Samstag, April 27, 2024
StartPolitikEuropaGabriel: Merkel setzt US-Willen um – Forderung nach deutscher Geostrategie

Gabriel: Merkel setzt US-Willen um – Forderung nach deutscher Geostrategie

Die bundesdeutsche Außenpolitik muss wieder geostrategisch denken. Das haben am Dienstag in Berlin ein Journalist, ein Ex-Bundesminister und ein Ex-Diplomat gemeinsam gefordert. Sie haben zudem „zu viel Moral“ in der Berliner Politik bedauert. Für sie geht es um Interessen – auch gegenüber Russland.

Die Außenpolitik Berlins soll sich von ihrer moralischen „Selbstüberhebung“ gegenüber anderen verabschieden. Das forderten am Dienstag in Berlin neben dem Journalisten Christoph von Marschall der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK). Gleichzeitig richteten sie Vorwürfe an Russland, mit dem aber geredet werden müsse. Das dürfe aber nur abgestimmt mit den Partnern der Europäischen Union (EU) und den USA geschehen.

Berlin müsse wieder mehr Realpolitik betreiben, sagte Marschall, USA-Korrespondent der Zeitung „Der Tagesspiegel“, bei der Vorstellung seines Buches „Wir verstehen die Welt nicht mehr – Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“(Verlag Herder 2018). Deutschland dürfe sich nicht mehr auf seine Geschichte berufen und könne so viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg keine Sonderrolle mehr spielen. Das hätten ihm hochrangige politische Gesprächspartner in Washington, Paris und Warschau erklärt. Es müsse als weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht und stärkstes Land in der EU nüchtern seiner Verantwortung gerecht werden.

Wen bedroht Russland?

Marschall geht in dem Buch auf mehreren Seiten auch auf das Verhältnis zu Russland ein. Es handele sich um eine „militärische Großmacht“, aber einen „ökonomischen Zwerg“. Moskau habe auf deutsche Gesprächsangebote immer mit „Njet“ geantwortet und breche immer wieder seine Zusagen, behauptet der Journalist. Er fragt gar, indem er zum Beispiel russische Militärmanöver wie „Zapad 2017“ „böse interpretiert“: „Vielleicht will Putin mit seinem Russland tatsächlich werden, was er in der Sprache seiner deutschen Freunde schon ist – ein direkter Nachbar Deutschlands.“

Er wiederholt westliche Vorwürfe gegen Moskau im Zusammenhang mit der Ukraine und der Krim. Auf die Sputnik-Nachfrage, welche Rolle Russland in der eingeforderten geostrategischen Debatte spiele, erklärte Marschall, er wünsche sich von Berlin eine „ganz nüchterne Interessenspolitik“ gegenüber Moskau. Russland ließe sich nicht aus Europa „herausdenken“ und sei Teil der Lösung von Problemen.

Deshalb dürften aber nicht einfach die russischen Forderungen akzeptiert werden, zum Beispiel die aktuelle nach EU-Geldern für den Wiederaufbau in Syrien. Dort habe Russland Städte zerbombt, begründete Marschall das, weshalb die Forderung „ziemlich dreist“ sei. Nur in den Gebieten, die nicht von Damaskus und Moskau kontrolliert würden, sollten Brüssel und Berlin Aufbauhilfe leisten.

Nicht ohne die EU und die USA?

MSK-Chef Ischinger sagte dazu, „wesentliche Teile deutscher Interessen gegenüber Russland sind nur zu verwirklichen, wenn wir das gemeinsam oder in Absprache mit den USA tun“. Dazu gehöre, die Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen wieder in Gang zu bringen. So habe die Bundesrepublik an der Verlängerung des INF-Vertrages zu nuklearen Mittelstreckenraketen ein „existenzielles Interesse“.  Zuvor hatte er erklärt, dass es Diplomatie auszeichne, mit den Gegnern zu reden.

Gabriel warnte – als bekennender Nord Stream 2-Befürworter – in dem Zusammenhang davor, gegenüber Russland nur deutsche Interessen zu verfolgen. Er forderte stattdessen wiederholt: „Keine deutsche Sonderpolitik mit Russland!“ Anlass ist ihm dafür unter anderem die polnische Nervosität, wenn Berlin mit Moskau angeblich „über die polnischen Köpfe hinweg“ verhandle. Deshalb müsse das immer in die EU eingebunden werden, „auch wenn unsere wirtschaftlichen Interessen dabei negativ tangiert werden, siehe die Sanktionen“.

Macht es Moskau Berlin schwierig?

Er schob auf eine weitere Frage aus dem Publikum nach, Russland sei eine „revisionistische Macht, die bereit ist, Grenzen zu verändern“. Es habe erstmals in Europa „Grenzen verschoben, durch eine militärische Intervention in einem Nachbarland“. Das mache den gegenwärtigen Dialog mit Moskau schwieriger als mit der einstigen „Status quo-Macht“ Sowjetunion, bedauerte der Ex-Außenminister.

Leider zeigte er damit, wie er es selbst mit dem zuvor beklagten „moralischen Rigorismus“ und den westlichen Doppelstandards, gerade angesichts der Rolle der deutschen Politik seit 1990 zum Beispiel beim Zerfall Jugoslawiens, hält. Er verriet auch nicht, ob er als Außenminister und später solcherlei Vorwürfe seinen Gesprächspartnern in Washington, Paris und London gemacht hat.

Wer will deutsche Führungsrolle?

Zuvor drehte sich die Podiumsdiskussion von Marschall, Gabriel und Ischinger um die Grundlinien deutscher Außenpolitik, die aus ihrer Sicht fehlende geostrategische Debatte und das Verhältnis zu den USA. Der Ex-Außenminister stimmte dem Journalisten teilweise zu: „Wir tun in Deutschland Dinge, von denen wir selber überzeugt sind: Das ist das Gute und moralisch Bessere für den Rest der Welt. Und wundern uns, wenn andere in der Welt das völlig anders sehen, und ziehen uns gern zurück auf einen moralischen Rigorismus.“

Gabriel widersprach Marschall und verwies auf eigene Gesprächspartner in Polen und Frankreich, die Zweifel daran hegen würden, ob Deutschland nach seiner wirtschaftlichen und politischen Führungsrolle in der EU auch noch militärische Führungsmacht werden solle. Gleichzeitig werde der deutschen Politik der Vorwurf gemacht, sich überall raushalten zu wollen, wo sie Verantwortung übernehmen müsse.

Hat Putin Anstoß geliefert?

Wie der Ex-Außenminister und der „Tagesspiegel“-Korrespondent bedauerte der MSK-Vorsitzende Ischinger, dass es in der Bundesrepublik keine öffentliche Debatte über geostrategische Fragen gebe. Dabei sei diese seit der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der MSK im Jahr 2007 „überfällig“.

„Da wurde uns nämlich mitgeteilt: Die Dinge sind anders, als wir bis dahin dachten. Es wurden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, an das Verhalten der amerikanischen Supermacht. Seit dieser Zeit haben wir es mit einer zunehmenden weltpolitischen Konfliktlage zu tun.“

Ischinger erinnerte daran, dass der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2014 auf der MSK mehr deutsche Verantwortung in der Welt einforderte. Doch im aktuellen Koalitionsvertrag gebe es nur einen knappen Passus zur deutschen Rolle in der Welt. Es reiche nicht aus, mehr Verantwortung einzufordern, sondern es müsse auch etwas getan werden. Sonst werde die deutsche Politik „untergebuttert“, wie sich in Syrien derzeit zeige, meinte der Ex-Diplomat.

Was macht Polen Angst?

Er forderte dazu auf, nicht nur die militärischen Fähigkeiten zu sehen. Dem stimmten Marschall und Gabriel zu. Letzterer warnte unter anderem davor, dass Deutschland, wenn es die Forderung nach zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Rüstung erfülle, mit 80 Milliarden Euro jährlich stärkste Militärmacht innerhalb der EU wäre. Das würde anderen Mitgliedsländern Sorgen machen, so der Ex-Minister.

Er konstruierte dabei zugleich eine mögliche Verbindung eines hochgerüsteten Deutschlands gemeinsam mit Russland. Das werde in Warschau mit Blick in die Geschichte befürchtet: „Geografie und Geschichte bestimmen Politik auch heute noch“, erklärte Gabriel seinen Zuhörern.

Setzt Merkel US-Willen um?

In der Diskussion um Marschalls Buch, moderiert von „Tagesspiegel“-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff, wurde Kanzlerin Angela Merkel dafür mitverantwortlich gemacht, dass in Deutschland nicht über Geostrategie und die eigenen Interessen dabei debattiert werde. Das sei so gewollt, sagte Gabriel dazu: „Fast 70 Jahre lang gab es in den USA eine Verabredung über die eigene Politik: Wir übernehmen die Sicherheit Europas und insbesondere Deutschlands.“Das sei US-amerikanischer Wille und eine bewusste strategische Entscheidung nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, um einen dritten zu verhindern, zitierte der SPD-Politiker den US-Politologen Robert Kagan. Dabei sei akzeptiert worden, dass die europäischen Gelder statt in die Rüstung mehr in die zivile Wirtschaft und soziale Aufgaben flossen, samt der deutschen Wirtschaftskraft. Dafür stehe Merkel und deren Weigerung, eine strategische Debatte zu führen.

Casdorff zitierte als These aus Marschalls Buch, das die Bundesregierung wisse, dass die USA der wichtigste Partner in vielen Politikfeldern bleibe, trotz US-Präsident Donald Trump. „Sie sagt es aber nicht laut, sondern nimmt hin, dass eine Stimmung entsteht, als sei Trump das größte globale Problem und als könnten Deutschland und Europa es sich leisten, sich von den USA abzukoppeln.“

Transatlantische Nabelschnur?

Für Ischinger geht es bei der „Emanzipation“ der EU um ein „Erwachsenwerden“, um für die USA zum „Partner“ zu werden. Trump sei so etwas wie ein „Weckruf“. Dabei dürfe aber die „Nabelschnur zu Amerika“ nicht gekappt werden. Diese könne durch nichts auf absehbare Zeit ersetzt werden.

Der Abstand habe schon unter US-Präsident Barack Obama begonnen, erinnerte Gabriel. Aus seiner Sicht haben sich die USA unter Trump von ihren „Freunden“ entfremdet, nicht umgekehrt. Das geschehe auch, in dem Europa „massiv malträtiert“ werde. So durch das „völkerrechtswidrige Instrument exterritorial wirkender Sanktionen“, mit denen deutsche Unternehmen im Fall Iran bedroht würden.

Gabriel veröffentlicht in Kürze ein eigenes Buch mit seiner Sicht auf die deutsche Rolle in der Welt: „Zeitenwende in der Weltpolitik – Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“. Zuvor soll noch Ischingers „Welt in Gefahr – Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten“ erscheinen.

Quelle!:

Empfohlene Artikel
- Advertisment -
Translate »