Freitag, April 26, 2024
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Alexandria: Das verlorene Paradies der Bücher

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Die Bibliothek von Alexandria ist eines der größten Mysterien der Geschichte. Von Alexander dem Großen gegründet, enthielt sie über Jahrhunderte das »Wissen der Welt«. Dann verschwand sie spurlos.

Das genaue Datum weiß niemand mehr, aber es war das wichtigste Ereignis des Jahres 305 v. Chr. in der ägyptischen Boom-Stadt Alexandria: König Ptolemaios I. begibt sich mit seinem Gefolge zum Hafen, um dort persönlich einen Flüchtling zu begrüßen, der soeben auf einem Schiff eingetroffen ist. Demetrios von Phaleron, Philosoph und in Ungnade gefallener Staatsmann aus Athen, ist mit knapper Not den neuen Herrschern der alten Metropole entkommen.

Dass er nun ausgerechnet in Alexandria mit allen Ehren empfangen wird, hat brisanten Symbolcharakter: Die beiden Städte konkurrieren um die Führung im Reich. Eroberer Alexander der Große wollte seine Neugründung im Nildelta zum Zent­rum der Welt machen – zum Ärger der Athener. Jetzt, 20 Jahre nach Alexanders Tod, vollzieht sein Nachfolger Ptolemaios I. den wichtigsten Schritt dafür: Der Gast, den er vom Hafen abholt, soll der Schlüssel zum Erfolg sein.

Die beiden Männer gehen zum »Museion«, der im Bau befindlichen Universität der Stadt. Hier betreten sie das Herz der Anlage, die neue Bibliothek.

Hunderte von Metern leerer Regale passieren sie (griech. Biblioteca: Regal). Dann legt der Herrscher den Arm um die Schulter seines Gastes und sagt: »Deine Untertanen sind 

noch nicht da. Du wirst sie kommen lassen müssen aus allen Winkeln des Universums. Ich habe bereits Boten ausgesandt.« Damit hat er Demetrios die Leitung angeboten – mit Untertanen meint er die Bücher, mit denen das gesammelte Wissen der Welt an eben diesem Platz zusammengetragen werden soll.

Es gibt heute nichts mehr, was die Existenz der sagenhaften und größten Bibliothek der antiken Welt beweisen könnte. Erwähnungen in Schriften lassen schemenhaft das Bild eines Projektes erkennen, das zum Ehrgeizigsten zählt, was die Menschheit je geplant hat. Tausend Jahre nachdem Demetrios sein Amt angetreten hatte, gingen die letzten Papyrus-Rollen in Flammen auf. Nach glanzvollen Jahrhunderten war die Bibliothek durch Kriege, Eroberungen und Plünderungen gerupft und zerzaust worden – bis am Ende nichts mehr von ihr übrig war.

Demetrios erweist sich als der richtige Mann für den Aufbau. Jedesmal wenn Ptolemaios I. die Bibliothek besucht, fragt er: »Wie viele Bücher haben wir bereits?« Demet­rios kann ihn immer zufrieden­stellen – die Zahl wächst rasch. Bevollmächtige des Königs reisen durch die Welt und kaufen Privatbibliotheken auf, Soldaten entern Schiffe, die sich dem Hafen von Alexandria nähern, und beschlagnahmen ihre Bücher – »unseren Schiffsfonds« nennen die Bibliothekare diese Ware.

Wie viele von ihnen damit beschäftigt waren, die täglich eingehende Fracht neuer Papyrusrollen sich sichten, zu beschriften und zu archivieren, ist nicht verbrieft, es werden Hunderte gewesen sein, die in kürzester Zeit angeworben wurden. Vollständigkeit lautet das Ziel ihrer Arbeit, die Demetrios in zehn Bereiche einteilte: Rhetorik, Recht, Epik, Tragik, Lyrik, Geschichte, Medizin, Mathematik Naturwissenschaften und Verschiedenes.

Schon bald gibt es Triumphe zu begießen: Man feiert die erste Gesamtausgabe der Werke Homers und beschränkt sich nicht aufs Archivieren – man korrigiert auch. So spricht sich herum und wird überall in der Stadt belacht, dass die Bibliothekare mehrere Tage lang darüber berieten, ob man in der »Odyssee« das Wort »Fraß« für Soldatennahrung stehen lassen könne, da es Futter für Tiere benenne. Man rang sich dann dazu durch – schließlich war Homer der größte Dichter aller Zeiten. Das bekam auch der für seinen beißenden Zynismus bekannte Satiriker Zoilos von Amphipolis zu spüren, als er nach Alexandria reiste, um dort gegen Homers angeblich schlampige Dichtkunst zu lästern: Er wurde wegen »Vatermordes« zum Tode verurteilt.

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(Stadtplan des antiken Alexandria. Das Museion befand sich im Nordosten, das Serapeion im Südwesten)

Unter Ptolemaios III. (284–222 v. Chr.) hatte die Bibliothek ihre Blütezeit – die Zahlenangaben über die Werke in den Regalen schwanken zwischen 40000 und 700000. Grund für die Differenz: Manche zählen jede Rolle einzeln, andere die Werke, von denen die meisten mehrere Rollen umfassten. Die Schriften von Sophokles, Aeschylos, Euripides und Aristoteles (eine Schenkung der Athener Bibliothek zum Zeichen der Aussöhnung) sind vollständig vertreten, der komplette Priester Zarathustra mit zwei Millionen Versen steht in den Regalen, das Alte Testament der Juden wird ins Griechische übersetzt.

Das Leben der Bibliothekare und der Wissenschaftler im Museion, die im regen Austausch miteinander stehen, ist paradiesisch. Sie haben freie Kost und Logis, erhalten ein festes Gehalt und verpflichten sich im Gegenzug zu öffentlichen Vorlesungen und Unterricht für die Kinder des Königshauses. Der Physiker Strabon von Amasaia, der als Lehrer ans Museion verpflichtet wurde und dessen Standardwerke über Astronomie ebenfalls die Bibliotheksregale bereichern, schildert begeistert die Anlage: »Das Museion hat einen Peripator (Säulengang) mit schattigen Laubenecken zum Verweilen, eine Exedra (zum Hof offener Veranstaltungsraum) und einen Megar Oiko, ein großes Gebäude, das den Mitgliedern als Speiseaal dient.«

Als Superhirn unter den Bibliothekaren galt Aristophanes von Byzanz, der zu allen Texten Einführungen und Erläuterungen verfasst. Er kennt das Jahr der Premieren der Theaterstücke, er weiß, wie sie vom Publikum aufgenommen wurden – eigentlich, heißt es, brauche man die empfindlichen Papyrusrollen gar nicht, Aristophanes’ Gedächtnis genüge vollauf. Aber er begnügt sich nicht mit dem Elfenbeinturm: Aristophanes erfindet den »Alexandrinischen Kanon« – den ersten Reader’s Digest der Weltliteratur: Er wählt aus jeder Gattung beispielhaft gelungene Texte aus. Sie sind jedem zugänglich, allerdings nur zu bestimmten Zeiten: Die Bewohner Alexandrias dürfen einmal im Jahr zum Adonisfest die Bibliothek betreten.

Alexandria entwickelt sich zur ersten multikulturellen Metropole der Welt. Neben Makedoniern und Griechen haben sich vor allem Perser, Syrer, Araber, Inder und Juden angesiedelt, 500 000 Menschen leben unter Ptolemaios III. in der Stadt. Die Theater sind jeden Abend ausverkauft. Historiendramen und Haremsgeschichten sind bei den Griechen am beliebtesten, die Juden, zweitstärkste Bevölkerungsgruppe, haben es gern etwas schwergewichtiger: Sie bevorzugen die Tragödien von Ezechiel, dessen Moses-Geschichten und Darstellungen der Babylonischen Gefangenschaft das Publikum zu Tränen rühren.

Die vielen Geistesgrößen in der Stadt schaffen ein kulturell nie da gewesenes Klima der Offenheit, Alexandria zieht immer mehr Besucher an, die anschließend von der neuen Großstadt schwärmen. In Griechenland beobachtet man das mit Neid. Andere Städte fühlen sich angestachelt, ebenfalls in Bibliotheken zu investieren, allen voran Pergamon, dessen Herrscher Attalos I. stolz verkünden lässt, seine Bibliothek habe nunmehr den kompletten Demosthenes in ihren Regalen – noch vollständiger als der in der Bibliothek von Alexandria. Und obendrein besitze er eine bis dahin unbekannte Philippika dieses größten Redners aller Griechen – die als Fälschung entlarvt wird. Es gelingt Pergamon trotzdem, nicht zuletzt durch die Erfindung des Pergaments, sich als ernst zu nehmender Konkurrent zu etablieren – mit der Folge, dass die Anschaffungspreise für Bücher in die Höhe schnellen: Buchhändler nutzen die Konkurrenzsituation der Bibliotheken weidlich aus.

In Alexandria beschließt man Renovierungsarbeiten: 40000 Papyrusrollen müssen dafür vorübergehend in Lagerhallen am Hafen aufbewahrt werden – eine Entscheidung mit fatalen Folgen.

Historiker sind sich nicht einig, ob der Brand im Hafen oder spätere Katastrophen das langsame Ende der Bibliothek von Alexandria einläuteten. Lange ging man davon aus, dass Cäsar (100 – 44 v. Chr.) und die von ihm im Jahr 48 verursachte Feuersbrunst schuld war. Fakt ist: In Rom, der Hauptstadt der neuen Weltherrscher, tobte der Machtkampf zwischen Gallien-Bezwinger Cäsar und Pompejus, der Griechenland und Asien erobert hatte. Im Ägypten kommt es zum Showdown zwischen den beiden. Cäsar siegt, aber im Hafen gibt es ein Desaster: Cäsars Soldaten schießen mit Pechfackeln auf die Fliehenden und treffen nicht nur sie: In wenigen Minuten stehen die Arsenale an den Kaimauern in Flammen, die mit Korn gefüllt sind – und mit ausgelagerten Büchern. 40000 Rollen verbrennen.

Das Stück Weltgeschichte, das dann begann, schildert der italienische Historiker Luciano Canfora so: »Bei Einbruch der Dunkelheit begehrte ein Teppichhändler, vor Cäsar geführt zu werden. Er hieße Apollodoros, komme aus Sizilien und habe ein Geschenk. Einmal vorgelassen, entrollte er sein Bündel: Da lag in ihrer ganzen, nicht übermäßigen Länge hingestreckt Kleopatra, die sich zur Tarnung einen Leinensack übergezogen hatte. Als sich das Bündel öffnete, verharrte Cäsar fasziniert von der Kühnheit dieser Frau.« Die ersten Worte, die Kleopatra (69–30 v. Chr.), Schwester des zehnjährigen Königs Ptolemäus VIII., an den römischen Bezwinger richtet: »Oh, Cäsar, ich bitte dich, verschone die Bibliothek.«

Die profitierte erst einige Jahre später von der römisch-ägyptischen Liaison: Markus Antonius (83–30 v. Chr.), Cäsars Nachfolger als Geliebter Kleopatras, schenkte ihr 300000 Schriftrollen aus Pergamon als Entschädigung für die Verluste in den Hafenarsenalen. Für Pergamon bedeutete dies das Ende.

Die Machtübernahme der Römer erwies sich auch sonst als ein Glücksfall für Alexandria. Die Bibliothek ging in den Besitz Roms über, der Kaiser selbst wurde »Erster Bibliothekar«. »Bis ins dritte Jahrhundert hinein sind die Namen großer Philosophen, Theologen und Wissenschaftler mit der Stadt und ihrer Akademie verbunden«, schreibt der deutsche Historiker Erik Fischer. Es gibt jedoch wenig Verbrieftes über das Schicksal der Bibliothek danach. Man weiß nur, dass 272 Aurelian schwere Verwüstungen anrichtete – und 297 schloss Diokletian die Bibliothek. Ihr Bestand wurde offenbar vorerst nicht angetastet, Forscher glauben jedoch, dass sie nicht mehr gepflegt wurde und verfiel.
Wer der Bibliothek den endgültigen Garaus machte, kann man sich aussuchen: Moslems werden sich für die erste Variante entscheiden, Christen für die zweite – beide basieren auf Legenden und Theo­rien. War es der christliche Patriarch von Alexandria, Theophilios?

Er ließ im 4. Jahrhundert, als das Christentum römische Staatsreligion geworden war, alle heidnischen Tempel und Anlagen zerstören. Oder war es drei Jahrhunderte später der arabische Feldherr Amr, der für seinen Kalifen Omar 642 n. Chr. Alexandria eroberte? Er schrieb ihm: »Die Stadt hat viertausend Paläste, viertausend öffentliche Bäder, vier-hundert Theater oder Vergnügungsstätten, zwölftausend Obstläden und eine Bibliothek.« Was er mit Letzterer machen solle.Aus dieser Frage schließen Historiker, dass es noch Restbestände gegeben haben muss, als die Stadt in die Hände der Araber fiel.

Die Antwort des Kalifen: »Bezüglich der Bücher, von denen du mir berichtest, lautet mein Befehl: Wenn ihr Inhalt sich mit dem Buch Allahs vereinbaren lässt, können wir auf sie verzichten, da in diesem Fall der Koran mehr als ausreichend ist. Enthalten sie hingegen Dinge, die abweichen von dem, was der Barmherzige zum Propheten gesagt hat, dann gibt es erst recht keinen Grund, sie aufzubewahren. Handle also und vernichte sie alle!«
Amr tat dies nur schweren Herzens. Denn in den Wochen, in denen er auf Antwort von seinem Kalifen wartete, hatte ihn der letzte Bibliothekar von Alexandria, Johannes Philoponos, mit den Schätzen vertraut gemacht. Aber der General musste gehorchen. Die Papyrusrollen reichten, um die öffentlichen Bäder Alexandrias sechs Monate lang zu beheizen.

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Sinnlos ist allein schon der Versuch, einen verheerenden Brand überhaupt ermitteln zu wollen, der die große Bibliothek und ihre Bestände vernichtete. Alexandria war oft genug eine instabile Stadt, insbesondere in der Römerzeit, wie dies Cäsars Kampf gegen die ägyptischen Schiffe ebenso wie das heftige Ringen zwischen den Besatzungstruppen von Königin Zenobia von Palmyra und dem römischen Kaiser Aurelian 270/271 bezeugen.

Aurelian nahm Königin Zenobias Truppen schließlich die Stadt im Namens Rom ab. Zuvor wurden jedoch viele Teile von Alexandria zerstört und das Brucheion-Viertel, in dem sich der Palast und die Bibliothek befanden. Einige Jahre später wurde die Stadt durch den römischen Kaiser Diokletian erneut gebrandschatzt. Eine derart wiederholte Be-schädigung, die sich über mehrere Jahrhunderte verteilte, sowie das Desinteresse an den Inhalten der Bibliothek, als sich die Weltanschauungen und die nicht nur politischen Zugehörigkeiten änderten, deuten darauf hin, dass die Katastrophe allmählich, im Laufe von 400 oder 500 Jahren vonstatten ging.

Der letzte historisch verbürgte Leiter der großen Bibliothek war der Gelehrte und Mathematiker Theon (um 335-405), der Vater der Philosophin Hypatia, die 415 in Alexandria von einem christlichen Mob brutal ermordet wurde. Vielleicht wird man eines Tages in den Wüsten Ägyptens Schriftrollen entdecken, die einst der bedeutenden Bibliothek gehörten. Viele Archäologen glauben, dass die Gebäude, die einst den legendären Sitz des Wissens in Alexandria darstellten, noch immer irgendwo im nord-östlichen Teil der Stadt relativ intakt erhalten sein könnten und unter der modernen Metropole begraben sind.

Angebliche Wiederentdeckung

2004 machte ein polnisch-ägyptisches Archäologenteam Schlagzeilen, als es behauptete, bei Ausgrabungen im Gebiet des Brucheion einen Teil der Bibliothek von Alexandria entdeckt zu haben. Die Archäologen fanden 13 Hörsäle, jeden mit einem erhabenen zentralen Podium. Allerdings stammen die Bauten aus der spätrömischen Zeit (5. bis 6. Jahrhundert) und stellen somit kaum das berühmte Museion oder die königliche Bibliothek dar. Die Untersuchungen dieses Areals sind noch nicht abgeschlossen. 1995 wurde mit dem Bau der Bibliotheca Alexandrina begonnen, einer großen Bibliothek und einem Kulturzentrum in der Nähe der ursprünglichen Bibliothek. Offiziell wurde der riesige Komplex am 16. Oktober 2002 eröffnet zum Gedenken an die verschwundene Bibliothek von Alexandria und um die intellektuelle Strahlkraft, die das ursprüngliche Zentrum auszeichnete, wieder zu entfachen. Hoffentlich wird die Existenz einer neuen Universalbibliothek beweisen, dass zumindest der Geist der alten Bibliothek nicht verloren gegangen ist.

Heutige Wissen fast nur den Servern anvertraut

Nahezu das komplette Wissen der jüngsten Zeit und Früheres zudem, wird auf Servern abgespeichert und so allen Menschen zugänglich gemacht. Was jedoch offenbar nicht bekannt ist, ein gigantischer Blackout könnte theoretisch große Teile des abgespeicherten Wissens vernichten. So wie im Analogzeitalter eine zerbrochene Schallplatte praktisch das Ende der Aufnahme bedeutete, kann eine Vernichtung von wichtigen Servern (zum Beispiel infolge eines gigantischen Sonnensturmes) das komplette Internet lahmlegen. Auch eine Schadsoftware könnte zu einer derartigen Reaktion führen.

Das Wissen der Welt auf Servern auszulagern mag insofern zwar praktisch sein, aber ob es das Wissen der Menschheit auch dauerhaft konserviert, ist fraglich. Dies gilt umso mehr, als dass viele Lesegeräte schon heute nicht mehr aufzutreiben sind. Insofern kann abgespeichertes Wissen auf Dauer auch nicht mehr lesbar sein und insofern wertlos werden. Beschriftete Tontäfelchen hingegen haben Jahrtausende überdauert. Eine analoge Auslagerung in Form von Büchern sollte daher nicht gänzlich vernachlässigt werden, um das Wissen der Menschheit dauerhaft abrufbar zu machen.

Quellen: PRAVDA TV/pm-magazin.de/Wikipedia/amazing-gazette.de/techtix.de vom 11.12.2014

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