Freitag, April 26, 2024
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„Wir flohen nicht aus Afghanistan, wir sind einfach gegangen“

Vor 30 Jahren gingen die letzten Einheiten der sowjetischen 40. Armee über die Freundschaftsbrücke über den Amudarja, den Grenzfluss zwischen der Sowjetunion und Afghanistan. War das ein Fehler?

Teilnehmer und Augenzeugen der damaligen Ereignisse erinnern sich daran, wie das die Welt beeinflusste, in der wir heute leben.

„Ein sehr gutes Haus, ich danke ihnen!“

Die Truppen verließen Afghanistan gemäß dem Genfer Abkommen von 1988. Formell waren die Vertragsseiten Afghanistan und das benachbarte Pakistan. Die USA und die Sowjetunion waren die Garanten. Kabul und Islamabad verpflichteten sich, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen einzumischen. In der Theorie sollten damit die Spannungen abgebaut werden – während des Bürgerkriegs strömten aus Pakistan Extremisten und Waffen nach Afghanistan. In dem Abkommen war auch der Terminplan für den Abzug der sowjetischen Truppen festgeschrieben.

Von Moskau wurde das Dokument vom damaligen Generalsekretär des Zentralkomitees  der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, und von Außenminister Eduard Schewardnadse unterzeichnet. Die gegen die afghanische Regierung kämpfenden Mudschaheddins weigerten sich, als Vertragsseite aufzutreten. Pakistan und die USA unterstützten weiterhin die „Aufständischen“.

„Der Abzug begann 1988 und löste gemischte Gefühle sowohl bei uns als auch bei den Afghanen aus“, erzählt Oberst Sergej Paschewitsch, der in einem Bataillon für den Schutz des Flughafens in Kandahar diente. „Man musste sehr viel Technik, Waffen, Kleidung, Kraft- und Schmierstoffe ausführen. Im Hinterland wurde berichtet, dass es in so einer knappen Frist nicht geschafft werde. Doch Gorbatschow setzte den Verteidigungsminister unter Druck. ‚Ich habe in Genf versprochen, die Truppen abzuziehen, setzt das um!‘“.

Befehl war Befehl, es wurde beschlossen, alles zurückzulassen. Die Afghanen waren auf der einen Seite beunruhigt, dass die sowjetischen Truppen weggehen, und auf der anderen Seite freuten sie sich darüber, dass ihnen Eigentum, Waffen, neue Garnisonen geschenkt wurden.

Laut Paschewitsch reagierten nicht alle auf dieses großzügige Geschenk mit Freude. „2006 war ich in Afghanistan. Bei Bagram und Kandahar sah ich Friedhöfe der verschenkten Militärtechnik. Und die von unseren Spezialisten errichteten Garnisonen und Gebäude? Die Afghanen lobten sie sehr spezifisch. Sieh, die Wand in eurem Haus kann nicht von einem Gewehr durchschlagen werden! Solch ein schönes Haus, wir danken euch!“. Das waren aber gewöhnliche Häuser, in sowjetischen Städten gab es ganze Viertel mit solchen Häusern. Afghanen wohnen auch heute in diesen Häusern, nur seit langem mit eingeschlagenen Fenstern und manchmal ohne Versorgungsleitungen.

Igor Tschernow war in den 1980er-Jahren Fernmeldeführer eines Straßen- und Kommandanten-Bataillons. Seine Einheit sicherte die Durchfahrt der Fahrzeugkolonnen auf der Straße von Chajraton bis zum Salangpass.

„Ich habe mehr als 30.000 Kilometer auf afghanischen Straßen zurückgelegt, wir hatten Bekannte in jedem Dorf, wir konnten immer vorbeischauen, Tee trinken“, erinnert er sich.

„Damals sagten selbst höfliche Afghanen böse zu uns – ‚Sie fliehen! Sie haben uns verraten!‘ Hat mich das beleidigt? Ich weiß es nicht. Ich bin Militär, ich lebte nach dem Prinzip – Befehl entgegennehmen, Befehl ausführen. Nach vielen Jahren machte ich mir natürlich darüber Gedanken, warum und wie wir Afghanistan verließen“.

Afghanen haben gutes Gedächtnis

Am 15. Februar 1989 überquerte der Befehlshaber der 40. Armee Boris Gromow als letzter des sowjetischen Militärs den Fluss Amudarja über die Freundschaftsbrücke. Hinter ihm blieben Grenzsoldaten, die den Abzug sicherten, und viele Anhänger der afghanischen postsowjetischen Regierung – Beamte, Offiziere, Lehrer.

Der ehemalige Offizier Naschimullah bat bei den Gesprächen zu diesem Artikel, seinen wahren Namen nicht zu nennen. Ihm zufolge ist er für seine Gegner im Bürgerkrieg schon seit langem tot. Er beteiligte sich gemeinsam mit sowjetischen Truppen an Operationen gegen die Mudschaheddin.

„Als ich Afghanistan verließ, kamen Leute zu meiner Familie und fragten – wo ist er? Er muss uns gegenüber büßen – so viele Menschen sind wegen ihm ums Leben gekommen“. Meine Familie antwortete: „Er ist verschwunden, im Krieg gibt es doch viele Vermisste“. Doch die Mudschaheddin waren aufrichtig, tasteten niemanden von meiner Familie an, sie wollten nur mich. Vieles über mich wurde bekannt, in den 1980er-Jahren ahnte niemand, dass alles so sein wird. Wir retteten sowjetische Spezialisten in einer Brotfabrik. Sie ist übrigens auch heute noch in Betrieb. Über mich wurde sogar in Zeitungen geschrieben – als Medaillen und Orden überreicht wurden“.

„Es sind viele Jahre vergangen, jetzt wird mich zu Hause wohl niemand mehr erkennen außer den nahen Verwandten. Jetzt bin ich in meiner Heimat wie tot. Wenn ich dort auftauchen werde, werde ich wirklich tot sein“, sagt Naschimullah.

Fahriddin will auch nicht in die Heimat zurückkehren, zumal er in der Sowjetunion aufgewachsen ist. „Seit 1984  im Kinderheim bei Tschimkent. Der Vater war Oberst, er kam in der Provinz Badachschan bei Faisabad ums Leben. Wie die Mutter getötet wurde, weiß ich nicht genau, wir wohnten in Kabul. Sie und meine Schwester wurden versehentlich erschossen. Als Kind wurde ich in die Sowjetunion gebracht, danach ging ich in eine medizinische Fachschule, schloss sie aber nicht ab. Nach 1989 wurde klar, dass ich nirgendwohin zurückkehren kann. Nach dem Pass bin ich Staatsbürger Afghanistans, doch was soll ich dort machen? Ich werde dort nicht überleben. Ich bin Sohn eines Offiziers, der gegen die Mudschaheddin kämpfte. Die Afghanen haben ein gutes Gedächtnis. Du lebtest mit Ungläubigen, hat Schweinefleisch gegessen – das werden sie mir sagen“, sagte er.

Nadschibullahs Prophezeiung

Die afghanische Regierung leistete den Mudschaheddin weitere drei Jahre Widerstand. Dank der sowjetischen Hilfe wehrte die Armee viele Angriffe der Extremisten ab. Doch Ende 1991 wurden die Lieferungen aus der zerfallenden Sowjetunion gestoppt. Im April 1992 marschierten Einheiten der bewaffneten Opposition in Kabul ein.

Der Präsident und der Chef der regierenden Demokratischen Volkspartei Afghanistans Mohammed Nadschibullah musste sich in der UN-Vertretung verstecken. 1996 wurde er von Taliban-Extremisten in Kabul aufgegriffen. Er wurde gefoltert und erhängt. Die Aufnahmen des hingerichteten Präsidenten Afghanistans gingen um die Welt.

Nadschibullah hielt die sowjetische Führung für Verräter und sagte voraus, dass sich das Land nach dem Sieg der Islamisten in ein Drogenhändler-Nest verwandeln wird.

Der Unternehmer Achmadullah Wastok lebt heute in Kasachstan. Die Jahre nach dem Abzug der sowjetischen Truppen waren sehr traurig.

„Die Mudschaheddin plünderten alle staatlichen Einrichtungen. Sie gingen einfach rein und stahlen. Sie plünderten überall, auf den Märkten handelten sie alles, was der Staat als Reserve hatte – Kraftstoff, Lebensmittel, Decken, Munition. Die Armee und die Regierung zerfielen, es gab sie einfach nicht mehr. Die Mudschaheddin wussten nicht, wie man das Land regieren soll. Zunächst halfen ihnen Experten, doch dann flohen auch sie. Es wurde zunehmend schlechter“.

Pjotr Gontscharow arbeitete in Afghanistan seit den 1970er-Jahren, in den 1980er-Jahren leitete er eine Gruppe von Übersetzern beim afghanischen Generalstab. „1991 war ich bei Treffen eines der Anführer der afghanischen Mudschaheddin, Burchanuddin Rabbani, in Moskau als Übersetzer dabei. Rabbani leitete damals die Partei „Islamische Gesellschaft Afghanistans“. Es gab auch Mitglieder der Bewegung „Islamische Revolution Afghanistans“, die durch Heschmatullah Modschaddedi, den Bruder des Anführers Sebgatullah Modschaddedi vertreten war. Sie wollten Moskau überreden, die Lieferung von Kraft- und Schmierstoffen an Nadschibullah zu stoppen. Man kam ihnen entgegen. Die Verhandlungen wurden vom Außenminister Andrej Kosyrew begleitet“, so Gontscharow.

Im Gegenzug sei versprochen worden, alle Gefangenen zurückzugeben – rund 300 Menschen, so der Experte.

Doch es kam anders. „Die Lieferungen wurden gestoppt. Der Winter 1991-1992 in Kabul war frostig, es wurde mit unserem Kraftstoff geheizt, als er zu Neige ging, bibberte die ganze Stadt. Die Positionen von Nadschibullah gerieten damals ins Wanken. Die Gefangenen wurden nicht zurückgegeben, nicht ein einziger.“

Als Beispiel dafür, wie zweideutig damals die Beschlüsse und die handelnden Personen waren, die an den Verhandlungen teilnahmen, führt Gontscharow Sebgatullah Modschaheddi an. „Er tötete keinen einzigen unserer Gefangenen, alle wurden mit dem Roten Kreuz nach Genf geschickt. Doch er wollte, dass sie alle zuerst die russische Sprache lernen. Er ist Theologe und träumte davon, Dostojewskis Werke im Original lesen zu können. Ihm gefiel sehr die Phrase aus ‚Die Brüder Karamasow‘:  ‚Wenn es Gott nicht gibt, dann bin ich Gott‘“.

Der Einzug und der Abzug der Truppen waren laut Gontscharow mit der politischen Notwendigkeit zu erklären.

Um die damals getroffenen Beschlüsse zu verstehen, müsse man den Kontext der Epoche und alle Details der afghanischen Politik gut verstehen, so der Experte. „Die Sowjetunion tauchte in Afghanistan nicht überraschend auf, wir waren dort seit Beginn der 1960er-Jahre. 1979 stellte sich die Frage: Entweder Truppen einmarschieren lassen oder weggehen. In der Nähe war der Iran, wo sich die islamische Revolution ereignete. Auch Pakistan und die USA hätten die Situation nutzen können. Wir konnten Afghanistan verlieren und Probleme in Zentralasien bekommen. Der Truppenabzug war nützlich für die Wirtschaft, wir investierten in Afghanistan sehr viel Geld“, so Gontscharow. Die Beschlüsse zu Afghanistan wurden unter Berücksichtigung vieler Faktoren getroffen – Interessen der Sowjetunion, Einfluss auf die afghanische Politik, Position von Drittländern und vieles andere.

„Es kam so, dass wir Freunde im Stich ließen“

Der sowjetische Diplomat Nikolai Kosyrew, der Berater in Teheran und Kabul war und ab 1987 als Sonderbeauftragter an den Genfer Verhandlungen teilnahm, war unmittelbar an einem der bedeutendsten Ereignisse am Ende des 20. Jahrhunderts beteiligt.

„Was bedeutet der Truppenabzug 1989 für die heutige Welt? Anscheinend ist es eine gute Lehre für die USA und die internationale Koalition in Afghanistan. Sie machen denselben Fehler, wie wir damals. Doch wir gingen von unseren nationalen Interessen aus. In Afghanistan drohten unangenehme Ereignisse, wir konnten das Land einfach nicht den Gegnern überlassen“, so der Experte.

„Aus der Sicht der damaligen Politik machten wir alles richtig. Doch wir machten einen großen strategischen Fehler – wir schätzten den Widerstand der Afghanen und die Spezifik des Landes; das Niveau des bürgerlichen Widerstands in der afghanischen Gesellschaft falsch ein. Das wurde fast gleich klar – drei Monate nach dem Truppeneinmarsch. Doch wir gingen nach zehn Jahren weg. Die Genfer Abkommen ließen uns das Gesicht bewahren. Wir flohen nicht aus Afghanistan, wie die Amerikaner aus Vietnam in den 1970er-Jahren, wir gingen weg“.

Laut dem Diplomaten erwies sich das Regime von Nadschibullah als handlungsfähig. „Er war drei Jahre an der Macht, mit Unterstützung Moskaus hätte er weitere Jahre bleiben können. Wer weiß, wie Afghanistan dann heute aussehen würde? Nadschibullah hatte das Zeug zum Volkstribun, er wurde sogar von den Feinden respektiert. Der Schlusspunkt in dieser Episode der afghanischen Geschichte wurde durch den Zerfall der Sowjetunion gesetzt. Jene, die an die Macht kamen, darunter vor dem Zerfall der Sowjetunion, verfolgten eine ganz andere Politik. Es kam so, und man muss das zugeben, dass wir unsere Freunde dort im Stich ließen. So waren die Umstände“, so der Experte.

Heute ist die Situation in Afghanistan für die USA sogar schlimmer als 2001 – die Taliban sind nicht zerschlagen — im Gegenteil, sie agieren noch intensiver. Die Terrorbedrohung hat sich mit dem Eindringen des IS* intensiviert.

„Sie haben auch dieselben Forderungen wie bei den Mudschaheddin in den 1980er-Jahren – ausländische Truppen sollen den afghanischen Boden verlassen. So lange fremde Soldaten bei uns  sind, wird es keine Verhandlungen geben. Es stellt sich heraus, dass aus den bitteren Ereignissen keine Lehre in der Welt gezogen wurde“, so Kosyrew.

Quelle!:

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