Sonntag, April 28, 2024
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„Alle wollen nach Deutschland, aber es geht nicht“: Drama und Ratlosigkeit bei „Anne Will“

Das Einprägsamste in der „Anne Will“-Sendung am Sonntagabend war eine knapp viertelstündige Live-Zuschaltung aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria gleich zu Beginn des TV-Talks. Im Kontrast zu diesen Bildern wirkte das anschließende Gespräch im Studio wie ein bemühtes Geplänkel ratloser Wichtigtuer.

In der kurzen Live-Übertragung hockte MDR-Reporterin Isabel Schayani zusammen mit einer Frau mit Kopftuch und mehreren Kindern am Rande einer staubigen Gasse herum. Die Reporterin bezeichnete diese Stelle als „Wohnzimmer“ der Familie, denn diese Leute seien – wie auch die meisten Moria-Bewohner – obdachlos, nachdem das Flüchtlingslager letzte Woche abgebrannt war.

Das Abendessen der „Gastgeber“ der Reporterin bestand an diesem Abend aus einer Handvoll Reis und drei Eiern. Die Frau mit Kopftuch, mit der die Reporterin auf Persisch sprach, stammt aus Afghanistan und vegetiert seit mehr als einem Jahr in Moria. Nun habe sie Angst, in das von den Griechen auf die Schnelle errichtete Provisorium für 3.000 Flüchtlinge einzuziehen – weil dieses womöglich bald wieder angezündet werde.

Wie Schayani berichtete, würde sie von den Moria-Bewohnern ständig gefragt, ob Deutschland sie aufnehmen würde.

Eine weitere Frage, die ihr immer wieder gestellt werde, laute: „Wieso behandelt Ihr uns wie Tiere?“

Dieses dramatische Bild werden die „Anne-Will“-Zuschauer nicht so schnell wieder vergessen wie die Diskussion, die danach im Studio folgte. Denn die ehrenwerten Studio-Gäste bestätigten mit ihrem Statement in verschiedenen Variationen den Fakt, den Bundeskanzlerin Angela Merkel in dem Einspieler zur Sendung feststellte: „Es gibt keine europäische Migrationspolitik.“

„Die Fehler von 2015 nicht wiederholen“

Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte bereits angeboten, „150 unbegleitete Minderjährige“ aus Moria in Deutschland aufzunehmen. Etwaige weitere Kontingente von Moria-Bewohnern – insgesamt sind es rund 13.000, während das Lager ursprünglich für 3.000 Geflüchtete vorgesehen war – könnten in Frage kommen, erst wenn eine gemeinsame EU-Entscheidung über ihre Aufnahme vorliege. Das Motiv des Ministers: Er will die Krise von 2015 verhindern, als Deutschland den Löwenanteil der damaligen Flüchtlingswelle aufnehmen musste, während die meisten anderen EU-Länder die Aufnahme weitgehend verweigerten.

Manfred Weber, Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament und Seehofers Genosse in der CSU, teilte bei „Anne Will“ diese Position. Überhaupt sei die Situation zwar ernst, aber nicht wirklich dramatisch, denn es gebe auch Fortschritte: „Vergangenes Jahr gab es 25.000 Flüchtlinge auf Lesbos, jetzt sind es nur noch 13.000“ und von den ursprünglich 1.600 unbegleiteten Minderjährigen seien derzeit „nur noch 400“ auf der griechischen Insel.

„Es wollen alle nach Deutschland, aber das geht nicht“, betonte Weber. „Lasst uns einen gemeinsamen europäischen Weg gehen.“ Und: Die Fehler von 2015 dürften nicht wiederholt werden.

„Bloß keinen deutschen Alleingang!“

Bemerkenswerterweise ähnlich klang auch die Argumentation des AfD-Bundestagsabgeordneten Gottfried Curio bei der jüngsten Diskussion zur Krise in Moria:

„Deutschland ist keine weltweite Hilfsorganisation mit lediglich angehängter Steuersklaven-Bevölkerung.“

Mittlerweile richteten 16 CDU-Bundestagsabgeordnete einen Appell an Seehofer, mindestens 5.000 Moria-Bewohner nach Deutschland zu holen. Der Möchtegern-Kanzler Norbert Röttgen behauptete etwa – wohl im Namen der ganzen Nation: „Wir können uns diese Humanität leisten!“

Der Grund, warum der „Zeit“-Journalist Ulrich Ladurner zur Teilnahme an der „Anne Will“-Sendung eingeladen worden war, bestand wohl in dem von ihm kurz zuvor verfassten Artikel zum Moria-Drama  unter dem Titel „Bloß keinen deutschen Alleingang“.  Diesen Standpunkt vertrat er auch am Sonntagabend im Ersten:

„Wenn Deutschland jetzt voranschreiten und 2.000 bis 3.000 aufnehmen würde, wird es in anderen Ländern als Alleingang interpretiert werden.“ Dann würde man sagen: „Am Ende werden es wieder die Deutschen machen.“

„Die Frage ist, ob man andere Staaten dazu bringen kann, Flüchtlinge aufzunehmen“, so Ladurner. „Das wird nicht einfach sein – die Europäische Union ist sich da überhaupt nicht einig.“ Naja, diese Feststellung hätte er sich ersparen können – das wissen ja ohnehin alle.

Annalena Baerbock: „Wir haben Platz!“

Im Vorfeld der Sendung hatte die Grünen-Chefin Annalena Baerbock getwittert: „Wir haben Platz!“ Im Sinne: Die Moria-Bewohner sollten sehr wohl in Deutschland aufgenommen werden. Immerhin hatten bereits über 170 deutsche Kommunen ihre Bereitschaft bekundet, die Flüchtlinge aufzunehmen. Nun müsste man auf diese Kommunen zugehen und das Problem auf diese Weise lösen. Allerdings wich Baerbock dem mehrmaligen Nachfragen der Moderatorin aus, ob wirklich alle 13.000 Moria-Bewohner nach Deutschland gebracht werden sollten. Ulrich Ladurner meinte dazu ironisch: Würde Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen antreten, würde ihre „Wir haben Platz!“-Losung in der Bundesrepublik „nicht gut ankommen“.

Für Marie von Manteuffel, die in der Sendung die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ vertrat, war es dagegen kein Problem, auf Moral und Empathie zu pochen – sie ist keine Politikerin und kann mit humanistischen Losungen auftreten, ohne sich über politische oder wirtschaftliche Folgen Gedanken zu machen. Bei „Anne Will“ tat sie das auch:

„Wir sehen Bilder von Familien im Dreck auf der Straße und diskutieren darüber, ob wir es uns leisten können, 150, 400, 2.000 oder 4.000 Menschen hier aufzunehmen. Das ist doch Wahnsinn.“  

Nach ihrer Überzeugung müsste Deutschland alle 13.000 bei sich aufnehmen.

Moria soll als „Abschreckung“ dienen

Eine solche Lösung würden aber selbst die Griechen nicht wollen, weil sich dann weitere tausende von Flüchtlingen motiviert sehen würden, sich auf den Weg nach Griechenland zu machen. Deshalb setze die griechische Regierung mit dem Exempel Moria „auf Abschreckung“, meinte die MDR-Reporterin Schayani. Der Migrationsforscher Gerald Knaus, einer der Initiatoren des EU-Türkei-Deals, bewertete zwar das derzeitige Vorgehen Griechenlands bei „Anne Will“ als „zynisch“ und „unmoralisch“, verwies aber auch auf „mildernde Umstände“: Immerhin müsse Athen derzeit das Versagen der europäischen Migrationspolitik ausbaden. 2016 hatten die europäischen Partner Athen versprochen, 27.000 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, im Endeffekt seien es aber nur 10.000 gewesen. Außerdem seien die Griechen momentan der Türkei quasi ausgeliefert, die nun „Menschen als Waffe“ nutze und Geflüchtete an die Grenze zu Griechenland schicke. Nach Ansicht des Experten müsste Erdogan nochmals fünf Milliarden Euro angeboten werden, damit ein neuer EU-Türkei-Flüchtlingsdeal zustande kommen könnte.

Natürlich wäre dies viel leichter gesagt als getan. Eine schnelle und einfache Lösung der Moria-Krise ist nicht in Sicht – es sei denn, die Deutschen würden erneut von Angela Merkel ein „Wir schaffen das“ hören.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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