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Der Anschlag von Wien und die vielen Fragen zu Schuld und Sühne

Der Attentäter von Wien war im April 2019 rechtskräftig zu 22 Monaten Haft wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden. Nach acht Monaten kam er bereits frei. Auch andere Personen, die offen mit dem IS sympathisieren, haben ihre Strafen abgebüßt oder werden in diesen Monaten ihre Haftentlassung antreten. Und was dann?

Mit der Proklamation des Kalifats des „Islamischen Staates“ zwischen Raqqa in Syrien und Mosul im Irak im Juni 2014 gelangten Tausende EU-Bürger nach Syrien, wo seit 2011 ein Stellvertreterkrieg zwischen sämtlichen Regionalmächten des Nahen Ostens tobte.  Einige europäische Staaten und die USA waren bereits militärisch involviert. Ob Muslime oder Konvertiten, aus den französischen Vororten oder dem arrivierten Mittelstand aus Österreich – sie alle wollten in „ihren“ Dschihad. Der wilde Traum so manchen gelangweilten Europäers war, am Aufbau dieser vermeintlich gottgefälligen Gesellschaft mitzuwirken und dabei das Leben der syrischen Bevölkerung zu zerstören. Die jungen und oft nicht mehr ganz so jungen Männer taten dies mit der Waffe, die Frauen als IS*-Bräute mit ihren diversen Pflichten. Es zogen sowohl Unverheiratete als auch ganze Familienverbände ins Kalifat. Einige dieser terroristischen Reisekonvois konnten noch auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet oder in der Türkei, wohin sie mit einem One-Way-Ticket gereist waren, gestoppt und verhaftet werden. So verhielt es sich auch im Fall des Attentäters von Wien. Er hatte seinen Treue-Eid auf den IS geleistet und wollte auf nach Syrien. So wie ihm sollte es Dutzenden IS-Anhängern gehen.

Am Dschihad gehindert und kurz in Haft

Bereits im Jahr 2015 standen viele von ihnen vor österreichischen Strafgerichten und mussten sich für die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung verantworten. Die Prozesse fanden unter hohem Sicherheitsaufwand statt. Die Angeklagten und ihre Familienangehörigen im Gerichtssaal beleidigten und bedrohten verbal Richter und Staatsanwaltschaft. Das Strafausmaß nach Durchlaufen der Instanzen betrug oft vier bis fünf Jahre, die Höchststrafe für diesen Straftatbestand von 15 Jahren wurde zwar nicht verhängt, aber knapp neun Jahre, aufgrund besonderen Gefährdungspotenzials, mussten einige der Verurteilten antreten.

In Debatten stellte ich damals als Analytikerin oft die Frage: Wie werden die Sicherheitsdienste, die Justiz, aber auch wir als Gesellschaft im Jahr 2020 mit der Situation umgehen, wenn diese Personen mehrheitlich wieder aus der Haft entlassen würden? Es war absehbar, dass so mancher in der Haft neue Kontakte knüpfen und sich weiter radikalisieren würde. Der juristische und gesellschaftliche Balanceakt zwischen Strafe, Abwehr der Gefährdung und Resozialisierung war von Anbeginn heikel. Im letzten Jahrzehnt war ein neuer Geschäftszweig der Deradikalisierung entstanden. Unzählige Vereine haben dieses Thema zu ihrer Agenda gemacht und wirken in Schulen, Moscheen, aber auch Gefängnissen. Die Qualität der Arbeit ist jeweils im Einzelfall genau zu untersuchen; aber an Exzellenz fehlt es oft, weder Sprachkenntnisse noch Hintergrundwissen sind erforderlich. Die Einschätzung der Vereinsträger spielt oft eine wichtige Rolle, wenn Entscheidungen der Behörden anstehen.  

Der Attentäter von Wien, der sowohl die österreichische Staatsbürgerschaft als auch jene von Nord-Mazedonien besitzt, wurde jedenfalls auf richterlichen Entscheid im Dezember 2019 vorzeitig entlassen. Seine bedingte Entlassung mit einer Bewährungsauflage von drei Jahren sorgte damals für Diskussionen zwischen der Staatsanwaltschaft, die dies ablehnte, und der Richterin, die eine vorzeitige Entlassung befürwortete, da sie davon ausging, dass der Betroffene eine gesetzeskonforme Lebensführung infolge Wohnraums und sozialen Umfelds anstrebe. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob der Attentäter die Behörden mit seiner Deradikalisierung getäuscht hat oder ob ein Behördenversagen vorliegt.

Ich verwies immer wieder auch in Vorträgen für die Richtervereinigung auf die Tatsache, dass all jene, die an ihrem Dschihad gehindert wurden, wohl noch mehr an ihrer Ideologie festhalten würden. Immerhin würden sie nicht die brutale Wirklichkeit des Alltags im Kalifat kennenlernen, wo die Dschihadisten wegen Abspaltungen einander bekämpften und letztlich brutaler Krieg herrschte, in dem man zu Schaden kommt. So mancher IS-Kämpfer musste in Syrien erst begreifen, worauf er oder sie sich eingelassen hatte. Denn unter den europäischen Islamisten befand sich von Anbeginn auch ein hoher Prozentsatz von Frauen. Bereits ab 2005 waren Europäerinnen auf den unmöglichsten Wegen in den Irak gereist, um sich dort Al-Qaida anzuschließen. Die deutschen Konvertitinnen galten oft als besonders radikal und diktierten den einheimischen Frauen die Verhüllung.

Die unübersichtliche Dschihad-Szene in Österreich

Innerhalb Syriens würde die tschetschenische Brigade bald für ihre Grausamkeit berüchtigt sein. Unter ihnen befanden sich auch viele Tschetschenen aus Österreich, deren Familien zu Beginn der 2000er Jahre in der EU um politisches Asyl angesucht hatten. Die Anerkennungsquote für Tschetschenen war vor allem in Österreich besonders hoch. Unter den mehr als 300 Dschihadisten, die aus Österreich nach Syrien ausgereist waren, sollen Tschetschenen rund die Hälfte stellen.

Österreich machte im Sommer 2014 Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass sich mehrere Teenager-Mädchen im Alter von 14 und 15 Jahren auf unterschiedlichen Wegen dem IS angeschlossen hatten. Ähnlich wie in Belgien und Dänemark ging die Zahl der aus Österreich ausgereisten IS-Sympathisanten von Monat zu Monat hinauf. Umgelegt auf die Bevölkerungszahl zeigte sich, dass der Anteil höher war als in Frankreich oder Deutschland. Die Profile der IS-Anhänger in Österreich sind äußerst vielfältig. Junge Frauen, die sich in einschlägigen Chatrooms für ihre zukünftigen Ehemänner und den IS entscheiden, gehören ebenso dazu wie Österreicher, deren Eltern vor dem Jugoslawienkrieg in den 1990ern geflüchtet waren.

Als im Juni 2015 in Graz ein aus Bosnien-Herzegowina stammender Mann eine Amokfahrt durch die steirische Landeshauptstadt Graz unternimmt und ein Massaker anrichtet, wollen die Behörden konsequent nicht von einem terroristischen Anschlag sprechen.

Ich kritisierte damals öffentlich diese Linie und verwies auf die zahlreichen Aspekte einer vom IS inspirierten Tat. Die Linie zwischen einem Fall für die Psychiatrie oder für das Strafrecht wirkt oft sehr verschwommen. 

Wer übernimmt die Beobachtung?

Von den rund 300 amtsbekannten Dschihadisten aus Österreich soll rund ein Drittel in Syrien ums Leben gekommen sein, ein weiteres Drittel noch dort sein und der Rest sich in Österreich aufhalten, wobei unklar ist, wer in welchem Umfang diese Personen observiert. Es stellt sich in allen Sicherheitsdiensten das Problem der Kapazitäten und korrekten Einschätzung. Viele Anschläge wurden durch Hinweise zwischen den Diensten vereitelt, aber offenbar war der Attentäter von Wien nicht (mehr) auf dem Radar der Behörden.

Dass IS-Rückkehrer über brutale Fronterfahrung verfügen, erklärt sich von selbst. Meine Sorge war und ist, dass mehrere IS-Zellen erfahrene Kämpfer zeitgleich die Sicherheitskräfte in Gefechte hineinziehen. Es wäre dann kein Anschlag mehr, sondern eine regelrechte militärische Konfrontation in einem Wohnviertel beispielsweise. Derartige Gefechte haben in den letzten Jahren die Sicherheitskräfte zum Beispiel im Libanon, so im Palästinenserlager von Nahr el Bared in Tripolis, oder in Jordanien immer wieder in Atem gehalten. In beiden Fällen haben wir es mit Streitkräften zu tun, die militärisch top ausgebildet sind und über hohe Widerstandsfähigkeit verfügen. In Europa stellen sich neben dem Aspekt der Qualität der Antiterror-Einsätze zahlreiche weitere gesellschaftspolitische Fragen, deren Beantwortung in der Vergangenheit schon für heftige Kontroversen sorgte.

Ich geriet selbst oft in solche hinein, da ich klar politische Defizite benannte und auf die Probleme der „zornigen jungen Männer“ auch in einem Buch ausführlich hinwies. Die Attacken vieler Redaktionen und politischer Parteien waren mir fortan gewiss und begleiteten mich bis ins Ministeramt.

Was ist nun zu tun?

Dass der IS weiterhin seine Anziehungskraft ausübt und nicht mit der Rückeroberung von Mosul durch die irakische Armee besiegt wurde, hat sich jedenfalls Montagnacht in Wien mit aller Härte bestätigt. Die Rivalen IS und Al-Qaida sowie die vielen Splittergruppen operieren in Nordafrika und in der Sahelzone in teils fusionierten Gruppen. Die Anarchie in Libyen, welche die französisch-britische Militäroperation im März 2011 lostrat, ist bis heute ein Nährboden für Terrorismus. Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist weiterhin eine des Limbos und der vielen Durchlässigkeiten für das organisierte Verbrechen, das immer die andere Seite der Medaille des Terrorismus ist.

In diese terroristischen Milieus einzudringen, ist gleichsam unmöglich, da die meisten EU-Nachrichtendienste kaum über derartige Mitarbeiterstäbe verfügen. Die Zusammenarbeit reduziert sich auf den einen oder anderen freiwilligen Austausch von Informationen, aber es besteht keine operative Zusammenarbeit. Nach Damaskus reisten in den letzten Jahren die Sicherheitsleute, weil es um das Thema IS-Rückkehrer ging, mit den Regierungen wichtiger nahöstlicher Regionalmächte hält es jeder anders. Es wird sich meiner Einschätzung nach auch wenig daran ändern. Allein die unterschiedlichen Positionen von Berlin, Rom und Paris in Libyen sprechen Bände. 

Ein Punkt, der aber leicht umzusetzen wäre, ist folgender: die Dinge beim Namen zu benennen – sine ire et studio, also nur unvoreingenommen, klar und deutlich. Das ist eine Aufgabe für viele Redaktionen.

Die „New York Times“ entschuldigte sich zumindest nach dem Irakkrieg für ihre vielen Falschinformationen zu den vermeintlichen Kriegsgründen. Mehr Analyse und weniger Moralisieren ist dringend erforderlich. Der gesellschaftliche Graben ist spürbar, er vertieft sich mit jedem Gewaltakt und jeder medialen Verniedlichung oder dem Spektakel ebenso wie mit jeder Polarisierung, weil Wählerstimmen zu maximieren sind. Sachpolitisch zu entscheiden, ist nicht jedermanns Sache. Mit Emotionen und noch viel mehr mit einer vermeintlichen „Gott ist mit uns“-Begründung werden Terrorismus und Gegengewalt leider weitergehen.

* Terrororganisation, in Deutschland und Russland verboten.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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