Freitag, Mai 3, 2024
StartPolitikEuropa„1,5 Straftaten pro Stunde“: Bundestagsvize Petra Pau warnt vor rechter Gewalt -...

„1,5 Straftaten pro Stunde“: Bundestagsvize Petra Pau warnt vor rechter Gewalt – Exklusiv

Rechtsextreme Straftaten lassen im Jahr 2019 nicht nach. Im Gegenteil: Von einer „deutlichen“ Zunahme spricht Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Im Sputnik-Interview warnt sie vor rechtsextremen Tendenzen in den Behörden, vor einer wachsenden Akzeptanz der rechten Gewalt und wirft der AfD vor, diese Stimmung zu befördern.

Rechtsextreme haben im ersten Halbjahr dieses Jahres bundesweit bereits 8.605 Straftaten begangen – darunter 363 Gewaltdelikte. Mindestens 179 Menschen wurden dabei verletzt. Das geht aus den Antworten der Bundesregierung auf monatliche Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) zurück. Vergleicht man die Zahlen mit den Angaben des Bundesinnenministeriums für das erste Halbjahr 2018, so ergibt sich eine Zunahme um mehr als 900 Straftaten. Die Anzahl der Gewaltdelikte bleibt allerdings nahezu gleich hoch. Ob nun für das gesamte Jahr 2019 eine Steigerung der rechten Kriminalität erwartet werden kann, bleibt abzuwarten.

Frau Pau, die Linksfraktion hatte erst letzte Woche Antworten aus der Bundesregierung bezüglich der Straftaten von Rechtsextremisten für dieses Jahr erhalten. Wie sieht da die Entwicklung aus?

Ich frage seit Jahren die Bundesregierung, wie viele rechtsextreme Straftaten und Gewalttaten sie registriert hat. Im statistischen Schnitt sind es 1,5 Straftaten je Stunde und täglich bis zu zwei Gewalttaten. Diese offiziellen Zahlen stapeln übrigens nach aller Erfahrung tief. Die realen Zahlen liegen noch höher. Nun mache ich das, nicht weil ich Statistikfan bin, sondern nur wenn man einen Befund hat, was in der Gesellschaft los ist, kann man auch entsprechende Strategien dagegen entwickeln.

Kann man hier von einer Zunahme sprechen?

Ja, ganz deutlich. Und dazu kommt, dass rechtsextreme Tendenzen und Strukturenbislang von Staatswegen immer heruntergespielt werden. Und das wurde spätestens nach der Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds im Jahr 2011 klar. Leider hat sich seitdem nicht so viel bei den Ermittlungsbehörden, in der Justiz, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung geändert.

Wie sieht diese Zunahme aus?

Wir haben es nach wie vor mit einer starken Zunahme von sowohl der Akzeptanz der Gewalt als eben der Gewalttaten zu tun. Der Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist der letzte traurige Höhepunkt, aber mitnichten die einzige Tat in diesem Zusammenhang. Dazu kommt, dass immer mehr Fälle publik werden, bei denen rechtsextreme Positionen auch durch Angestellte oder Beamte in den Sicherheitsbehörden getragen oder gedeckt werden. Das ist schon eine neue Qualität.

Wir sollten deswegen sowohl als politische Verantwortliche aber auch in den Sicherheitsbehörden gemeinsame Strategien dagegen entwickeln. Dazu passt momentan überhaupt nicht der gerade durch die Bundesregierung dem Parlament vorgelegte Haushaltsentwurf, wo bundesweite Vernetzungs- und Beratungsstrukturen für Opfer von rechtsextremer Gewalt zum Beispiel gekürzt werden sollen. Hier muss eine dauerhafte Förderung her, Engagement für Demokratie im Alltag muss befördert werden und darf beispielsweise nicht als linksextrem deformiert werden.

Wie erklären Sie sich die Zunahme der Radikalisierung in Deutschland?

Das hat auch immer wieder mit der Erfahrung der Straflosigkeit zu tun. Wir hatten das in den 1990er Jahren, als täglich Unterkünfte von Asylbewerbern und Migrantenbrannten. Wir erlebten es auch nach dem großen Schreck, nach der Enttarnung des NSU, dass viele Straftaten weder geahndet  noch bis zum Ende aufgeklärt werden. So fühlen sich Rechte eher ermutigt. Aber sie gehören eigentlich gesellschaftlich geächtet.

Spielt hier auch die Politik der offenen Grenzen der Jahre 2014 und 2015 von Frau Merkel eine Rolle, die ja auch viele CDU-Wähler in die Arme der Rechten getrieben hat?

Es gibt für mich keine Entschuldigung für die Verherrlichung von Gewalt oder gar die Anwendung von Gewalt. Politische Auseinandersetzungen muss man argumentativ führen. Es ist für mich eine Geste der Menschlichkeit gewesen, dass Frau Merkel die Grenzen nicht geschlossen hat. Ich denke, ein Versäumnis haben wir. Das hat aber nichts mit der Zunahme von rechten Straftaten zu tun: Das „Wir schaffen das“ muss auch untersetzt werden, indem die entsprechenden Mittel in die Infrastruktur gehen und zwar für alle Menschen, die in diesem Land leben, ganz egal, ob sie schon immer hier ihre Wurzeln haben oder zu uns geflüchtet sind. Aber es gibt keinerlei Entschuldigungen für Menschenfeindlichkeitoder rechtsextreme Übergriffe.  

Hat die von Ihnen erwähnte Akzeptanz dieser Straftaten vielleicht mit dem Hervorkommen der rechtskonservativen AfD zu tun?

Andersrum. Diese Partei ist nicht vom Himmel gefallen. Diese Fraktionen sind nicht ohne Wahlen entstanden, sondern diese Partei hat diese Verschiebung der gesellschaftlichen Stimmung mitbefördert und ist dadurch auch stärker geworden. Ich denke, es ist eine Aufgabe für alle Demokraten und Demokratinnen, sich dem entgegenzustellen. Und da ein Stoppschild aufzustellen, wo Ausgrenzung und Diskriminierung oder gar Hass und Gewalt im Alltag beginnt.

Es gibt, ich sage es noch einmal, keine Entschuldigung zum Aufruf von Hass oder Gewalt. Und diese Partei entwickelt sich rasant in eine Richtung, dass sie sich selbst radikalisiert und zu Gewalt aufruft. Und das ist nicht nur in der aktuellen Wahlkampfauseinandersetzung zu entlarven, sondern dem muss im Alltag etwas entgegengesetzt werden. 

Nun hat das Bundeskriminalamt angekündigt, beim Thema Rechtsextremismus stärker durchzugreifen. Es sollen neue Strukturen geschaffen werden. Warum gerade jetzt? Glauben Sie, es hat auch etwas mit dem Mord an Walter Lübcke zu tun? Und kommt dieser Sinneswandel vielleicht auch etwas zu spät?

Nun, zuallererst stelle ich mir eine Frage: Was haben das BKA und das nach der Selbstenttarnung des NSU geschaffene Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus und Terror bisher getan? Offensichtlich wenig bis nichts. Und an vielen Stellen mischt der Inlandsgeheimdienst, der Verfassungsschutz mit. Solange das im Geheimen behandelt wird, werden wir diesen menschen- und demokratiefeindlichen Tendenzen nicht entgegenstehen können. Also, klipp und klar: Wenn das BKA mit seinem Personal und seiner Expertise sich diesem drängenden Problem jetzt tatsächlich zuwendet, und zwar in allen Bereichen, im richtigen Leben genauso wie im Internet, weil auch da nicht gedroht und Gewalt angewendet werden darf, dann ist das nur zu begrüßen. Dann wäre an dieser Stelle, sollte es auch dazu notwendig sein, mehr zu investieren, richtig investiert.

Eine andere Anfrage der Linksfraktion letzte Woche hat zu Tage gebracht, dass offenbar politisch motivierte Straftäter weiterhin Bezug auf die Mordserie der rechtsextremen Terrorgruppe NSU nehmen. So habe die Polizei zwischen Anfang Juni 2018 und Mitte Juli 2019 bundesweit 35 politisch rechts motivierte Straftaten registriert, bei denen die Täter sich auf den NSU bezogen haben. Was bedeutet diese Erkenntnis für uns? Und warum ist es wichtig, das festzustellen?

Der NSU war nicht die mörderische Ausnahme in einer ansonsten intakten Bundesrepublik ohne rechtsextreme und rechtsterroristische Gefahren. Sondern die Gefahr des Rechtsterrorismus ist nach wie vor sehr hoch – nicht nur durch diese Taten mit NSU-Bezug, sondern auch, wenn wir uns die Statistiken der Straftaten ansehen. Und es wird allerhöchste Zeit, dass die Gefahren des Rechtsterrorismus nicht weiter verharmlost werden oder weggeredet werden. Keiner kann sagen, dass nicht schon wieder solche Strukturen in der Bundesrepublik unterwegs sind.

Frau Pau, gestern hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden festgestellt, dass das BKA die sogenannten Feindeslisten, die von Rechtsextremen angelegt wurden, nicht veröffentlichen muss. Wie bewerten Sie diese Entscheidung des Gerichts?

Ich bedauere auch, dass das Gericht hier keine entsprechende sprachliche Schärfe vorgelegt hat. Wir haben einerseits Listen, die durch einen Hack bei einem Versand für Artikel für Menschen erbeutet wurden, die sich der Punkszene zurechnen. Diejenigen, die hier betroffen sind, sollten informiert werden – und zwar schon durch den Versandhändler, dessen Listen gehackt wurden. Hier geht es noch nicht darum, ob sich jemand durch Rechtsextreme bedroht fühlt, sondern um Datenschutz. Das würde ich noch nicht als Feindesliste titulieren.

Allerdings gab es eine Veröffentlichung dieser Liste durch russische Neonazis, die erklärt haben: Das wäre die versammelte deutsche Antifa. Hier wäre es wichtig, dass diese Personen das auch erfahren. Ansonsten bin ich nach wie vor der Auffassung, dass ganz egal, ob in Strukturen, welche durch Rechtsextreme entsprechend aufgedeckt wurden oder aber auch in Strukturen von Vereinen, die sich angeblich mit der Traditionspflege der Bundeswehr beschäftigen, wenn solche Listen den Bundesbehörden in die Hände fallen, hier diese Behörden proaktiv die betroffenen Personen darüber informieren sollten, dass die Personen in einem solchen Zusammenhang, ihr Name oder gar andere Angaben über ihr persönliches Umfeld aufgefunden wurden. Dann können sich diese Personen eine professionelle Beratung besorgen.

Warum passiert das nicht?

Tja, damit werden wir uns weiter politisch auseinandersetzen, bis es geschieht.

Quelle!:

Empfohlene Artikel
- Advertisment -
Translate »