Montag, April 29, 2024
StartWissenschaftBildungExklusiv: Gregor Gysi (Die Linke) in Russland: „Der Wendepunkt war Stalingrad”

Exklusiv: Gregor Gysi (Die Linke) in Russland: „Der Wendepunkt war Stalingrad”

Gregor Gysi hat mit einer Delegation der Linken die russische Heldenstadt Wolgograd besucht, um der Schlacht von Stalingrad zu gedenken. Abgeordnete anderer Bundestagsparteien waren nicht dabei. Gysi warnt im Interview davor, die Sowjetunion mit Hitlerdeutschland gleichzusetzen. Der Präsident der Europäischen Linken sprach auch das Thema Krim an.

Herr Gysi, Sie waren gerade mit einer größeren Delegation der Linken in Russland. Was war der Anlass Ihrer Reise?

Der Anlass war der Jahrestag der Schlacht bei Stalingrad, bei der 700.000 Menschen ums Leben gekommen sind – viele Deutsche, aber noch mehr Russen. Auch die Zivilbevölkerung hat schwer unter der gesamten Zerstörung der Stadt gelitten. Insgesamt sind dort 1,1 Millionen Menschen gestorben. Das hat die Stadt bis heute geprägt – es gibt dort niemanden, der sich nicht durch Erzählungen in der eigenen Familie an diese Vorgänge erinnert. Ich fand es wichtig, dass dort auch eine deutsche Delegation war. Wir haben die großen Gedenkstätten besucht – auch die neue Gedenkstätte für die deutschen Opfer.

Mit Ihnen waren auch westdeutsche Kollegen, wie Klaus Ernst oder Alexander Neu dort. Sie selbst waren nun schon seit Jahrzehnten oft in Russland. Hat man da einen anderen Blick oder ist man im Gedenken als Deutscher gleich?

Man hat sicher eine etwas andere Sichtweise auf Land und Leute. Aber wissen Sie, gerade im Ausland rückt man immer näher zusammen. Und nun ist es ja bei so einer Reise nach Russland so, dass auch die Teilnehmer aus den alten Bundesländern meist nicht anti-russisch eingestellt sind. 

Waren noch Teilnehmer anderer Parteien aus Deutschland da?

Nein. Aber Wissenschaftler und Vertreter anderer Einrichtungen aus Deutschland waren dabei. Der Bundestag war nur durch uns vertreten. Eine frühere SPD-Abgeordnete war noch dabei.

Mit wem haben Sie Gespräche geführt?

Ich habe unter anderen den Oberbürgermeister von Wolgograd und den stellvertretenden Gouverneur der Region getroffen.

Sie haben Ihren Gesprächspartnern gegenüber hoffentlich jedes Mal erwähnt, dass die Vereinnahmung der Krim völkerrechtswidrig ist?

Natürlich! Aber ich erwähne dann auch, dass der Westen damit begonnen hat, indem er völkerrechtswidrig das Kosovo abgetrennt hat. In dem Vertrag zwischen der Nato und Serbien steht ja, dass die Serben ihre Streitkräfte aus dem Kosovo abziehen, die Nato einzieht und dann das Kosovo Bestandteil von Serbien bleibt. Erst nach drei Jahren sollte es dazu einen Volksentscheid geben. Dazu kam es aber nie und drei Jahre wurde auch nicht gewartet, sondern das Kosovo einfach getrennt.

Das ist das Schlimme: mit dem Ende des Kalten Krieges, das den Westen als Sieger sah, meinte man, das Völkerrecht nicht mehr zu benötigen und hat es immer wieder verletzt. Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass die Politiker im Westen begreifen, wenn sie selbst das Völkerrecht verletzen, werden es auch andere tun.

In diesem Jahr wurde der D-Day in der Normandie als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges gefeiert. Die Rolle der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg scheint zu verblassen.

Der Wendepunkt war Stalingrad. Als die deutsche Armee es nicht schaffte, Stalingrad zu erobern und zurückgedrängt wurde, führte dies zur Wende im Zweiten Weltkrieg. Sicher war die Normandie später auch nochmal ein Wendepunkt, weil damit nun auch von der anderen Seite die deutsche Armee zurückgedrängt wurde.

Der Alterspräsident der Linken, Hans Modrow, hat kürzlich angeregt, eine deutsch-russische Historikerkonferenz zum Zweiten Weltkrieg einzurichten. Ist nicht schon alles gesagt zu diesem Thema?

Nein. Das sieht man ja schon an der aktuellen Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Thema, die ich sehr kritisiere. Dort hat man sich der Sicht der polnischen Führung angeschlossen, wonach Deutschland und Russland gleichermaßen am Zweiten Weltkrieg Schuld seien, da sie gleichermaßen die Aggression gegen Polen begonnen hatten. Das ist natürlich eine Verkennung der historischen Tatsachen.  Es stimmt, dass auch Russland sich polnisches Territorium genommen hat. Aber das war nur das, was sich Polen 1922 geholt hatte.

Und dann war es zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ja so, dass Stalin erst versucht hat, ein Bündnis mit Großbritannien und Frankreich gegen Deutschland herzustellen. Erst als dies nicht zustande kam, hat er mit Deutschland den berühmten „Nichtangriffspakt“ ausgehandelt, um das eigene Land möglichst rauszuhalten aus den Konflikten. Das führte dann wiederum bei Stalin zu dem schwerwiegenden Irrtum, seinen eigenen Spionen nicht zu glauben, dass Deutschland die Sowjetunion überfallen wird.

Das Entscheidende ist doch, dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten die größten Opfer im Kampf gegen den Hitlerfaschismus gebracht hat. Das kann man doch nicht einfach auslassen! Man kann doch nicht sagen, Kommunisten und Faschisten seien dasselbe. Ich habe nichts dagegen, auch die Rolle der Sowjetunion in diesem Zusammenhang zu kritisieren, aber eine Gleichsetzung mit Nazi-Deutschland ist absurd. Insofern hat Hans Modrow Recht mit so einer Kommission. Da könnte man auch noch Polen und andere hinzuziehen, mit dem Versuch, sich endlich auf eine Tatsachengrundlage zu einigen.

Im kommenden Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Meinen Sie, diesmal werden die Staatslenker aus aller Welt dies entsprechend würdigen auf dem Roten Platz in Moskau?

Es sieht im Augenblick nicht so aus, aber es geschehen ja immer noch Zeichen und Wunder. Aber ob zum Beispiel das polnische Staatsoberhaupt hinfährt, da mache ich mal ein Fragezeichen. Aber vielleicht geben sich diesmal ja wenigstens Großbritannien, Frankreich, Deutschland und vielleicht sogar die USA einen Ruck, um hier die Leistungen und die Opfer, die von den Russen im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen Nazi-Deutschland erbracht wurden, angemessen zu würdigen.

Quelle!:

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