Montag, April 29, 2024
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„Ein Hammer“: BND hatte Anis Amri auf dem Schirm und tat nichts? – MdB Movassat

Wusste der BND vor dem Anschlag in Berlin, dass von Amri eine Gefahr ausgeht und hat Informationen zurückgehalten? Das sollen nun Dokumente nahelegen, die dem „RBB“ vorliegen. Stellvertretendes Mitglied im Amri-Untersuchungsausschuss, Niema Movassat (Die Linke), zeigt sich empört und verrät Hintergründe – im Sputnik-Interview.

– Herr Movassat, offenbar hatte „RBB24“ Einsicht in „interne Behördendokumente“, die belegen sollen, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) bereits sechs Wochen vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz umfangreiche Erkenntnisse über Anis Amri und die Gefahr, die von ihm ausging, hatte. Unter anderem sollen die BND-Ermittler festgestellt haben, dass Amri auf Facebook immer wieder diverse Seiten von radikalen Islamisten geliked hat. Überrascht Sie das?

– Mich überrascht es nicht. Es gab immer wieder Hinweise, dass Geheimdienste an Amri dran waren. Wir wissen auch von dem Video, was dem BND zugespielt wurde, indem Amri ankündigt, Köpfe abzuschneiden. Es überrascht nicht, dass die Geheimdienste involviert sind. Auch wenn es zu Beginn anders behauptet wurde. Damals hatte Hans-Georg Maaßen gesagt, als er noch Chef des Bundesverfassungsschutzes (BfV) war, das sei ein reiner Polizeifall. Auch Thomas de Maiziere hatte ja ähnliches gesagt als Innenminister. Wir wissen ja mittlerweile, dass der Verfassungsschutz mehrere V-Leute im Umfeld von Anis Amri hatte.

– Wie ist diese neue Sachlage einzuordnen? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

– Die Information ist eigentlich ein Hammer, weil sie bedeutet, dass der BND Ende November Informationen durch den marokkanischen Nachrichtendienst hatte, nach denen Anis Amri gefährlich ist. Und der BND hatte auch, dadurch, dass er die neue Handynummer von Amri bekommen hat, ihn orten können. Sie wussten, wo er ist. Sie wussten, dass er gefährlich ist. Und sie hätten diese Information an das Landeskriminalamt (LKA) Berlin weitergeben müssen. Das LKA Berlin hatte im November 2016 entschieden, dass Amri nicht mehr gefährlich ist. Der würde ins Drogenmilieu abrutschen und würde keine Anschlagspläne mehr verfolgen. Diese Erkenntnis ist sehr fragwürdig. Das LKA NRW sagt: Nein, Amri war weiterhin gefährlich. Mit diesen Informationen, die der BND hatte, und die sie als geheim eingestuft hatten und demnach höchstwahrscheinlich nicht an weitere Behörden gegeben haben, das wird eine Frage sein, die wir klären müssen: Hätte das LKA Berlin die Ermittlungen aufnehmen müssen und hätte Amri kurzum aus dem Verkehr ziehen können zu diesem Zeitpunkt wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat oder dergleichen? Und hätte damit den Anschlag auf dem Breitscheidplatz verhindern können?

– Welchen Hintergrund hat es? Warum hatte der BND Interesse an Amri? Ist es nicht eher die Sache des Inlandsgeheimdienstes gewesen?

– Eigentlich ist es eine Frage der Polizeibehörden in erster Linie. Der BND kommt erst ins Spiel, weil der marokkanische Geheimdienst ihn informiert hat. Das ist soweit der normale Vorgang. Aber der BND hat hier eine Bringschuld. Es geht nicht um einen Auslandsfall, sondern es geht um einen Inlandsfall. Das heißt, sie hätten diese Informationen bearbeiten und an das LKA Berlin weitergeben müssen.

– Amri soll auch Kontakte zum IS* in Libyen gehabt haben. Was wissen Sie darüber? Vier Wochen nach dem Anschlag wurde ja ein IS-Camp in Libyen von der US-Luftwaffe bombardiert. Es wird spekuliert, dass es hier einen Zusammenhang geben könnte. Die Ermittler hätten darauf gehofft, dass Amri sie zu den Hintermännern des IS hätte führen können. Halten Sie das für möglich?

– Das ist eine valide Hypothese, über die man im Untersuchungsausschuss diskutieren muss. Fakt und unbestritten ist, dass Amri Kontakte zum IS in Libyen hatte. Das Auffliegen von Amri hätte möglicherweise die Beobachtung der IS‘ler auffliegen lassen. Es ist davon auszugehen, dass der ausländische Geheimdienst – wir wissen offiziell nicht, welcher es ist, der an Amri dran war – ja nicht Amri beobachtet hat, sondern hat wahrscheinlich den IS in Libyen beobachtet und hat dadurch als Nebeninformation Informationen über Amri erhalten. Sie haben die Sorge gehabt, dass, wenn Amri in Deutschland auffliegt, dass dann die IS‘ler gewarnt werden würden: Dann hätten sie gewusst, dass sie in irgendeiner Form abgehört werden und dann wäre die Bombardierung des IS-Terrorcamps in Libyen am 19. Januar 2017 – vier Wochen nach dem Anschlag in Berlin – nicht mehr möglich gewesen. Das ist eine Hypothese der schützenden Hand. Also, dass eine schützende Hand über Amri schwebte und dafür sorgte, dass er nicht aus dem Verkehr gezogen wird, damit der Antiterroreinsatz in Libyen nicht gefährdet wird.

Wenn das so sein sollte, dann haben deutsche Geheimdienste – insbesondere der BND, vielleicht auch der Verfassungsschutz – sehenden Auges einen Terroranschlag geschehen lassen, um sozusagen die Interessen eines anderen ausländischen Geheimdienstes zu schützen. Wenn das so wäre, wäre das ein echter Skandal.

– Welche Herausforderungen müssen noch im Untersuchungsausschuss geklärt werden oder welche wichtigen Fragen noch beantwortet werden?

– Wir müssen den BND zu diesem Thema im Untersuchungsausschuss vernehmen. Der BND muss uns sagen, welche Informationen er vom ausländischen Dienst erhalten hatte, wie er damit umgegangen ist. Und die große Frage, mit wem wurden die Informationen geteilt und warum wurden diese Informationen nicht geteilt. Und wenn sie nicht geteilt worden sind, dann muss man den BND fragen, warum das so ist.

– In einem „Zeit“-Interview im Jahr 2007 sagte der Altkanzler Helmut Schmidt: „Ich traue inzwischen überhaupt keinem Geheimdienst mehr. Punkt!“ Auf die Frage, ob es eine besondere Form des Terrorismus in Deutschland gebe in Bezug auf Baader, Meinhof und Co., sagte er: „Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, egal, ob die deutsche RAF, die italienische Brigate Rosse, die Franzosen, Iren, Spanier oder Araber, in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden übertroffen von bestimmten Formen von Staatstrerrorismus.“ Nach dem NSU- und NSA-Skandal und nun den neuen Erkenntnissen im Fall Amri: Wie kommentieren Sie das? Und würden Sie den Ausführungen von Helmut Schmidt zustimmen?

– Ich traue Geheimdiensten auch nicht. Ich finde, Geheimdienste passen nicht in eine freiheitliche Demokratie. Die freiheitliche Demokratie lebt von Transparenz und Offenheit. Geheimdienste leben von Geheimniskrämerei. Und das passt nicht zusammen. Einen Fall von „Staatsterrorismus“ würde ich in diesem Fall nicht annehmen. Ich glaube nicht, dass der BND und dergleichen gesagt haben: Amri soll einen Anschlag machen. Das müsse man ja hier implizieren. Das glaube ich nicht. Dafür spricht bisher gar nichts. Wir gehen von einem Unterlassen aus. Wahrscheinlich hat der ausländische Geheimdienst gesagt: Hier habt ihr die Informationen zu Amri, ihr wisst Bescheid, aber zieht ihn bitte nicht aus dem Verkehr, weil wir in Libyen an einer großen Sache dran sind. Das wäre ein Unterlassen durch die deutschen Dienste, was ein Skandal ist und wo die Verantwortlichkeiten geklärt werden müssen. Weil natürlich tragen dann die betreffenden Personen eine Mitverantwortung dafür, was auf dem Breitscheidplatz passiert ist. Sie hätten es verhindern können.

– Nun die deutschen Geheimdienste sorgen einer nach dem anderen für Skandale. Was muss denn hier passieren? Müssen vielleicht Reformen her? Und warum wurde bisher niemand von den staatlichen Stellen zur Verantwortung gezogen?

– Meines Erachtens gehören Geheimdienste aufgelöst. Das wäre die beste Reform, die man machen könnte. Gerade der Verfassungsschutz ist eine überflüssige Organisation, die man auch abschaffen könnte, weil wir immer wieder erleben, dass Geheimdienste relevante Informationen an die Polizei nicht weitergeben. Ein zweiter wichtiger Punkt: Natürlich muss die Kontrolle über Geheimdienste verbessert werden. Wir haben zwar das Parlamentarische Kontrollgremium. Aber dieses tagt geheim. Diese ganze Struktur ist sehr intransparent. Das heißt, wir brauchen eine transparente Kontrolle von Geheimdiensten. Wir brauchen rechtliche Pflichten, wann ein Geheimdienst, welche Informationen an Sicherheitsbehörden weitergeben muss. Das muss völlig klar sein, dass ein Geheimdienst, der ermittlungstaktisch wichtige Informationen hält, diese unverzüglich an Polizeibehörden weitergeben muss. Und wenn er dies nicht tut, dass dann die verantwortlichen Personen strafbar sind. Das wären sinnvolle Regelungen, die die Geheimdienstkontrolle stärken würden.

– Das heißt, weil es diese Regelungen noch nicht gibt, kann auch keiner zur Verantwortung gezogen werden?

– Natürlich gibt es eine politische Verantwortlichkeit. Man kann natürlich Leute entlassen und versetzen. Ob man darüber hinaus mit den jetzigen Mitteln zum Beispiel zu Strafrechtsfragen kommt, wage ich zu bezweifeln.

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