Sonntag, April 28, 2024
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„Anne Will“: Kicker vs. Kitas und Bedrohung durch „krudes Gebräu“

Trotz der wieder ansteigenden Corona-Fallzahlen ist die „Anne Will“-Talkshow am Sonntag nicht gerade dramatisch verlaufen und hat eher die bereits feststehenden Fronten in der Lockerungs-Debatte bestätigt: Politiker begrüßen weitere Lockerungen, Forscher befürchten Fatales.

„Deutschland macht sich locker – ist das Corona-Risiko beherrschbar?“ lautete das Thema der Sendung. Nur schwer ging die Debatte in Gang, obgleich zumindest einer der Teilnehmer, FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki, für seinen zur Polemik bekannt ist. Eindeutig und resolut postulierte er auch seinen Politiker-Standpunkt: Die Lockerungen seien ok, irgendwann müsse doch Schluss sein mit den „seit Wochen andauernden massiven Grundrechtseinschränkungen“. Deshalb sollte man endlich auf die Eigenverantwortung der Bürger*innen setzen. „Unser ganzes Gesellschaftsbild basiert auf der Annahme, dass Menschen eigenverantwortlich sind“, betonte Kubicki. „Wenn wir das nicht mehr glauben würden, müssten wir den Menschen das Wahlrecht entziehen.“

„Wenn jemand Angst hat, soll er zu Hause bleiben“, lautete sein Vorschlag. Dass es eine ganze Menge von „systemrelevanten“ Bereichen gibt, wo die Beschäftigten unmöglich dieser Empfehlung folgen können – sonst kollabiert eben das „System“ – wollte der FDP-Politiker wohl gar nicht in Betracht ziehen.

Etwas weniger resolut, sinngemäß jedoch auf der gleichen Linie argumentierte auch Malu Dreyer, SPD-Vizechefin und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz: „Wir haben mit Umsicht gelockert“, beteuerte sie und hob ebenfalls hervor, dass die Bevölkerung ihres Bundeslandes in der großen Masse die vorgeschriebenen Vorsichtsmaßnahmen diszipliniert befolge.

Bundesliga-Neustart – ja oder nein?

Etwas mehr Spannung in die Sendung brachte das Thema Bundesliga. Der Theologe Peter Dabrock, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, fand die geplante Wiederaufnahme des Spielbetriebs „verheerend“ – obwohl er selbst eigentlich ein begeisterter Fußballfan sei. Ihn betrübe dabei nicht die gesundheitliche Bedenklichkeit des Unterfangens, sondern vielmehr eben der ethische Aspekt.

Die „Vorzugsbehandlung“ des zahlungskräftigen Profi-Sports schade der Solidarität in der „aktuellen Phase der Pandemie-Bekämpfung“, betonte er. Diese Vorzugsbehandlung sehe Dabrock darin, dass die Kicker nun regelmäßig getestet werden, während die Tests vordergründig in solchen Bereichen wie Pflegeheime, Schulen oder Kitas gefragt wären. Der Zugang zu den Tests dürfe „nicht vom Geldbeutel“ abhängen. Kubicki fand dagegen das DFL-Gesundheitskonzept völlig in Ordnung und hob den nach seiner Ansicht positiven sozialen Aspekt der Wiederaufnahme der Bundesliga-Spiele hervor – dies wäre gut für die Beruhigung großer Teile der Bevölkerung. Sein Argument: „Warum soll man das eine verbieten, wenn das andere nicht möglich ist?“

„Der Lockdown hätte drei Wochen länger dauern sollen“

Als die einzige prinzipielle Gegnerin der Lockerungen trat bei „Anne Will“, wie schon üblich, eine Wissenschaftlerin auf. Die studierte Physikerin Viola Priesemann, die am Max-Planck-Institut in Göttingen Ausbreitungsprozesse von Krankheiten untersucht, bedauerte, dass der Lockdown nicht zwei- bis drei Wochen länger gedauert hat. Dann wären 300 Neuinfektionen pro Tag für ganz Deutschland möglich gewesen (aktuell über 1000). In dem Fall wäre es „ein Kinderspiel“ gewesen, die Infektionsketten nachzuverfolgen. Denn die Ansteckungsrate steige in den letzten Tagen langsam wieder.

An der Stelle hakte der FDP-Politiker nicht gerade glücklich mit der Bemerkung ein, er wisse nicht, „was man mit der Reproduktionszahl von 1,1 oder 1,13 anfangen soll“. Kubicki ist bekanntlich nicht der einzige in den politischen Kreisen, dem es schon lange nicht gefällt, dass Wissenschaftler*innen in der Pandemie-Zeit dermaßen massiv mitreden dürfen. Dennoch fragt man sich, ob ein Politiker gerade in der heutigen Situation seine Ignoranz so unverhüllt manifestieren, ja sogar beinahe als seinen Trumpf hinstellen soll.

„Ein krudes Gebräu“

Symptomatischerweise war es auch ein weiterer prominenter FDP‘ler, nämlich Thüringens Ex-Ministerpräsident Thomas Kemmerich, der gegen die üblichen liberalpolitischen Gepflogenheiten verstieß, indem er am Samstag – neben „Verschwörungstheoretikern“ – an einem Protest gegen die Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Gera teilgenommen hat.

Denn gerade die „Verschwörungstheorien“ und sonstige „Fake News“ zum Thema Corona-Pandemie bilden, wie Dabrock das formulierte, „ein krudes Gebräu“ im Internet, von dem sich immer mehr Leute leiten lassen, die in den letzten Tagen und Wochen an den Protest-Demos gegen die Eindämmungsmaßnahmen teilnehmen. Da müsse man „ganz offensiv“ dagegen vorgehen, betonte der Theologe, weil „so ein krudes Gebräu das Potenzial hat, die Extreme zusammenzuführen“.

Dies war wohl auch die emotionalste Stelle des jüngsten „Anne Will“-Talks. Denn gegen Ende plätscherte die Diskussion bloß um Selbstverständlichkeiten wie die Notwendigkeit umfassender Tests dahin, die, bitte schön, von der Krankenkasse bezahlt werden sollten.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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