Sonntag, April 28, 2024
StartWissenschaftBildung„Extinction Rebellion“ in Berlin: Eindrücke aus dem Innenleben einer „radikalen“ Klimabewegung

„Extinction Rebellion“ in Berlin: Eindrücke aus dem Innenleben einer „radikalen“ Klimabewegung

In London zwangen sie bereits das Parlament, den „Klimanotstand“ auszurufen. Das und vieles mehr wollen die Umweltaktivisten von der „Extinction Rebellion“ (XR) nun in Berlin durchsetzen. Sputnik hat einen Tag lang die selbsternannten „Rebellen gegen das Aussterben“ begleitet.

„Mic Check“, ruft eine Person plötzlich an einer Kreuzung am U-Bahnhof Prinzenstraße in Berlin. Etwa 50 Personen wiederholen den Aufruf. „Bei Grün laufen wir auf die Straße“, ruft die Person wieder. Auch diese Aufforderung wiederholt die Menschenmenge. Sekunden später ist die Prinzenstraße durch dutzende junge Demonstranten blockiert, die Polizei sofort zur Stelle. Doch anstatt durchzugreifen, sichern die Beamten, die extra aus Niedersachsen angekommen sind, die jungen Leute. Hupende Autos, genervte Fahrer – ein Stau, mitten in Berlin, ist unvermeidbar. Sieben Minuten später gibt die Gruppe die Kreuzung wieder frei. Denn nur so lange dürfe man die Durchfahrt blockieren, ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen, erklärt eine Teilnehmerin der Sieben-Minuten-Straßenblockade.

„Extinction Rebellion“ (XR) blockieren eine Kreuzung in Berlin
© SPUTNIK / PAUL LINKE
„Extinction Rebellion“ (XR) blockieren eine Kreuzung in Berlin

So sieht eine der vielen Aktionen der Bewegung „Extinction Rebellion“ (XR) aus. „Swarming“ (Ausschwärmen) heißt diese „radikale“ Aktionsform und erinnert durch ihre Kommunikationsform an einen Bienenschwarm, was auch eines der tragenden Symbole der Bewegung ist. Dabei stützen sich die „Rebellinnen“ auf eine „gesunde, anpassungsfähige und belastbare“ sogenannte Kultur der Regeneration, die unter anderem Gewaltfreiheit – auch im Sprachgebrauch – verbietet, was zu den Prinzipien und Werten der Bewegung gehöre. So sehen also „radikale Klimaschützer“ aus, wie einige deutsche Tageszeitungen titeln.

Zahlreiche Gruppen verabreden sich online und blockieren seit Montag Brücken, Straßen und große Kreuzungen der Hauptstadt. Nicht immer bleibt es bei den sieben Minuten. Tage lang blockierten die Aktivisten unter anderem den „Großen Stern“, den Potsdamer Platz, Oberbaum-, die Jannowitz- und zuletzt die Marschallbrücke.

Mit umstrittenen friedlichen Aktionen des zivilen Ungehorsams an den Straßen, Kreuzungen, Plätzen und den Regierungsgebäuden in Berlin und vielen anderen Städten der Welt wollen die selbsternannten Rebellen auf den vom menschengemachten Klimawandel aufmerksam machen.

Forderungen der Bewegung

In Großbritannien, wo die Bewegung im Frühjahr 2018 ihren Anfang nahm, hat das Unterhaus bereits dem Druck der „XR“ zum Teil nachgegeben. Im Mai  diesen Jahren rief das Parlament den „Klimanotstand“ aus – zumindest symbolisch. Doch das reicht den Aktivisten nicht: Seit Montag hat die Polizei in London mehr als 1.000 Klimaaktivisten festgenommen. Etwa 50 Anhänger der Umweltschutzgruppe „XR“ setzte Scotland Yard am Donnerstag am City Airport in der britischen Hauptstadt fest. Die Aktivisten hatten dort versucht, den Betrieb zu stören.

In Deutschland hat die angeblich dezentral-organisierte „XR“ drei Forderungen an die Bundesregierung:

  1. „Sagt die Wahrheit!: Die Regierung muss die Wahrheit über die ökologische Krise offenlegen und den Klimanotstand ausrufen. Die Dringlichkeit des sofortigen Kurswechsels muss von allen gesellschaftlichen Institutionen und den Medien kommuniziert werden.“
  2. „Handelt jetzt!: Die Regierung muss jetzt handeln, um das Artensterben zu stoppen und die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2025 auf Netto-Null zu senken.“
  3. „Politik neu leben!: Auf Basis von partizipatorischer Demokratie in Form von Bürgerversammlungen sollen Wege zur Überwindung der Klimakrise entwickelt werden.“

Auf der besetzten Marschallbrücke unweit des Reichstagsgebäudes und des Hauptstadtstudios der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten treffen wir auf hunderte Aktivisten und mischen uns unter die zum Teil erschöpfte, zum Teil ausgelassen feiernde bunte Menschenschar.

Extinction Rebellion“ (XR) blockieren die Marschalbrücke
© SPUTNIK / PAUL LINKE
Extinction Rebellion“ (XR) blockieren die Marschalbrücke

„Zwar ist der Begriff dehnbar. Jeder Mensch  kann eine eigene Wahrheit haben, aber wir stützen uns auf die große Anzahl der Expertisen“, sagt der „XR“-Aktivist Hans Hugo gegenüber Sputnik zum ersten Punkt der Forderungen. „Ob das die Wahrheit letztendlich ist, kann niemand sagen – auch nicht ‚Extinction Rebellion‘“, gibt Hugo zu.

Weltweit beobachte man, dass sich die Temperatur stark erhöhe, betont Sibylle Killinger im Sputnik-Interview. „Wir haben einen Temperaturanstieg am Land von 1,5 Grad weltweit. Wenn man Wasser dazu nimmt, sind es 1,2 Grad. Bereits daraus resultiert ein gigantisches Artensterben. Und dieses Artensterben macht vor dem Menschen nicht halt“, warnt die Klima-Aktivistin und verweist auf die Internet-Seite des Umweltbundesamtes. „Mehr als 19 Millionen Menschen in 113 Ländern mussten im Jahr 2016 aufgrund von Naturkatastrophen ihr Zuhause verlassen – die meisten von ihnen innerhalb der armen Länder des globalen Südens“, heißt es dort.

„Wir können uns auch nicht die Hände reiben und sagen: dann werden es halt ein paar weniger Afrikaner und Asiaten. Wenn wir hier über dreißig Grad haben, dann wächst das Getreide und die Kartoffeln nicht mehr. Wir haben schon Ernteausfälle und das wird sich zuspitzen“, erinnert Killinger.

Deswegen sei  die Forderung des Punktes zwei, „Handelt jetzt!“, so wichtig, bemerkt der Aktivist Hugo. „Das wird natürlich nicht zu schaffen sein, weil die westlich industrialisierte Lebensweise das nicht zulässt. Aber wir fordern das Mögliche, um das Unmögliche zu erreichen“. Errechnet sei, dass wenn wir in den nächsten zehn Jahren wenigstens die Hälfte der Emissionen einsparen, die die Industriestaaten momentan ausstoßen, dann hätte die Menschheit etwa eine 67 prozentige Chance,  unter 1,5 Grad zu bleiben, erklärt der Rebell.

„Es wird ungemütlich“

„Man hat keine Lust, an seinen Gewohnheiten was zu ändern. Aber wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir feststellen, dass es stärkere Einschränkungen braucht, von jedem von uns. Es wird unbequem“, glaubt eine andere junge Aktivistin im Gespräch mit Sputnik, die ihren Namen nicht nennen möchte. Denn die Regierung allein werde den Klimawandel nicht aufhalten können. „Wenn jeder selbst sich ein bisschen  ändert, gibt es die Hoffnung, dass man die Welt für alle Lebewesen ändert“,  zeigt sich die Aktivistin optimistisch.

Auch der Aktivist Hugo meint, dass es viel Verzicht bedeuten werde. „Deswegen sind die Menschen hier: Sie sehen, dass Politiker es nicht leisten, was sie per Grundgesetz zu leisten hätten“, bemängelt der Demonstrant und beruft sich dabei auf den Artikel 20a des Grundgesetzes.

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Somit würden die Menschen unter anderem auf der Marschallbrücke das Versammlungsrecht nach Artikel  8 wahrnehmen. „Das tun wir in Form vom friedlichen, zivilen Ungehorsam. Das heißt, Sitzblockaden sowie angemeldete, aber auch unangemeldete Aktionen, die das ‚business es usual‘  stören, um die Menschen aus ihrer Blase herauszuholen. Viele denken, wir können durch Mülltrennung oder fair gehandelte Textilien die Welt retten. Das können wir nicht, das ist zu wenig!“, gibt Hugo zu bedenken.

Ein mehr an Basisdemokratie?

Dabei würden die Aktivisten mit ihren teilweise umstrittenen und „radikalen“ Aktionen kein totalitäres Regime fordern, erklärt die Umweltaktivistin Killinger. Im Gegenteil: „Wir fordern ein mehr an Demokratie. Wir wollen Bürgerversammlungen – also mehr Basisdemokratie. Wir wollen, dass die Bevölkerung mehr in die Politik integriert wird.“ In bestimmten Verfahren soll bei den sogenannten Bürgerversammlungen, nach irischem Vorbild, ein bestimmter Querschnitt aus allen Bildungs- und Alters- sowie Berufsschichten gebildet werden. Dieses Verfahren stellt eine Gruppe von Menschen zusammen, die Expertisen einholen – „unabhängig von Parteipolitik und Lobby“. Diese Menschen sollen wiederum den Politikern Empfehlungen geben, wie sie ihre Gesetze abstimmen sollen. „In vielen anderen Ländern wird es nicht praktiziert, weil die etablierten Parteien Angst haben, dass sie dadurch ihre Macht verlieren. Und der Lobbyismus ist eben ein tragendes Element dafür, warum unsere Politiker nichts tun“, meint Hugo.

„XR“-Finanzierung fraglich?

Immer wieder wird auch die Finanzierung der „XR“-Truppe hinterfragt und diskutiert. Drei vermögende Philanthropen aus den USA – der Investor Trevor Neilson, Dokumentarfilmerin Rory Kennedy und Stiftungsmanagerin Sarah Ezzy – haben einen sogenannten „Climate Emergency Fund“ gegründet, einen Klimanotstandsfonds.

Mit zunächst 500.000 US-Dollar sollten die „XR“ und andere junge Bewegungen unterstützt werden, die sich gegen den Klimawandel engagieren. Darüber hatte im Vorfeld der Berlin-Aktionen die „Taz“ berichtet. Doch dabei sei die Herkunft des Geldes in der Bewegung umstritten. Eine der Mitbegründerinnen des Fonds soll „Taz“ zufolge die „Aileen Getty Stiftung“ verwalten, deren Kapital ursprünglich aus Erdölgeschäften stamme.

Als Ergebnis der internen Debatten sei ein Kompromiss gefunden worden: „Wir stellen es den Ortsgruppen und einzelnen Arbeitsgruppen von ‚Extinction Rebellion‘ in Deutschland frei, die Gelder anzunehmen oder abzulehnen“, sagte Tino Pfaff gegenüber der Zeitung. Dass die Bewegung dadurch ihre Unabhängigkeit verliere, fürchte man nicht, so Pfaff.

Der Aktivist Hugo unterstütze hingegen die Protestaktionen „absolut spontan und komplett autonom“. Für ihn ist es eher ein „spontanes Happening, eine spontane Versammlung“. Und: Er bekomme kein Geld dafür. „Im Gegenteil, ich zahle noch selbst drauf.“

Wie lange der Ausnahmezustand für Berlin noch aufrechterhalten wird, weiß keiner oder will keiner verraten. Von der Dauer des Streiks zeugt nur ein Banner vor dem Brandenburger Tor: „Rebellion bis sich was ändert!“

Quelle!:

Empfohlene Artikel
- Advertisment -
Translate »