Freitag, April 26, 2024
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„Bildungsnotstand“ oder „Bildungsaufstand“: Pisa-Studie sorgt für Unmut

Die neueste Pisa-Studie sorgt erneut für allerlei Aufregung. Zwar hat sich die Leistung der Schüler in Deutschland verschlechtert, jedoch bleibt diese weiterhin auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau. Die Verstimmung ist groß und parteienübergreifend: Die AfD ruft den „Bildungsnotstand“ aus, die Linkspartei fordert den „Bildungsaufstand“.

Nach mehrjährigem Aufwärtstrend bis 2013 erlebt Deutschland nun den zweiten Pisa-Knick in Folge. Die deutschen Schüler haben sich in allen drei Bereichen der internationalen Vergleichsstudie – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – leicht verschlechtert. Sie erzielten jeweils etwas weniger Punkte als bei der vorherigen Untersuchung, die 2016 veröffentlicht wurde. Auch damals waren die Werte in zwei Bereichen schon gesunken.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wies bei der Vorlage der Zahlen am Dienstag in Berlin aber auch darauf hin, dass die deutschen Schüler leistungsmäßig weiterhin über dem OECD-Durchschnitt und damit auf einem guten Niveau lägen. Der Abstand zur Spitzengruppe in Europa und Asien mit Singapur, Hongkong, Japan, Estland, Kanada oder Finnland bleibt dennoch groß.

Schwerpunktmäßig wird bei der größten internationalen Schulleistungsvergleichsstudie jeweils ein Bereich stärker abgefragt. Diesmal ging es vor allem um die Lesekompetenz. Im Bereich Lesen erreichten die deutschen Schüler einen Punktwert von 498 (2016: 509), in Mathematik 500 (2016: 506) und in Naturwissenschaften 503 (2016: 509). Zum Vergleich: Die Spitzenländer kamen auf Werte zwischen 550 und 590, Länder am Ende der Skala wie die Dominikanische Republik oder die Philippinen auf Werte zwischen 325 und 340.

Vergleicht man die Ergebnisse der aktuellen Studie mit dem Schwerpunkt Lesen mit der letzten Schwerpunktstudie Lesen, die 2010 veröffentlicht wurde, erreichen die 15-Jährigen in Deutschland heute ähnliche Ergebnisse. Als bedenklich eingestuft wird, dass jeder fünfte 15-Jährige beim Lesen nur ein sehr geringes Leistungsniveau erreicht. Das heißt, er oder sie kann mit ganz einfachen Leseanforderungen nicht umgehen. Auch in Mathe und Naturwissenschaften liegt der Anteil der leistungsschwachen Schüler bei rund 20 Prozent.

Karliczek (CDU): „Mittelmaß nicht unser Anspruch“

Nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek kann Deutschland mit den Ergebnissen seiner Schüler bei der Vergleichsstudie Pisa nicht zufrieden sein. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagte die CDU-Politikerin laut einer gemeinsamen Mitteilung ihres Ministeriums und der Kultusministerkonferenz vom Dienstag. Karliczek hob hervor, dass Deutschland ein gutes Schulsystem habe und auch in dieser Pisa-Studie leicht über dem OECD-Durchschnitt liege. Besonders bedenklich sei, dass jeder fünfte 15-Jährige nicht einmal auf Grundschulniveau lesen könne, sagte Karliczek.

Der Präsident der Kultusministerkonferenz, der hessische Ressortchef Alexander Lorz (CDU), erklärte, im internationalen Vergleich verfügten 15-Jährige in Deutschland über gute Kompetenzen. „Es gelingt den Schulen, bei einer deutlich stärkeren Heterogenität der Schülerschaft weiterhin gute Ergebnisse im internationalen Vergleich zu erzielen.“ Ihn stimme zuversichtlich, dass Schüler mit Zuwanderungshintergrund in der zweiten Generation sich gegenüber früheren Pisa-Studien deutlich verbessert hätten.

AfD ruft den „Bildungsnotstand“ aus

Die AfD schlägt Alarm und ruft den „Bildungsnotstand“ aus, wie die Fraktionschefin Alice Weidel via Twitter erklärt. „Kinder und ihre Lehrer schwänzen die Schule, demonstrieren seit Monaten gegen den nahenden Weltuntergang. Unterdessen: Ein neuer Pisa-Schock für Deutschland. Jeder fünfte 15-Jährige kann kaum lesen!“, empört sich Weidel.

Die Linke fordert einen „Bildungsaufstand“

Die Studienautoren kritisierten zudem bei der Vorlage der Ergebnisse ein altbekanntes Problem in Deutschland: Der Schulerfolg hänge in der Bundesrepublik weiterhin stärker von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler ab als im Durchschnitt der OECD-Länder. Privilegierte Schüler hätten einen deutlichen Leistungsvorsprung zu denen, die „sozioökonomisch benachteiligt“ seien.

Aus diesem Grund fordert die Linksfraktion im deutschen Bundestag „einen Bildungsaufstand“. Es sei ein längst überfälliger ordentlicher Ruck in der Bildungspolitik in den Ländern und im Bund notwendig, erklärt Birke Bull-Bischoff, Sprecherin für Bildungspolitik der Linksfraktion. „Doch offenkundig mangelt es am Willen und Einsatz für gute und gerechte Bildung für alle. Statt Kleinstaaterei-Gehabe wie jüngst von Bayern und Baden-Württemberg, und dem Verweis der Bundesregierung auf Nichtzuständigkeit brauchen wir mehr Willen und spürbaren Einsatz. Es liegt so klar auf der Hand, was angepackt werden muss. Wie soll denn bei dem vorherrschenden Lehrkräftemangel, der sozialen Auslese, dem Unterrichtsausfall, überfüllten Klassen, fehlenden Schulen auf dem Land und in der Stadt eine gute Lern- und Lehrsituation entstehen?“ Der steigende gesellschaftliche Druck auf Schulen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler mit wachsendem Leistungs- und Notendruck tue sein Übriges, so Bull-Bischoff.

Wieder eine „Pisa-Klatsche“?

Auch die SPD findet: „Schulerfolg darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen! Dass Deutschland in der aktuellen PISA-Studie gerade in diesem Punkt so schlecht abschneidet, ärgert die SPD-Fraktionsvizin Bärbel Bas. Sie fordert: „Bund und Länder müssen besser zusammenarbeiten“.

„Braucht es alle drei Jahre eine neue Pisa-Klatsche?“, fragt die stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, Katja Suding. „Wir wollen endlich eine Reform des Bildungsföderalismus: 16 unterschiedlichste Schulsysteme und die fehlende Vergleichbarkeit der Abschlüsse sind komplett aus der Zeit gefallen“, bemängelt die FDP-Politikerin.

GEW: „Achillesferse des deutschen Schulsystems“

Einen Schulterschluss zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Sozialpartnern mahnt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)in einer Pressemitteilung an. „Die große Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler bleibt die Achillesferse des deutschen Schulsystems. Auch fast 20 Jahre nach dem Pisa-Schock schafft es Schule nicht entscheidend, Nachteile abzubauen, die Kinder aus dem Elternhaus mitbringen. Im Gegenteil: Der Lehrkräftemangel verschärft das Problem. Die Schere geht weiter auf“, kritisiert Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied Schule. Nur mit einer länderübergreifenden Anstrengung sei die Herausforderung, endlich für mehr Chancengleichheit zu sorgen, zu stemmen.

„Insbesondere Schulen in schwierigen sozialen Lagen müssen deutlich gestärkt und begleitet werden, damit sie die Schülerinnen und Schüler besser unterstützen und fördern können. Sonst werden die Unterschiede zwischen Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien und gut betuchten Elternhäusern gerade vor dem Hintergrund des gravierenden Lehrkräftemangels an Grundschulen zusätzlich verstärkt“, unterstreicht Hoffmann. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich schlechtere Bildungschancen als ihre Mitschülerinnen und -schüler ohne diese Erfahrung hätten: „Auch für diese Gruppe gibt es dringenden Handlungsbedarf.“ Zudem regte die GEW-Expertin an, mehr in der Förderung von Mädchen in Mathe und den MINT-Fächern sowie Jungen im Lesen zu investieren.

Dieses Mal nahmen rund 600.000 Schülerinnen und Schüler aus 79 Ländern an der Studie teil – in Deutschland knapp 5500. Es war die mittlerweile siebte Runde. Seit dem Jahr 2000 werden für den Vergleichstest alle drei Jahre weltweit Hunderttausende Schüler im Alter von 15 Jahren in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften getestet.

pal / dpa

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