Dienstag, April 30, 2024
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„Alles Lügen und Märchen“: Washingtons Kriegsverbrechen von Mỹ Lai

Eine US-amerikanische Spezialeinheit hat vor genau einem halben Jahrhundert, am 16. März 1968, das südvietnamesische Dorf Mỹ Lai (Son My) überfallen und die Bewohner niedergemetzelt.

Die US-Führung versuchte das Massaker zu vertuschen. Auch heute würden die USA das Kriegsverbrechen am liebsten verschweigen.

Es begann in den frühen Morgenstunden, um circa 5 Uhr 30. Nach Artilleriebeschuss fielen Soldaten der Task Force Barker mit Transporthubschraubern am Westrand der Siedlung ein. Ihre ersten Opfer waren Bauern auf den Reisfeldern.

Die Spezialeinheit rückte weiter vor, die Dorfwege entlang. Im Vorbeigehen warfen die Soldaten Handgranaten in die Häuser. Einige der Bewohner starben an Ort und Stelle, andere wurden zusammengetrieben und massenweise hingerichtet. Viele der Menschen wurden grausamst gefoltert, Frauen wurden vergewaltigt. Innerhalb kürzester Zeit wurden 504 Zivilisten massakriert.

„Das Hirn war weiß, alles andere rot“
Die heute 80-jährige Pham Thi Tuan war eine junge Frau, als die US-Amerikaner ihr Dorf überfielen. Was damals passierte, weiß sie noch heute bis ins Detail: „Das kann man nicht vergessen. Ich träume heute noch davon, dass Soldaten kommen. Dann schreie ich nachts“, sagt sie. Die Amerikaner drangen in ihr Haus ein und jagten die ganze Familie – Vater, Mutter, Großmutter, ihre beiden Brüder, die Schwester und Thi Tuan selbst – ins Freie.

„Zusammen mit anderen wurden wir an einen Wassergraben getrieben, unsere Nachbarn waren auch dabei, mehrere Dutzend Menschen“, erinnert sie sich. „Die Soldaten schrien, schimpften, schlugen uns mit Gewehrkolben, traten uns, hin und wieder schossen sie auch. Die Menschen wurden entlang des Grabens aufgereiht. Sie mussten sich umdrehen, hinknien und die Hände erheben. Wir haben nicht gedacht, dass man uns töten wird. Wir haben doch gehorcht und keinen Widerstand geleistet. Aber sie haben das Feuer eröffnet. Die Menschen fielen einer nach dem anderen in den Graben.“

Thi Tuan hat miterlebt, wie ihr Vater ermordet wurde. „Ich sehe es auch heute noch vor mir. Es war so, als ob sein Kopf explodierte. Ich konnte es nicht glauben. Sein Gehirn war weiß, alles andere war rot.“

Als die Amerikaner das Feuer eröffneten, sprang Thi Tuan mit ihren Schwestern in den Graben und stellte sich tot. Überall waren Tote und Verletzte. „Die Menschen schrien entsetzlich. Die Amerikaner töteten die Verletzten. Ich flüsterte meinen Schwestern zu, dass sie schweigen sollen. Einen Moment lang dachte ich, sie seien tot, so ruhig lagen sie da. Das war schrecklich! Ich habe selbst beinahe geschrien. Hätte ich aufgeschrien, wäre ich auch getötet worden.“

Mehrere Stunden lag Thi Tuan mit ihren Schwestern in dem Graben, mitten unter Leichen. Sie hatte Angst, dass die Amerikaner zurückkommen. Insgesamt starben in dem Graben an die 70 Menschen.

„Ich habe ausgesehen wie Hackfleisch“
Auch Van Thanh Cong hat das Massaker überlebt. 1968 war er nur elf Jahre alt. Ein Jahr nach dem Gemetzel wurde sein Foto weltberühmt. „Meine Mama machte uns schulfertig, als wir plötzlich Schüsse und Explosionen hörten. Also wollten wir uns verstecken. Mein Vater hatte extra dafür, eine Erdhütte angelegt. Darin wollten wir ausharren. Die Soldaten fanden uns aber und zwangen uns, rauszukommen“, erinnert sich Thanh Cong.

Drei Soldaten waren es: „Zwei von ihnen zielten auf uns, rauchten und scherzten. Der Dritte erschoss das Vieh und steckte unseren Schuppen in Brand. Dann sprachen sie darüber, was sie mit uns tun sollten. Sie zwangen uns in die Erdhütte zurück, warfen drei Granaten hinein und liefen weg. Meine Mutter sagte, wir sollen uns in der hintersten Ecke verkriechen. Sie selbst blieb am Eingang stehen und wurde in Stücke gerissen. Die Anderen starben auch, nur ich habe überlebt.“

Erst nach mehreren Stunden fanden die Nachbarn den Jungen und seine toten Geschwister im Erdloch. Sie dachten, Thanh Cong sei auch tot, und wollten ihn beerdigen. „Ich muss wie Hackfleisch ausgesehen haben, blutüberströmt. Niemand hätte gedacht, dass ich noch lebte.“ Erst im allerletzten Moment kam er zu sich, öffnete die Augen und entging so dem Horror, lebendig begraben zu werden.

Der Grund für die unfassbare Brutalität der US-Truppen bleibt bis heute im Dunkeln. Es hieß, Partisanen hätten in dem Dorf ihren Führungsstab eingerichtet. Zuvor waren ein paar GIs der Task Force durch Minenfallen ums Leben gekommen. Die Einheit wollte sich also rächen.

Aber in Mỹ Lai wurden weder Waffen noch Partisanen gefunden. Man rächte sich also an den Falschen. „Es gab hier keine Partisanen“, sagt Thanh Cong. „Es ging um etwas anderes: Die Amerikaner wollten, dass die Vietnamesen mit ihnen kollaborieren. Unser Dorf wollte das nicht. Das war eine Einschüchterungsaktion, um anderen Dörfern zu zeigen, was sie erwartet.“

Der gute Amerikaner von Mỹ Lai
Die Siedlung wurde dem Erdboden gleichgemacht, nichts blieb übrig. Die Bewohner bauten ihre Häuser später wieder auf. Anstelle der Holzhütten stehen heute Häuser aus Stein. Das Einzige, was noch an das alte Mỹ Lai erinnert, ist der Brunnen, in den die Amerikaner Leichen hineingeworfen hatten – und bestimmt auch Verwundete.

Die Wahrheit über das Kriegsverbrechen kam nicht gleich ans Tageslicht. Ein Kongressabgeordneter wollte Ermittlungen einleiten, das Weiße Haus wiegelte aber ab: „Alles Lügen und Märchen“. Erst als Fotos des Massakers veröffentlicht wurden, die ein Soldat der Task Force gemacht hatte, konnte die Wahrheit nicht länger verschwiegen werden.

Zur Verantwortung gezogen wurde nur einer: Ein Lieutenant der Spezialeinheit, die in dem Dorf gewütet hatte. Auf Anordnung von Präsident Nixon verbüßte er eine dreijährige Strafe – unter Hausarrest.

In dem kleinen Kulturhaus von Mỹ Lai, in dem eine Ausstellung an das Massaker erinnert, ist ein ganz besonderes Foto erhalten geblieben: Ein Bild des US-amerikanischen Soldaten Lawrence Colburn. An dem Tag befand er sich als Bordschütze eines Hubschraubers auf einem Aufklärungsflug in der Nähe von Mỹ Lai. Als er das Massaker sah, gab er Warnschüsse gegen die eigenen Leute ab, um sie am weiteren Morden zu hindern. Elf Menschen rettete Colburn auf diese Weise das Leben.

„Sehr viele Kriegsverbrechen der US-Armee in Vietnam sind bis heute nicht aufgeklärt“, sagt General Nguyen Van Rhinhem aus Hanoi.

Er hat den Vietnamkrieg durchgemacht und setzt sich heute als Verbandsvorsitzender für die Opfer von „Agent Orange“ ein. 14 Prozent der Landesfläche haben die US-Amerikaner mit diesem Giftstoff verseucht. Millionen von Vietnamesen leiden bis heute an den Spätfolgen der Vergiftungen. Viele vietnamesische Kinder sind seitdem mit Missbildungen auf die Welt gekommen.

„Das Ausmaß ist derart gewaltig, dass es sehr schwer ist, die Wahrheit zu erfahren. Und von sich aus werden die Amerikaner nichts zugeben“, so der General.

In der Tat: Wären die Fotos des US-Soldaten der Task Force Barker nicht gewesen, hätte die Welt von Mỹ Lai nichts mitbekommen. Dabei existieren noch viele andere Orte, an denen die US-Soldaten ohne Fotokameras im Einsatz waren.

Andrej Wesselow

Quelle!

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