Sonntag, Mai 5, 2024
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Hat die EU eine Zukunft – und wenn ja, welche? Politikmagazin sucht Antworten

Mit dem Zustand der Europäischen Union (EU) und deren Zukunft beschäftigt sich die aktuelle Ausgabe des Potsdamer Politikmagazins „WeltTrends“. Die Aussagen verschiedener Autoren reichen von deutlicher Kritik an der Haltung zu Russland bis zur Hoffnung, die EU könne Vorreiterin „für eine regelgeleitete liberale Weltordnung“ sein.

„Gerade eine neue Russlandpolitik und Zusammenarbeit“ hält der Politikwissenschaftler André Brie mit Blick auf den Zustand der Europäischen Union (EU) für nötig. Nur das könne helfen, „um gegen Trump und gegen die Krise der EU internationale, europäische Antworten zu finden. Nicht nur in Ostdeutschland wäre es auch eine Politik, die in den Bevöl­kerungen eine Mehrheit finden würde.“

Brie war bis 1999 Wahlkampfleiter der aus der SED hervorgegangenen PDS und danach bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. In einem Text im Dezember-Heft der außenpolitischen Zeitschrift „WeltTrends“ äußert er klare Zweifel an der Position anderer Politologen, „die Eigenständigkeit Europas gegen China und Russland zu erreichen“. Diese Auffassung ist in einer Studie der regierungsfinanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Februar dieses Jahres über die „Strategische Autonomie Europas“ zu finden.

Die SWP-Studie ist Ausgangspunkt für Beiträge von Brie sowie einer Reihe weiterer Autoren im aktuellen „WeltTrends“-Heft über die die Zukunft der EU. Weiter Bezugspunkt sind Thesen anderer Autoren im September-Heft der Zeitschrift zu diesem Thema. Im SWP-Papier ist unter anderem zu lesen: „Europa muss in zunehmendem Maße selbst Verantwortung für sein Wohl­ergehen und seine Sicherheit übernehmen.“ Es gehe darum, „die eige­nen Werte und Interessen zu schützen und zu för­dern“.

Wollen EU-Bürger nichts von ihr wissen?

Dagegen hatten die „WeltTrends“-Autoren im September festgestellt, dass die EU wegen ihrer inneren Widersprüche und Konflikte außenpolitisch handlungsunfähig sei. Die Politik der Konfrontation gegenüber Russland und China bezeichneten sie als verhängnisvoll. Zudem kritisierten sie die passive Haltung der EU in den Fragen der nuklearen Abrüstung und zu den Konflikten und Kriegen im Nahen und Mittleren Osten. „Es scheint, als ob für Deutschland und die EU Personal- und interne Machtprobleme wichtiger sind als die Lösung grundlegender Lebensfragen für ganz Europa“, legen sie im neuen Heft nach.

Politikwissenschaftler Brie erinnert in seiner Antwort auf die SWP und die Thesen seiner Kollegen unter anderem daran, „noch vor sieben Jahren war die EU bereit und interessiert, die Beziehungen zu Russ­land auf eine völlig neue und strategische Grundlage zu stellen, doch davon blieb bis heute nichts übrig. Obwohl weder im Iran, in Syrien oder in Europa (Ukraine, Moldau, Kaukasus und darüber hinaus) ohne Russland Lösungen möglich sind, was die meisten in der EU wissen, gab es Sanktionen, Ignoranz gegen Russland und stattdessen die dramatisch überholte Strategie der östli­chen Ausdehnung von NATO und EU.“

Er bedauert, dass die Parteien sich bisher kaum für diese Materialien interessieren. Sie müssten die notwendigen politischen Konsequenzen ziehen, noch mehr die Bürgerinnen und Bürger der EU: „Doch die interessieren sich, anders als nach 1945, kaum noch für die europäische Vereinigung, die durch zunehmen­den Nationalismus und Populismus existenziell bedroht ist.“

Wollen die USA die EU zerstören?

Es sei nicht überraschend, dass Großbri­tannien austritt, meint Brie. Das gelte ebenso für die „Haltung der USA, die den früheren Beitritt des Landes wie den der Türkei vor allem deshalb massiv unterstützt hatten, weil sie sich davon zu Recht eine Schwächung der europäischen Integration erhofften.“ Aus Sicht des Politologen gibt es keine EU-Außenpolitik. Er sieht auch keine globale Vorherrschaft der USA mehr. Die habe aber immer noch die Möglichkeit, „einen letzten historischen Erfolg zu erzielen, die Zerstörung der EU als Herausforde­rung und Alternative für die Vereinigten Staaten von Amerika“.

Für Brie müsste es darum gehen, „den Menschen den sozialen Gewinn und die soziale Nähe durch die europäische Integration nahezubringen“. Er ist sich sicher: „Die EU, so meine Überzeugung, wird nur noch von den Menschen gerettet und erneuert werden können. Von oben wird wohl nichts mehr kommen.“

Petra Erler kritisiert im aktuellen „WeltTrends“-Heft die „bewusste Vermischung von EU und Europa“ in der SWP-Studie. Dadurch werde die entscheidende Frage nicht gestellt: „Was ist Sinn und Zweck der EU im 21. Jahrhundert?“ Erler war von 2006 bis 2010 Chefin des Kabinetts des EU-Kommissars Günter Verheugen und ist seit 2010 Geschäftsführerin der Denkfabrik „The European Experience“ in Potsdam. Sie bedauert, dass die SWP-Vorschläge „einer Weltsicht, die die Menschheit an die Schwelle ihrer Aus­löschung als Zivilisation brachte“, folgen.

Ist das globale Wirt­schafts- und Finanzsystems zerstörerisch?

Die Politikwissenschaftlerin widerspricht der Sicht, dass die EU sich im „Kampf der Giganten des 21. Jahrhunderts“ internati­onal Gehör und politisches Gewicht verschaffen müsse. Der Grund: „Teil des heuti­gen Kampfes der Giganten ist die nukleare Aufrüstung, die Entwicklung waffenfähiger künstlicher Intelligenz und ganz neuartige Cyberkapazi­täten, die es erlauben, die Funktionsweise gesamter Volkswirtschaften zu zerstören.“ Allein mit den vorhandenen Atomwaffen könne die Menschheit als Zivilisation ausgelöscht werden, warnt Erler.

Sie macht außerdem klar, dass dieser „Kampf der Giganten“ innerhalb „eines globalen Wirt­schafts- und Finanzsystems, das Wohlstand schaffen kann, aber keine Gerechtigkeit, weder innerhalb noch zwischen den Staaten“, ausgetragen wird. Für sie gibt es „nur eine einzige rationale politische Antwort auf eine derartig umfassende Bedrohung der menschlichen Zivilisation: die Errichtung einer gewaltfreien, auf das Überleben der Menschheit gerichteten internationalen Ordnung, in der nicht der Kampf der Giganten, sondern die gleichberech­tigte Zusammenarbeit aller die grundlegende Regel ist“.

Erler hat gleichzeitig Zweifel, ob die EU im heutigen Zustand fähig ist, dazu beizutragen. Die EU verleugne dagegen ihre eigene „zentrale politische Bestimmung“: „auf dem europäischen Kontinent dafür zu sorgen, dass dauerhafter Frieden und gemeinsame Sicherheit garantiert sind“. Reformen, neue Institutionen oder Entscheidungsmechanismen würden daran nichts ändern.

Gibt die Nato der EU den Kurs vor?

Die EU müsse Vorreiterin der nuklearen Abrüstung sein, fordert die Politikwissenschaftlerin. Doch das werde verhindert, weil die meisten EU-Staaten Mitglieder der Nato sind. „In der Nato aber gilt die Doktrin, solche Waffen würden in den eigenen Händen gebraucht, zur Abschreckung.“ Und: „Im prak­tischen Handeln von Nato-Staaten wurde die UN-Charta fallweise ent­weder respektiert oder verworfen, je nach politischem Bedürfnis, obwohl diese Charta das einzige Institut kollektiver Sicherheit ist, das wir haben.“

Erler beklagt: „Fundament, Wände und Dachgestühl des gemeinsamen Hauses Erde wackeln inzwischen bedrohlich, während in der EU darüber sinniert wird, wie ihr kleines Kämmerchen ein bisschen renoviert werden könnte. Als befänden wir uns an einem magischen Ort, irgendwo, jedenfalls nicht in diesem gemeinsamen Haus.“

In einem weiteren Beitrag stellt der Politologe Erhard Crome die Sicht grundsätzlich in Frage, in der heutigen Welt gebe es den Kampf zweier konkurrie­render Gesellschaftsmodelle: das des Westens und das eines „autoritären Staatskapitalismus“, verkörpert von China und Russland. Das ist im SWP-Papier ebenso wie in den Thesen der „WeltTrends“-Autoren zu finden.

Sind Werte entscheidender als Interessen?

Crome zitiert den bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der klar gestellt habe, dass die übrige Welt längst nicht so wie die EU werden wolle und diese nicht die Kraft habe, „alle Welt nach ihrem Bilde zu formen“. „Die EU ist kein Werte-Wart!“, betont Crome schon in der Überschrift seines Beitrages. Humanitärer Idealismus stehe einer interessengeleiteten Außenpolitik entgegen. „Debatten um das Schicksal der EU sollten jenseits des offiziellen Wertediskurses geführt werden“, so der Politologe, der kürzlich das Buch „Deutschland auf Machtwegen – Moralin als Ressource für weltpolitische Ambitionen“ veröffentlicht hat.

In der „WeltTrends“-Ausgabe beschreibt außerdem der Politikwissenschaftler Dieter Segert die inneren Widersprüche der EU als „Hemmnis ihrer weltpolitischen Wirksamkeit“. Der Experte für Ost- und Mitteleuropa verweist darauf, dass gerade die sogenannten Visegrádstaaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sich „durch die größeren Mitglieds­staaten gegängelt und belehrt“ fühlten. Das führe immer wieder zu Blockadehaltungen.

„Die Kritik der EU-Kernstaaten an den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wird dabei als Gängelung und teilweise als arrogant wahrgenommen. Der Ver­weis auf die ‚Werte‘ wird vor diesem Hintergrund vor allem als eine Legiti­mation solcher Überheblichkeit verstanden.“

Wem nutzt der Zustand der EU?

Segert meint, dass „eine stärkere Kohäsion der wirtschaftlichen Bedingungen aller Mitgliedsstaaten nötig“ sei. „Dazu muss die bisherige Politik grundlegend erneuert werden.“ Dazu gehöre, den Lohnwettbewerb nach unten zu stoppen und eine gemeinsame Asylpolitik zu entwickeln. Zudem hält der Politologe eine grundlegende Debatte für notwendig, „was gemeinsame europäische Werte sein können. Das ist nicht trivial, denn der Westen müsste sein Überlegenheits- und der Osten sein Minderwertigkeitsge­fühl überwinden.“

Für Sabine Ruß-Sattar von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gibt es dagegen eine Zukunft der EU nur durch ein erkennbares „Bekenntnis zu einer auf Dauer gestellten multila­teralen Kooperation auf der Basis liberaler Demokratie“. Die Politologin von der transatlantisch orientierten DGAP meint im Gegensatz zu anderen „WeltTrends“-Autoren: „Eine Chance hat Europa nur, wenn es ein erfolgreiches Beispiel multilateraler Politik für die Welt geben kann und sich im aufgeklärten Eigeninteresse für eine regelge­leitete liberale Weltordnung einsetzt.“

Weitere Beiträge zum Thema in dem Magazin stammen von den Politikwissenschaftlern Norbert Hagemann und Wulf Lapins. Hagemann fordert eine „hinreichende, über das parlamentarische Niveau hinausgehende demokratische Kontrolle und öffentliche Teilhabe an außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Ent­scheidungen in der EU und ihren Mitgliedstaaten“ Lapins schreibt unter anderem, „die EU ist nicht ‚weltpolitikfähig‘ und bleibt im Eurozentrismus verriegelt. Diese selbstverschuldete Unmündigkeit kommt auch gerade Deutschland durchaus zupass.“

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