkei-Gipfel ihre blutigen Operationen im Südosten des Landes fort. Menschenrechtsorganisationen werfen den türkischen Repressionskräften seit Beginn der Kämpfe gegen kurdische Rebellen vor, übermäßige Gewalt anzuwenden und zahlreiche Zivilisten zu töten. Internationale Proteste haben zuletzt die monatelangen Militäraktionen in der Großstadt Cizre ausgelöst, die vollständig von der Außenwelt abgeriegelt wurde. In Cizre schlossen die Militärs Dutzende schwerverletzte Zivilisten in Kellern ein und verweigerten ihnen tagelang jegliche medizinische Versorgung. Nachdem sieben von ihnen ihren Verletzungen erlegen waren, stürmten die Truppen die Gebäude; von einem Massaker mit bis zu 60 Todesopfern wird berichtet. Insgesamt beziffern Beobachter die Anzahl der zivilen Todesopfer, die meist Operationen der türkischen Repressionsapparate angelastet werden, auf mehr als 500; es heißt, bis zu 300.000 Menschen seien auf der Flucht.[6] Bereits vor der schlimmsten Eskalation der staatlichen Gewaltoperationen im Südosten des Landes urteilten Beobachter, die Türkei “steuert geradewegs in eine Diktatur”.[7] Mittlerweile ist Ankara auf diesem Weg ein erhebliches Stück vorangeschritten.

 

 
Flexible Parole
Berlin, das die eigenen außenpolitischen Aggressionen üblicherweise mit Verweisen auf “Freiheit” und “Menschenrechte” legitimiert, die es zu schützen gelte – exemplarisch war der Krieg gegen Jugoslawien 1999 -, sieht sich aufgrund der internationalen Proteste mittlerweile zu Reaktionen veranlasst. Während Politiker aus der zweiten Reihe sich vorsichtig kritisch gegenüber Ankara äußern und damit die Proteste geschickt einfangen, gibt Bundesinnenminister Thomas de Maizière die offizielle Regierungslinie für die Türkei-Politik vor: “Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein.”[8] Die Formulierung ist geschickt gewählt; sie schließt nicht aus, das “Thema Menschenrechte” jederzeit im Kampf gegen außenpolitische Rivalen wieder zu nutzen, ermöglicht es aber, Verbündete – zu ihnen zählt die Türkei – davon auszunehmen.

 

 
Rücksichtsvoll
An de Maizières neuer Maxime orientiert sich auch der Deutsche Bundestag. Dort liegt schon seit Monaten ein Antrag auf Eis, der Äußerungen des Bundespräsidenten vom vergangenen Jahr zum Armenier-Genozid in einen Parlamentsbeschluss fassen soll. Joachim Gauck hatte am 23. April 2015, hundert Jahre nach Beginn des Genozids, von einer “genozidale(n) Dynamik” im damaligen Osmanischen Reich gesprochen, “der das armenische Volk zum Opfer fiel”.[9] Gauck kam damit einer Anerkennung des Genozids so nahe wie kein Repräsentant der Bundesrepublik zuvor. Seine Äußerung erfolgte zu einer Zeit, zu der die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara äußerst gespannt waren und es sich daher anbot, vom “Thema Menschenrechte” Gebrauch zu machen. Weil die Verhältnisse sich mit Blick auf die Kooperation bei der Flüchtlingsabwehr inzwischen aber gewandelt haben, haben sich die Fraktionen der Bundesregierung und von Bündnis 90/Die Grünen geeinigt die Befassung mit dem Antrag aus Rücksichtnahme auf Ankara zu verschieben.[10]

 

 
Im historischen Rückblick
Dabei lieferte der Umgang mit dem Genozid schon 1915 Einblicke in den flexiblen Umgang der deutschen Außenpolitik mit dem “Thema Menschenrechte”. Berlin ersparte dem Osmanischen Reich damals nicht nur Kritik am Massenmord an mehr als einer Million Menschen. Deutsche Amtsträger waren auch tief in das Verbrechen involviert: Ziel war es, gegen den gemeinsamen Feind Russland vorzugehen.[11] Während deutsche Stellen in den Genozid eingebunden waren, erklärte Berlin, man führe den Krieg gegen Russland zum Schutz der Menschenrechte und wolle lediglich die russische Bevölkerung vom “Joch des Zaren” befreien. Die Behauptung sollte die Sozialdemokratie für den Krieg gewinnen. Am Despotismus des Zaren war damals nicht zu zweifeln, an der fürchterlichen Brutalität des Armenier-Genozids allerdings noch weniger. Dass dem deutschen Krieg tatsächlich die Sorge um Menschenrechte zugrunde gelegen haben könnte, vermutet im historischen Rückblick niemand mehr.

 

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