Freitag, April 26, 2024
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Nymphomaniac”: Depressionsanalyse von Lars von Trier

„Nymphomaniac”: Depressionsanalyse von Lars von Trier

 

 

 

Lars von Triers "Nymphomaniac"-Kinoprojekt liegt endlich in seiner vierstündigen Fassung vor. Stefan Grissemann über ein vertracktes Unternehmen, das nicht Lustforschung, sondern Fehler, Gruppe existiert nicht! Überprüfen Sie Ihre Syntax! (ID: 2)Depressionsanalyse betreibt.

Es sind kaputte Menschen, die Lars von Trier in seinen Filmen gern beschreibt. Die Verwüstung, auch die innere, ruft im Kino spannendere Bilder wach als beispielsweise Anstand und Gewissenhaftigkeit. Das weiß der Auteur aus Kopenhagen, die selbst ernannte 

Nemesis der bürgerlichen Normkunst, das auch mit bald 59 Lebensjahren ewig schreckliche Kind des Gegenwartskinos. So fordern seine Filme, die mit ihren Frauenopferkonstellationen oft verquer-feministisch argumentieren ("Breaking the Waves“, "Antichrist“), samt und sonders heraus, auf ästhetischer wie auf weltanschaulicher Ebene.

Das vierstündige Sexsucht-Stationendrama "Nymphomaniac“, dessen zweite Hälfte – sechs Wochen nach der ersten – ab sofort ebenfalls in den Kinos zu besichtigen ist, ist dennoch das seltsamste Gebilde, das die Werkstätte dieses Filmemachers je verlassen hat: Die wechselvolle Sexualgeschichte einer jungen Frau, die von frühkindlicher Vaginalstimulation bis zu neurotischer Geschlechtsfühllosigkeit reicht, ist als hintergründige Farce angelegt, aber als psycho-physischer Belastungstest formuliert. Die acht Kapitel, die sich über die 241 Minuten der (für den internationalen Start gegenüber dem noch unveröffentlichten Director’s Cut um angeblich anderthalb Stunden gekürzten) Kinofassung erstrecken, sind wohl auch für Filmfreunde, die Großaufnahmen interagierender Genitalien zu schätzen wissen, kein Osterspaziergang. Es geht in "Nymphomaniac“ nämlich weniger um die Lust am sexuellen Akt an sich als um die seelischen und fleischlichen Konsequenzen, die sich aus den Um- und Fehlleitungen erotischer Abhängigkeiten ergeben. Es wird in diesem – durchaus an den Nerven zerrenden und die Geduld strapazierenden – Doppelfilm nicht nur unentwegt gelitten und gehadert, viel und bitterlich geweint, sondern auch die konsensuale Körperverletzung erstaunlich drastisch inszeniert; das blutig aufklaffende Fleisch eines brutal gepeitschten Frauenhinterns etwa mag nicht jedermanns Sache sein.

 

Grundlagenforschung 


Pornografie ist für Lars von Trier länger schon ein Faszinosum (in "Idioten“ ließ er bereits 1998 Sexfilmprofis an- und auftreten, um seine nervösen Schnittfolgen mit ein bisschen genuiner Genitalpanik zu versehen, und Ende der 1990er-Jahre produzierte er sogar ein paar "echte“ Pornos); damit ist er in seinem Gewerbe naturgemäß nicht allein, denn das Kino arbeitet seit je mit dem Begehren und der Schaulust seiner Betrachter – der Voyeurismus und die Erotik des "verbotenen Sehens“ sind nicht weniger als die Prämissen dieses Mediums. Insofern betreibt von Trier mit seinen auf den ersten Blick so spekulativen Projekten Grundlagenforschung.

Bildungsballast 


Als Kammerspiel ist "Nymphomaniac“ gestaltet, nicht nur in der clever installierten, psychoanalytisch getönten Rahmenhandlung, die eine Frau mit zerschlagenem Gesicht und wüster sexueller Vergangenheit (Charlotte Gainsbourg) an einen erotisch unschuldigen Gelehrten (Stellan Skarsgard) geraten lässt. Die Geschichte, die sie bei einer Tasse Tee im Krankenbett erzählt, springt immer wieder aus dem Gleis, es gibt Voraus- und Rückblenden, Kapitelüberschriften werden ironisch zwischen Gast und Hausherr debattiert, das Storytelling selbst dauernd zum Thema gemacht. Von Triers Konzeptualismus ist schon daran sehr deutlich zu erkennen. Mehr noch aber tritt er in dem Bildungsballast zutage, den das scheinbar zufällige Gegenüber der desillusionierten, sich selbst anklagenden Nymphomanin einbringt: Der jüdische Mathematiker Seligman assoziiert zu dem sehr lebensnahen Bericht der Rekonvaleszenten unaufhörlich Theorie, zitiert sich – genau wie sein Regisseur – durch signifikante Bibelstellen und Zahlenaxiome, durch die Schriften Freuds und Thomas Manns, durch Bachs und Beethovens Kompositionstechniken.

Aufrichtigkeit der Obszönität 


Mit Moral kommt man bei Lars von Trier nicht weit. Von den Werten und Pflichten, die eine Gesellschaft sich als Maßregeln verordnet, setzt er sich ab, so weit es eben geht, um stattdessen die Aufrichtigkeit der Obszönität zu zelebrieren. So lässt er seine angeschlagene Heldin flammende Plädoyers gegen die menschliche Heuchelei und insbesondere das Diktat der politischen Korrektheit halten, das bekanntlich auch den Dänen (nach seinem auf ganzer Linie missglückten Nazi-Scherz in Cannes 2011) in eine Art Isolation manövriert hat. In diesem Sinne produziert er in "Nymphomaniac“ ein "anstößiges“ (aber eben auch: denkwürdiges) Bild nach dem anderen – etwa den ein wenig grotesken Widerstreit zweier schaukelnder Erektionen vor der entblößten, von ihren zankenden schwarzen Zufallspartnern vergessenen Heldin.

"Nymphomaniac“ ist, wie alle Filme Lars von Triers, ein heiteres Experiment mit bitterer Pointe, eine aus Gegensätzen kompilierte Versuchsanordnung: Konsum gegen Verzicht, Sadismus gegen Masochismus, Sex gegen Liebe, Gefühl gegen Verstand. An erotischer Literatur nimmt dieser Film eher Maß als am gemeinen Pornofilm: Von Pauline Réages S/M-Etüde "Die Geschichte der O“ (1954) reicht die Palette der Anspielungen in "Nymphomaniac“ zurück ins 14. Jahrhundert, zur episodischen Struktur von Geoffrey Chaucers "Canterbury Tales“ und Boccaccios "Decamerone“. Wenn das berühmte "Obszöne Werk“ des französischen Schriftstellers Georges Bataille, wie Susan Sontag einst notierte, die "Kammermusik der pornografischen Literatur“ darstellt, so könnte man auch das zwar nicht ganz so substanzielle, aber nicht weniger persönlich genommene "Nymphomaniac“-Projekt ein "Divertimento des pornografischen Problemfilms“ nennen. Bei aller Albernheit, die diesen Film auch durchzieht: Das Kaputte seiner Charaktere hat, so steht zu befürchten, viel mit Lars von Triers eigener Verfasstheit zu tun. Seiner Kunst kommt diese Privatheit zugute.

"Ich halte den Realismus für einen Irrtum“, schrieb Bataille 1962, in den letzten Wochen seines Lebens: "Nur die Maßlosigkeit des Verlangens und des Todes ermöglicht, die Wahrheit zu erreichen.“ Daran glaubt auch Lars von Trier, in diesem Geist arbeitet er: immer auf das Destruktive (und Befreiende) des Begehrens zu, stets der Demütigung (und der Erlösung) entgegen, die der Tod unweigerlich bringt. Und es ist offensichtlich, worauf der Regisseur mit seinen sexuell arg beschädigten Figuren am Ende zielt: keineswegs auf die Mitte der exponierten Leiber seiner Genitaldarsteller, die er mit den Körpern seiner teuren Stars digital verschneidet. Denn das Geschlechtsorgan, das den Menschen so sehr ruiniert, liegt direkt hinter seinen Augen.

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