Montag, April 29, 2024
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Entsetzen über Flüchtlingskatastrophe: EU beruft Krisensitzung ein

Rettungskräfte helfen Migranten von einem Schiff der Küstenwache im Hafen von Palermo.

Mehr als 700 Tote befürchtet – auch EU-Sondergipfel im Gespräch

Rom – Beim Untergang eines Flüchtlingsschiffes vor der Küste Libyens könnten bis zu tausend Menschen umgekommen sein. 49 Flüchtlinge sind bisher lebend aus dem Wasser geborgen worden, nachdem am Sonntag ein stark überbelegtes Boot in libyschen Gewässern

gekentert ist. Die Überlebende wurden an Bord eines Schiffes der italienischen Marine genommen, das in der sizilianischen Stadt Catania eintreffen wird. Bisher wurden 24

Leichen geborgen.

49 Flüchtlinge sind bisher lebend aus dem Wasser geborgen worden.

Noch unklar ist, wie viele Menschen sich tatsächlich an Bord des gekenterten Flüchtlingsbootes befanden. Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sprach von bis zu tausend Flüchtlingen. Anfangs waren noch 700 Todesopfer vermutet worden. Sollten die Zahlen bestätigt werden, wäre es das "schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde", sagte UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami.

Das Schiff sei vermutlich in libyschen Gewässern gekentert, als die Insassen auf eine Seite liefen, weil sich ihnen ein portugiesisches Handelsschiff näherte, von dem sie sich Hilfe erhofften. Das Boot sei schwer überlastet gewesen.

Eine groß angelegte Rettungsaktion ist von der italienischen Marine zur Suche nach Überlebenden koordiniert worden. 17 Schiffe, darunter zwei aus Malta, und mehrere Flugzeuge sowie Hubschrauber seien bei der Suche nach Überlebenden im Einsatz. Mehrere sizilianische Fischerboote eilten zum Unglücksort, um Hilfe zu leisten.

Krisensitzung der EU-Kommission

Bis zu 1.000 Flüchtlinge sollen sich an dem überfüllten Boot befunden haben, das in libyschen Gewässern gekentert ist.

Die Europäische Union hat eine Krisensitzung einberufen. Die EU-Kommission äußerte sich am Sonntag in Brüssel "zutiefst betroffen" von dem Unglück und kündigte eine Dringlichkeitssitzung der Innen- und Außenminister der EU-Länder an.

Dabei solle es vor allem darum gehen, mit den Herkunfts- und Transitländern daran zu arbeiten, die Flüchtlinge von der gefährlichen Reise über das Mittelmeer abzuhalten. Kritiker werfen der EU seit langem Tatenlosigkeit angesichts des Massensterbens im Mittelmeer vor.

Italien hatte im vergangenen Herbst die Rettungsmission "Mare Nostrum" eingestellt, weil sich die EU-Partner nicht an der Finanzierung des Marineeinsatzes beteiligen wollten. Seitdem läuft unter Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex die deutlich kleinere Mission "Triton", die aber vorwiegend der Sicherung der EU-Außengrenzen und nicht der Rettung der Flüchtlinge dient. Einige EU-Staaten hatten Italien vorgeworfen, mit "Mare Nostrum" die Flüchtlinge zu der gefährlichen Überfahrt ermutigt zu haben. Kritiker werfen der EU nun aber vor, mit "Triton" den Tod von Flüchtlingen in Kauf zu nehmen.

Ein Beamter der italienischen Küstenwache blickt auf einen Monitor, der Schiffe in der Nähe des vermuteten Unglücksorts anzeigt.

Sollte die Zahl der Todesopfer der neuen Flüchtlingstragödie im Mittelmeer bestätigt werden, würde die Zahl der im Mittelmeer ums Leben gekommene Flüchtlinge in diesem Jahr auf 1.500 steigen. Allein in der letzten Woche seien tausend Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen, sagte die UNHCR-Sprecherin Sami im Interview mit der öffentlichen-rechtlichen TV-Anstalt RAI. Sami fordert die EU zur Einrichtung eines humanitären Korridors für Flüchtlinge auf, die nach Europa wollen. "Man muss verhindern, dass Migranten zu diesen gefährlichen Reisen gezwungen werden, bei denen tausende Menschen ums Leben kommen", so Sami.

Mogherini kündigt Maßnahmen an

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat umgehende Maßahmen der EU-Kommission angekündigt. Das neue Flüchtlingsdrama sei "inakzeptabel", schrieb Mogherini in einer Presseaussendung nach Angaben italienischer Medien. "Die EU muss ohne zu zögern Maßnahmen gegen diese Tragödie ergreifen".

Die südeuropäischen EU-Mitglieder seien zu lang allein im Umgang mit der Flüchtlingstragödie gelassen worden, sie werde das Flüchtlingsproblem auf die Tagesordnung des EU-Außenministerrates am Montag in Luxemburg setzen lassen, kündigte Mogherini an.

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Frankreichs Präsident Francois Hollande telefonierte mit dem italienischen Premier Matteo Renzi. "Wir haben darüber beraten, wie wir rasch handeln können", sagte Holland laut dem französischen Sender "Canal Plus". Innenminister Angelino Alfano berichtete EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos über die neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Der EU-Kommissar wird am Donnerstag in Rom zu Gesprächen erwartet.

Nach der Flüchtlingstragödie berief Renzi für Sonntagnachmittag ein Gipfeltreffen mit mehreren italienischen Ministern in Rom ein. Renzi, der sich an einer Wahlveranstaltung in der lombardischen Stadt Mantua aufhielt, kehrte nach Rom zurück, um die Vorgehensweise der Regierung nach der Flüchtlingskatastrophe zu planen. Er über das Unglück geschockt. "Täglich erleben wir ein Massaker im Mittelmeer. Wie kann man bei so viel Leid gleichgültig bleiben?", sagte der Regierungschef, der auch einen EU-Sondergipfel fordert.

"Nicht mehr wegschauen"

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, rechnet mit weiteren Tragödien. "Wer vor einem brennenden Haus flüchten muss, tut alles um sich zu retten. Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof geworden und Italien ist sich selbst überlassen", sagte die Bürgermeisterin. Das Stadtoberhaupt von Palermo, Leoluca Orlando, erklärte, dass die toten Flüchtlinge auf Brüssels Gewissen lasteten. "Die EU kann nicht mehr wegschauen", sagte Orlando. "Ganze Bevölkerungen" würden sich derzeit in Bewegung setzen. Die Einrichtung humanitärer Korridore sei notwendig, um weitere Flüchtlingsboote zu verhindern.

Papst fordert Handeln

Der Papst hat beim Angelus-Gebet am Sonntag seinen "tiefen Schmerz" für die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer ausgedrückt. Franziskus rief die internationale Gemeinschaft zu entschlossenem Handeln auf, um weitere Flüchtlingstragödie zu verhindern.

"Die Opfer sind Männer und Frauen wie wir, sie sind unsere Brüder, die ein besseres Leben, das Glück, suchten", sagte der Papst. Bei den Flüchtlingen handle es sich um Menschen auf der Flucht vor Hunger, Krieg, Ausbeutung und Gewalt. Der Pontifex betete zusammen mit den zehntausenden auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen für die Opfer und ihre Familien.

Die rechtspopulistische Oppositionspartei Lega Nord drängte dagegen zu einer internationalen Schiffsblockade vor Libyen, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote zu verhindern. "Man muss die Flüchtlingsfahrten stoppen, nur so kann man weitere Tragödien verhindern", sagte Lega-Chef Matteo Salvini.

(APA, 19.4.2015)

Chronologie:

Seit Jahren kommen im Mittelmeer immer wieder Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa um. Ein Überblick:

April 2015: Vor der libyschen Küste kentert ein voll besetztes Flüchtlingsboot. Zunächst können nur 28 Menschen gerettet werden, die Einsatzkräfte befürchten bis zu 700 Tote. Erst wenige Tage zuvor waren laut Überlebenden 400 Menschen nach einem Unglück vermisst worden.

Februar 2015: Vor der italienischen Insel Lampedusa kommen möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Mindestens 29 von ihnen sterben während der Überfahrt von Libyen nach Italien in kaum seetüchtigen Schlauchbooten an Unterkühlung.

September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht. Überlebende berichten, dass Menschenschmuggler das Schiff mit Syrern, Ägyptern, Palästinensern und Sudanesen auf dem Weg nach Malta versenkt hätten.

Juli 2014: Bei einer Flüchtlingstragödie vor Libyens Küste ertrinken mindestens 150 Menschen. Die libysche Küstenwache findet Leichen und Wrackteile eines Schiffes vor der Stadt Khums.

Oktober 2013: Mindestens 366 Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa. Ihr Boot fängt Feuer und kentert. Die Küstenwache kann 155 Menschen in Sicherheit bringen. Sie stammen überwiegend aus Somalia und Eritrea.

Juni 2012: 54 Flüchtlinge sterben, als sie bei starken Winden in einem Schlauchboot von Libyen aus Italien erreichen wollen. Ohne Vorräte trinken sie Meerwasser. Ein Mann aus Eritrea überlebt.

August 2011: Ein Boot erreicht mit 270 überlebenden Afrikanern Lampedusa. Unter Deck liegen die Leichen von 25 Männern, die vermutlich an Abgasen erstickt sind. 100 Tote seien zudem über Bord geworfen worden, sagt ein Überlebender.

Juni 2011: Vor der Küste Tunesiens gerät ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika und Asien auf dem Weg nach Italien in Seenot. Nur wenige können gerettet werden; bis zu 270 Menschen bleiben verschollen.

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