Montag, April 29, 2024
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Aufrüstung gegen Russland: Szenarien wie im Kalten Krieg – mit den gleichen Fehlern

Das US-Manöver „Defender Europe 2020“ zur Verlegung von US-Truppen nach Polen und ins Baltikum erinnert ebenso wie die westliche Aufrüstung gegen Russland an Strategien und Szenarien im Kalten Krieg bis 1989. Während an diese anscheinend angeknüpft wird, werden dabei auch deren Fehler wiederholt. Eine Analyse.

Mittlerweile gehört zum Ritual westlicher Außen- und Sicherheitspolitiker, die Notwendigkeit des Dialogs mit Russland trotz aller aktuellen Spannungen zu betonen. Nur müsse Russland dafür die Voraussetzungen schaffen, indem es seine „expansive“ Politik beendet. Und in der Regel folgt dann das Sündenregister: Die „Annexion“ der Krim, die Unterstützung für die ostukrainischen Volksrepubliken, die angeblichen Vorbereitungen eines hybriden Krieges gegen die baltischen Staaten und Polen. Und auch das russische militärische Engagement in Syrien sorgt bei westlichen Politikern regelmäßig für demonstrative Empörung.

Es ist das gebetsmühlenartig über alle Medien verbreitete Argumentationsmuster: Russland ist aggressiv, Präsident Putin will „den Westen“ destabilisieren, nur die Nato ist in der Lage, durch Abschreckung dem russischen Expansionsdrang Einhalt zu gebieten. Dieser kommunikationspolitische Ansatz erweist sich als durchaus praktikabel, was aber nichts daran ändert, dass er auf dem Verschweigen von Fakten beruht.

Dass sich die Nato – entgegen früheren Zusagen – nach Osteuropa bis an Russlands Grenzen ausgedehnt hat, wird ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass vor allem US-Politiker bereits im Jahr 2008 den damaligen georgischen Präsidenten ermunterten, einen Krieg gegen Russland vom Zaun zu brechen. Auch dass der Staatsstreich in der Ukraine mit fünf Milliarden US-Dollar vorbereitet wurde, um das Land zum potentiellen Aufmarschgebiet gegen Russland machen zu können, kommt in der derzeitigen Medienberichterstattung nicht vor. Die historischen Hintergründe für die Sezession der Krim spielen für die Befürworter einer harten politischen Gangart gegen Russland ebenfalls keine Rolle.

Offene Kriegspropaganda

Die aufgeregte Rhetorik hat einen guten Grund: Ohne ein von der Bevölkerung akzeptiertes Feindbild und ohne ein latentes Bedrohungsgefühl ist die Aufrüstung der Nato und insbesondere der Bundeswehr nicht zu begründen. Und so sprechen auch Entscheidungsträger der Bundeswehr mittlerweile ganz offen über einen möglichen Krieg in Osteuropa, auf den sich die Truppe vorbereiten müsse.

Generalleutnant Bernd Schütt etwa, Abteilungsleiter Strategie und Einsatz im Bundesministerium der Verteidigung, erklärte Ende 2019 im Magazin „Die Bundeswehr“: „Landesverteidigung ist unverändert immer im Rahmen des Nato-Bündnisses zu denken. Neu für uns ist, dass wir in einem solchen Fall kein direkter ‚Frontstaat‘ mehr sein werden. Vielmehr wird die Bundesrepublik Deutschland einerseits eigene Truppen zur Verteidigung an die Bündnisgrenzen zu entsenden haben und andererseits im Herzen Europas als logistische Drehscheibe des Bündnisses agieren müssen.“

Beispiel „Defender 2020“

Die Nato bereitet sich unter aktiver Beteiligung der Bundeswehr auf den Kriegsfall in Osteuropa vor: Mit der US-Truppenübung „Defender Europe 2020“ von Januar bis Mai 2020. 20.000 US-Soldaten, eine komplette US-Kampfdivision, werden aus den USA nach Europa verlegt. 14 Flughäfen und Seehäfen in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Deutschland sind für die Entladung von Personal und Material vorgesehen.

Von dort geht es dann in langen Konvois Richtung Polen und Baltikum. Insgesamt 37.000 Mann mit Kampftechnik werden unterwegs sein, davon 26.000 US-Soldaten. 4.000 Kilometer Schienen und Straßen in das Aufmarschgebiet werden genutzt. Die Bundeswehr übernimmt mit ihrer Streitkräftebasis die logistische Sicherstellung. Es ist ein Szenario, das an die Zeit des Kalten Krieges erinnert.

Neuer alter Gegner

Auch hinsichtlich der sonstigen materiellen Kriegsvorbereitung geht es erkennbar voran. Wichtige Weichenstellungen für die Beschaffung von Kampfpanzern, Schützenpanzern und sonstigen Waffensystemen wurden im Jahr 2019 vorgenommen. So will die Bundeswehr in zehn Jahren 328 Kampfpanzer Leopard 2 in einem Krieg einsetzen können. Der Gegner ist Russland.

Die Reservisten-Zeitschrift „Loyal“ liefert in ihrer Dezember-Ausgabe 2019 das gängige Rechtfertigungsmuster: „Seit Russlands Präsident Putin im März 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte, plant die Nato wieder für den Bündnisfall. Auch Deutschland sieht sich in der Pflicht und will bis 2032 drei voll ausgestattete Heeresdivisionen aufstellen, die den baltischen Bündnispartnern gegen die Russen beistehen könnten. Das wären zehntausende deutsche Soldaten, die einem Gegner gegenüberstünden, der etwa gleich ausgerüstet ist: mit Panzern, Raketen, Artillerie, Minensperren.“

In einer Pressemitteilung des Bundesministeriums der Verteidigung vom 10. Dezember 2019 findet sich die Kernaussage: „Die Bundeswehr wächst weiter“. So werden acht Material- und Munitionslager erhalten, die nach früheren Planungen aufgegeben werden sollten. Zwölf Liegenschaften bzw. Kasernen, von denen sich die Bundeswehr trennen wollte, werden vorerst im Bestand bleiben.

Vorbereitung der Bundeswehr

Vorgesehen ist außerdem die Aufstellung eines „Kommandos Hubschrauber“ in Bückeburg, die Stationierung von fünf neuen Korvetten in Rostock und des Unterstützungsgeschwaders in Kiel für Einsätze im Operationsraum Ostsee. In Burg wird der Stab des neu aufgestellten Logistikregiments 1 seine Arbeit aufnehmen. Zugeordnet werden die Logistikbataillone 161 und 163 (Delmenhorst) sowie die Logistikbataillone 171 (Burg) und 172 (Beelitz). Das Regiment ist für die Absicherung der NATO-Transporte vorgesehen und soll seine volle Einsatzfähigkeit im Jahr 2023 erreichen.

In der Strausberger Barnim-Kaserne erfolgt die Aufstellung des teilaktiven ABC-Abwehrregiments 1, das die „Erhöhung der ABC-Abwehrfähigkeit“ in Ostdeutschland gewährleisten soll. Erste Teile des Aufstellungsstabes werden 2020 in Strausberg stationiert, die volle Einsatzfähigkeit ist für 2027 vorgesehen.

Die Luftwaffe hat derweil das Kampfflugzeug „Eurofighter“ als mehrrollenfähiges Waffensystem modifiziert. Die Maschine kann nun sowohl als Abfangjäger als auch als Jagdbomber zum Einsatz kommen. Möglich wurde das durch Integration der gelenkten Abwurfmunition GBU-48 (Guided Bomb Unit 48). Es ist eine Präzisionsbombe für die Bekämpfung von Bodenzielen – und damit auch für die Unterstützung von Bodentruppen.

Tote Bundeswehrsoldaten eingeplant

Wie weit die Überlegungen über einen möglichen Krieg gegen Russland bereits gediehen sind und wie intensiv versucht wird, die Bundeswehrsoldaten mental auf einen solchen Waffengang vorzubereiten, zeigt ein Bericht der Zeitschrift „Loyal“ in deren Dezember-Ausgabe. Das Magazin beruft sich auf Generalarzt Bruno Most, Stellvertretender Kommandeur im Kommando Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung in Weißenfels.

Dieser rechnet in einem zukünftigen Krieg gegen russische Streitkräfte mit einer Ausfallquote von vier Prozent Toten und Verwundeten pro Brigade und Tag. Das sind keine unverbindlichen Gedankenspiele, sondern Teil einer möglichen Einsatzplanung.

„Die drei Divisionen des Heeres sollen in zwölf Jahren aus acht bis neun Kampfbrigaden bestehen. Einer Brigade wiederum gehören im Schnitt 5.000 Soldaten an. Wenn nur die Hälfte der Brigaden an der Front im Osten eingesetzt würde, wären das 22.500 Soldaten: Panzertruppen, Grenadiere, Fallschirmjäger, Aufklärer, Pioniere, Artilleristen. Vier Prozent von 22.500 Soldaten ergibt 900. …In einem Krieg wäre mit 900 gefallenen und verwundeten Soldaten zu rechnen. An einem Tag.“

Alte Denkfehler

Die Rechnung hat nur einen entscheidenden Denkfehler: Sie unterstellt, dass ein solcher Krieg hinsichtlich des eingesetzten Waffenspektrums und seiner territorialen Ausdehnung begrenzbar wäre, dass also die russischen Streitkräfte in einem solchen Konflikt der Regie der Nato folgen würden. Für diese Annahme gibt es allerdings keinen belastbaren Beleg.

Diese Vorstellung von Nato-Strategen war übrigens bereits in den 80er Jahren als „Strategie der flexiblen Reaktion“ („Flexible Response“) völlig realitätsfern. Dass man sich nun in Nato-Stäben wieder auf die damaligen strategischen und operativ-taktischen Konzepte besinnt, macht sie nicht realitätsbezogener. Ein Krieg an Russlands Grenzen würde sich kaum auf konventionelle Waffen beschränken lassen und wenn er ausgebrochen wäre, würde auch das Territorium der Bundesrepublik zum Zielgebiet gegnerischer Raketenschläge und zum Schlachtfeld werden – allein wegen dessen Bedeutung für die Nato-Logistik.

Zu empfehlen ist ein Blick in die aktuell gültige russische Militärdoktrin. Diese Lektüre wäre sicher auch für manchen Journalisten hilfreich, der mit leichter Feder über einen neuen Krieg im Osten fabuliert. Die Unterschätzung des potentiellen Gegners ist genauso gefährlich wie Wunschdenken hinsichtlich der eigenen militärischen Fähigkeiten.

Chinesische Weisheit

Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass NVA-Planer in der Zeit des Kalten Krieges für die ersten zwei bis drei Kriegstage mit Ausfallquoten von etwa 30 Prozent bei den Kampfdivisionen der ersten strategischen Staffel rechneten. Diese Annahmen dürften auch für einen Krieg der Nato gegen Russland gelten, denn es wäre von russischer Seite ein Krieg, der existenzgefährdend für den russischen Staat ist. Daran würden sich die Intensität der Kampfhandlungen und das zum Einsatz kommende Waffenspektrum orientieren.

Wer also glaubt, dass die Bundesrepublik Deutschland im Kriegsfall „kein Frontstaat“ wäre und sich der Krieg mit allen seinen Folgen weit im Osten abspielen würde, unterliegt entweder einem großen strategischen Irrtum oder redet sich und anderen bewusst die damit verbundenen Gefahren klein. Schon der chinesische Stratege und Militärtheoretiker Ssund-ds’ (auch: Sun-Tsu) mahnte: „… kennst du den Gegner und kennst du dich, so magst du hundert Schlachten schlagen, ohne eine Gefahr zu fürchten; kennst du ihn, aber nicht dich selbst, so wirst du einmal siegen und ein anderes Mal eine Niederlage erleiden; kennst du weder dich noch ihn, so wirst du in jeder Schlacht geschlagen werden.“

Der Autor Uwe Markus, Jahrgang 1958, ist promovierter Soziologe und war bis 1990 am Institut für Sozialwissenschaftliche Studien in Berlin tätig. Seither arbeitet er als Marktforscher, Unternehmensberater und Dozent. Seinen Militärdienst leistete der Oberleutnant a. D. in der 9. NVA-Panzerdivision. Seit 2010 veröffentlicht er Publikationen zu militärhistorischen und sicherheitspolitischen Themen.

Seine Analyse erschien zuerst auf der Webseite des Traditionsverbandes Nationale Volksarmee (NVA) e.V. und wurde leicht redaktionell geändert.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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