Donnerstag, Mai 2, 2024
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„Alle verdienen am Öl“ – Libyen-Krieg geht auch ohne Gaddafi weiter

Die Situation in Libyen ist und bleibt angespannt – die im Land herrschende Doppelmacht behindert den Start des Friedensprozesses.

Diese Unbestimmtheit passt aber sowohl der östlichen als auch der westlichen Regierung der einstigen Dschamahirija – dadurch können beide Konfliktseiten vom wichtigsten nationalen Reichtum – dem Erdöl – immer weiter profitieren.

Krieg macht nichts – Hauptsache, Öl fördern

El-Scharara ist das größte Ölfeld in ganz Libyen, 700 Kilometer südlich von Tripolis gelegen. Unter Muammar al-Ghaddafi wurden dort jeden Tag bis zu 300 000 Barrel gewonnen. Die anderen Ölvorkommen liegen im Osten des Landes, und ihre Kapazitäten sind nicht viel geringer als die von El-Scharara.

Vor dem Bürgerkrieg von 2011 wurden in Libyen bis zu 1,6 Milliarden Barrel Öl täglich gefördert. Bei den nachgewiesenen Vorräten ist das Land der Spitzenreiter in Afrika und belegt den fünften Platz unter den OPEC-Mitgliedern.

Nach der Entmachtung und Ermordung Ghaddafis schrumpfte die Ölförderung gleich um 70 Prozent. Aber selbst danach wurde der Brennstoff problemlos an die Mittelmeerküste und dann weiter nach Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland befördert.

Die an der Konfrontation Beteiligten, die auch ohne Ghaddafi weiterging, kämpften um die Kontrolle über die Ölleitungen. Wenn diese oder jene Seite sich zurückziehen musste, sprengte sie normalerweise die in der Nähe liegende Pipeline, damit sie nicht in die Hände des Feindes gerät. Die Einnahmen aus dem Ölhandel blieben auch in den Kriegszeiten die wichtigste Quelle der Haushaltseinnahmen.

Ausländische Ölunternehmen, die noch unter Ghaddafi nach Libyen gekommen waren, legten die Förderung nur während besonders verbissener Kämpfe still. Und die Franzosen von Total und die Italiener von ENI beuteten das „schwarze Gold“ sogar ohne Unterbrechung aus.

Auch die libysche Nationale Öl- und Gaskorporation, an deren Spitze noch seit den Vorkriegszeiten Mustafa Sanaal stand, blieb die ganze Zeit über aktiv.

Öl-Doppelmacht

Der Kampf der verfeindeten Gruppierungen führte dazu, dass in Libyen seit 2014 eine Doppelmacht herrscht. Tripolis und die unweit der Hauptstadt liegenden westlichen Gebiete werden von der Regierung der nationalen Einheit mit dem Unternehmer Fayiz as-Sarradsch an der Spitze kontrolliert. Sein Ministerkabinett genießt die Anerkennung durch die Weltgemeinschaft.

Im Osten hatte und hat General Haftar, Freund und Mitstreiter Muammar al-Ghaddafis, das Sagen. Die Libysche Nationale Armee, die auf seiner Seite steht, half ihm, die Ölfelder und Pipelines in Tobruk, Bengasi und Adschdabiya unter Kontrolle zu nehmen, so dass die Regierung in Tripolis ihre Öleinnahmen verlor.

Aber die Weltgemeinschaft wollte mit den ostlibyschen Rebellen keine Geschäfte führen. 2016 wurden gegen den General und seine Mitstreiter Sanktionen verhängt: Es wurde verboten, Erdöl bei der ostlibyschen Regierung zu kaufen.

Die Spaltung der Ex-Dschamahirija hatte allerdings auch für Europa, die USA und China – die größten Importeure von libyschem Öl – negative Folgen. Diese Pattsituation zwang  die ausländischen Öl- und Gaskonzerne zur Suche nach Möglichkeiten für die Umgehung der Sanktionen. Auf dem Spiel stand immerhin die Energiesicherheit nicht nur Libyens, sondern vor allem der Europäischen Union.

„Schwarzes Gold“ als Vereinigungsfaktor

Ein Ausweg aus der Sackgasse fand sich aber ziemlich schnell. Dabei mussten die libyschen Konfliktseiten nicht einmal mit den Säbeln rasseln, um Öl wieder in die Alte Welt zu pumpen. Da man sowohl im Osten als auch im Westen die gegenseitige Abhängigkeit einsah, akzeptierten beide Seiten unter Vermittlung der Nationalen Öl- und Gaskorporationen gewisse Zugeständnisse.

Bei dem Kompromiss ging es darum, dass alle Ölgeschäfte im Namen der international anerkannten Regierung Fayiz as-Sarradschs abgewickelt wurden, gegen die es keine Sanktionen gab und mit der ausländische Importeure legal zusammenwirken konnten. Haftar bekam seinerseits einen beträchtlichen Teil der Gewinne angeboten.

Die Libysche Nationale Armee wurde zwar von Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE finanziert, brauchte aber zusätzliche Einnahmenquellen. Haftar verstand, dass die Öleinnahmen (auch wenn er sie unter Sarradschs Vermittlung bekam) wichtig für die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Ostens waren bzw. sind, und stimmte deshalb zu.

Westliche Energiekonzerne kehrten allmählich nach Libyen zurück. Viele von ihnen erweiterten ihre bisherigen Projekte. Die nationale Energiewirtschaft bekam neue Investitionen, und zwar durchaus legal, und die Sanktionen gegen die nichtanerkannte Regierung im Osten störten niemanden.

Der Chef der Nationalen Öl- und Gaskorporation, Mustafa Sanaal, holte die Zustimmung von Giganten wie Total, ENI, Wintershall und OMV ein und verkündete die Pläne, Ghaddafi quasi zu übertreffen und die Ölförderung auf zwei Millionen Barrel täglich aufzustocken. Nach seinen Worten sollte die Energiebranche „von politischen und militärischen Konflikten frei bleiben“. Die meisten ausländischen Konzerne hörten auf ihn und ließen sich nicht von dem Umstand beeindrucken, dass der Krieg in Libyen die ganze Zeit weiterging.

Einstellung auf den Frieden

Die Ölförderung und -verarbeitung ging auch im Frühjahr weiter, als General Haftar seine Offensive in Richtung Tripolis fortsetzte. Dabei wurde er nach Auffassung des Interimistischen Geschäftsträgers der libyschen Provisorischen Regierung in Russland, Stanislaw Kudrjaschow, gerade wegen der Schemata der Öllieferungen ins Ausland bei der Eroberung der Hauptstadt behindert.

„Alle Ölexportverträge befinden sich in den Händen Sarradschs. Die ausbleibende Möglichkeit, die von ihm kontrollierten Energieressourcen direkt zu exportieren, wurde für General Haftar zum Stein des Anstoßes in Tripolis. Der General verstand, dass er selbst im Falle der Eroberung der Hauptstadt und der Entmachtung der Regierung der nationalen Einheit die Gelder verlieren würde, die er im Sinne der mit der Regierung abgesprochenen Ölschemata bekommt“, so Kudrjaschow gegenüber RIA Novosti. „Die Weltgemeinschaft würde Haftars Legitimität höchstwahrscheinlich nicht anerkennen, und die Sanktionen würden weiterhin gelten.“

Dem Experten zufolge wird die LNA den Sturm Tripolis‘ nur dann beginnen, wenn sie Garantien für eine Anerkennung von äußeren Kräften bekommt.

„Als das aktuelle Schema der Öllieferungen entwickelt wurde, wurden der Regierung im Osten jegliche Rechte weggenommen. Dadurch konnte Sarradsch die Kontrolle über die Energieressourcen beibehalten und seine Regierung auch gegen Haftars Sturm absichern“, so Kudrjaschow.

Seiner Auffassung nach ist die aktuelle Situation um das libysche Öl für beide Konfliktseiten nützlich, so dass niemand wirklich an der Konfliktregelung interessiert ist. „Europäische und amerikanische Unternehmen kaufen das Öl mit einem großen Rabatt. Während der Ölpreis auf dem Weltmarkt im Durchschnitt bei 60 Dollar pro Barrel liegt, freuen sich die libyschen Behörden bei der aktuellen Instabilität, ihr Öl auch für 30 Dollar zu verkaufen. Wer wird denn auf billiges Öl verzichten, selbst wenn Frieden und Stabilität in Libyen auf dem Spiel stehen?“, fragte der Experte rhetorisch.

Der Leiter des Zentrums für Islamforschungen beim russischen Institut für innovative Entwicklung, Kyrill Semjonow, stimmt dieser Auffassung allerdings nicht ganz zu. „Wenn die Konfrontation zwischen der östlichen und der westlichen Regierung in Libyen ein Ende findet, bekommt die energetische Inflationsrate eine Ansporn zur Modernisierung. Die Investoren werden dann ohne große Angst Gelder in neue Pipelines stecken“, betonte der Politologe. Nach seiner Auffassung genoss Sarradsch bei den jüngsten Kämpfen um Tripolis die rein militärische Überlegenheit, und deshalb zog Haftar es vor, sich zurückzuziehen. Und das Schema des Ölexports habe dabei keine entscheidende Rolle gespielt, so Semjonow.

„Die bewaffneten Formationen aus Misrata, die Sarradschs Regierung unterstützt haben, hätten Haftar im Frühjahr die von ihm kontrollierten Ölhäfen wegnehmen können. Das wäre auch jetzt durchaus realistisch. Aber das brauchen sie auch nicht – Haftar kann sowieso das Öl nicht selbst verkaufen“, stellte der Experte fest.

Gleichzeitig stimmte er der These zu, dass unter den aktuellen Bedingungen alle Konfliktseiten von den Energieressourcen profitieren. „Der wichtigste Unterschied des Libyen-Konflikts zum Syrien-Konflikt besteht darin, dass das Öl dabei kein spaltender Faktor ist. Es ist gerade umgekehrt: Das ‚schwarze Gold‘ vereinigt die Seiten, und das könnte noch lange so dauern.“

Gewisse Hoffnungen auf die Regelung des Libyen-Konflikts verbindet der Experte Semjonow mit der baldigen Konferenz in Berlin. Allerdings schloss er nicht aus, dass Haftar einen neuen Angriff gegen Tripolis beginnen könnte, sobald der Termin der Konferenz bekanntgegeben wird.

„Den ersten Versuch zum Sturm der Hauptstadt unternahm der rebellierende General bald nach der Vereinbarung des Termins einer gesamtnationalen Konferenz für politische Regelung der Libyen-Krise. Die meisten Länder, auch Russland, erkennen die Legitimität der Sarradsch-Regierung an. Und Haftar versteht: In einer neuen Machtstruktur wird sich für ihn kein Platz finden. Deshalb versucht er, den Friedensprozess zum Scheitern zu bringen“, sagt der Politologe abschließend.

Quelle!:

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