Donnerstag, März 28, 2024
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Corona-Proteste: Was haben sie mit einem neuen „Wir-Gefühl“ zu tun?

Generell geht es laut Daniel Witzeling, Leiter des Humaninstituts in Wien, um die Faktoren Unzufriedenheit und Angst, die sich je nach eigener Motivlage (politische, wirtschaftliche, Impfgegner und vieles mehr) in den Demos unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Einschränkung der Grundrechte entladen.

So finden sich bei den Demonstranten Personen von der extremen Rechten bis hin zu linken Kapitalismus-kritischen Strömungen, so der Sozialforscher. „Natürlich sind ebenso Menschen Teil der Versammlungen, die anfällig für vielfältige Formen von Verschwörungstheorien sind. Alle Teilnehmer jedoch als ‚Verschwörungstheoretiker‘ oder politische Extremisten abzuklassifizieren, ist nicht fair und seriös. Es befinden sich auch viele Bürger mit Existenzängsten und Perspektivenlosigkeit unter den Demonstranten. Auf diese Zielgruppen muss die Politik aktiv zugehen und die Ängste und Sorgen ernst nehmen.“

Das generelle Ziel der Menschen sei es, ernst genommen zu werden, fährt Witzeling fort. „Den verschiedenen Manifestationen der Angst gilt es, mit Verständnis und nahezu therapeutischem Feingefühl zu begegnen, um die sozialen Spannungen konstruktiv aufzulösen. Die Gesellschaft darf nicht so wie in den USA noch mehr gespalten werden. Wenn eine Gruppe von Menschen sich zusammengeschlossen hat, um gegen die Corona-Maßnahmen und Beschränkungen zu protestieren, schafft ein gemeinsamer ,Außenfeind‘ beziehungsweise ein vereinendes Ziel aus der sozialpsychologischen Perspektive einen starken Zusammenhalt nahezu analog zu einer Familie.“

„Wir-Gefühl“ als Familienersatz

Ähnliche Phänomene in Bezug auf das berühmte „Wir-Gefühl“ sieht der Sozialpsychologe bei Fans von Fußballvereinen. „Hier findet ebenso eine große Identifikation mit der eigenen Mannschaft statt, die für besonders militante Anhänger oft einen Familienersatz darstellt. Ganz so intensiv ist es bei den Hygiene-Demos in Deutschland oder in Österreich nicht, aber man kann klar beobachten, dass die Bürger mit vielen Handlungen, die der Staat in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gesetzt hat, nicht zufrieden sind. Zu dieser Stimmung kommen noch andere Unzufriedenheiten und Ängste hinzu, welche sich in den Demonstrationen entladen.“

Witzeling ist der Ansicht, dass dabei auch die Verschwörungsmythen den Menschen ein für sie verständliches Erklärungsmodell für die sonst schwer zu verstehenden komplexen Zusammenhänge in der Wirtschaft sowie in Bezug auf das Corona-Virus bieten.

„Wie bei Märchen braucht der Mensch nachvollziehbare Muster und Geschichten, denen er folgen kann. Verschwörungstheorien sind somit eine Reduktion der Komplexität unserer Welt und der auf dieser stattfindenden Prozesse und Abläufe. So paradox es klingen mag, geben Verschwörungstheorien den Bürgern eine gewisse Art von Sicherheit.“

Die Deutschen sowie die Österreicher seien bei der Corona-Thematik zweigeteilt, stellt der Experte fest. „Ein Teil der Bevölkerung findet die Maßnahmen der Regierenden sinnvoll. Ein anderer sieht sich zusehends durch diese Interventionen eingeschränkt und kämpft mit wirtschaftlichen Existenzängsten. In welche Richtung das gesamtgesellschaftliche Pendel schwingen wird, wird davon abhängen, wie lange manche Einschränkungen noch aufrechterhalten werden. Der Status quo besteht aus Gegnern der Regierungsmaßnahmen und wiederum Gegenströmungen zu diesen Entwicklungen. Aktuell ist dies eine psycho- und soziodynamisch sehr spannende Lage, welche nicht nur in Europa wahrzunehmen ist, sondern – wie die Unruhen in den USA auf anderen Gebieten (der Fall George Floyd) zeigen – weltweit Wellen schlägt.“

Haben die Österreicher mehr Verständnis für Corona-Maßnahmen?

In Österreich habe sich die Lage durch die rasche Lockerung der Corona-Maßnahmen relativ beruhigt, merkt Witzeling an. „Die österreichische Bundesregierung musste rasch auf die drohende Wirtschaftskrise und die Frustration der Menschen reagieren. Die große Frage wird sein, wie schnell sich die Wirtschaft wieder erholt und die Arbeitslosenzahlen sinken. Sollte der Effekt der Maßnahmen auf die Lebensqualität der Bürger in der Alpenrepublik – sprich auf die Wirtschaft und die soziale Sicherheit – im negativen Sinne ein nachhaltiger sein, dann wird sich das anfängliche Verständnis noch mehr in Richtung Ablehnung der Handlungen der Regierung drehen.“

Auch die Maskenpflicht werde in Österreich je nach Lage der Genese der Corona-Fallzahlen wieder rückgängig gemacht, urteilt der Sozialforscher. Das Thema Maske sei aus seiner Sicht generell ein mehrdeutiges.

„Sich hinter einer ,Maske‘ zu verstecken, ist tiefenpsychologisch interpretiert nicht positiv. Es geht in unserer Gesellschaft immer um den Menschen hinter der Maske. Dies trifft besonders auf unsere Politiker zu. Eine Maske steht einerseits für den ,Schutz‘ des Trägers, bedeutet aber gleichzeitig ein Verstecken der eigenen Identität und Motive.“

Spiele mit der Angst beenden

Witzeling besteht darauf, dem Spiel mit der Angst der Menschen ein Ende zu setzen. „Die Regierenden müssen den Menschen Zuversicht und Hoffnung geben und dürfen trotz der Notwendigkeit der Eindämmung der Pandemie die Bürger nicht verunsichern. Dies ist gerade für die Ankurbelung der Wirtschaft und des sozialen Lebens von höchster Bedeutung. Über das Virus seriös aufzuklären, ist das Eine. Zu viel Angst zu schüren, das Andere. Wir alle brauchen nun weltweit eine Perspektive, wie es wirtschaftlich, sozial und in Bezug auf die Gesundheit weitergehen soll. Hier ist ein zu intensives ,Spielen mit der Angst‘ kontraproduktiv.“

Durch die Corona-Krise schlage die Stunde des Sozialkapitals, ist sich der Experte sicher:

„Hierbei geht es im Unterschied zum Finanzkapital um Kooperation statt Konkurrenz. Sozialkapital steht für den sozialen Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft. Es repräsentiert den Mehrwert von menschlichen Beziehungen über den rein ökonomischen Nutzen hinaus. Weltweit müssen die Menschen lernen, im Gegenüber nicht den Gegner oder Konkurrenten zu sehen.“

Das Know-How, welches sich viele erarbeitet haben, ob auf sozialer, wirtschaftlicher oder technischer Ebene, gelte es, für den gemeinsamen Nutzen einzusetzen, meint Witzeling, und nicht allein für den Vorteil von einigen wenigen: „Die Zeit des Egoismus und der Egomanie ist vorbei. Neben dem Umdenken auf ökologischer Ebene muss ebenso ein Paradigmenwechsel auf ökonomischer und sozialer Ebene stattfinden. Das Prinzip ,höher, weiter und schneller‘ stößt an seine natürlichen Grenzen, und das ist gut so. Das Ziel soll sein, dass der Mensch und nicht das Kapital im Zentrum der politischen Bemühungen steht. Somit kann die Krise zur Chance werden.“

Quelle!:

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