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„Niemand muss Parteien der Mitte wählen“ – Politikwissenschaftler und die EU-Wahl 2019

Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen kurz bevor. Alle Parteien beschwören ihre Anhänger und Unentschlossene. Oft fällt das Wort „Schicksalswahlen“. Politikwissenschaftler wünschen sich stattdessen, dass überhaupt gewählt wird. Über Motive und Chancen von Wahlen hat sich Sputniknews mit der Münchener Politologin Daniela Braun unterhalten.

Wahlen zum Europäischen Parlament sind keine Straßenfeger. Keine noch so ausgefeilten Werbestrategien haben dagegen bislang etwas ausrichten können. Befürworter der Idee eines auch staatsrechtlich vereinten Europas, in Form etwa eines Bundesstaates Europäische Union (EU) ärgert und besorgt das. Das betrifft durchaus auch Menschen, die nicht eine EU per se, sondern diese EU, so wie sie derzeit konstituiert ist, kritisieren oder ablehnen. Gegner eines supranationalen Gebildes wie die EU bauen auf dem Fakt geringer Wahlbeteiligung ihre Hoffnungen auf, die EU wenigstens auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft beschränken zu können. Die eingefleischten EU-Hasser rechts und links im parteipolitischen Spektrum nicht zu vergessen, die strikt gegen eine und nicht nur diese EU sind und stattdessen eine Renaissance der vollkommen souveränen Nationalstaaten befürworten.

Man muss kein Experte für Politikwissenschaften sein, um sofort zu verstehen, dass eine Wahl unter diesen Umständen zu organisieren, ungefähr so einfach ist, wie Flöhe zu hüten. Das wissen natürlich auch Politikwissenschaftlerinnen wie Daniela Braun. Sie forscht am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen hat sie untersucht, welche Motive und Entscheidungsgründe Wählerinnen und Wähler bei den diesjährigen EU-Wahlen haben könnten, welche Konstellationen sich für das neue Europäische Parlament ergeben könnten und damit auch, welche Perspektiven die EU haben wird oder haben kann (Sputniknews berichtete).

EU-Wahlen werden als „nicht so wichtig“ empfunden

Eine Grunderkenntnis haben wir bereits erwähnt. Die Bürger in der EU rennen bei Wahlen zum EU-Parlament nicht die Wahllokale über den Haufen. Das liegt nach Ansicht der Wissenschaftler am simplen Fakt, dass EU-Wahlen als nachrangige Wahlen empfunden werden, „second-order elections“, wie Demoskopen das Phänomen nennen. Das wiederum liegt nach Überzeugung auch von Daniela Braun vor allem anderen an mangelnden Kenntnissen über das, was das Europäische Parlament tatsächlich entscheiden kann, wie sie im Gespräch mit Sputniknews bekundet:

„Es ist eigentlich recht einfach, sich mal anzugucken, beispielsweise auf den Seiten des Europäischen Parlamentes: Worüber wird denn da eigentlich abgestimmt. Und dann bekommt man auch tatsächlich ein Gefühl dafür, was bisher fehlt bei den Bürgern, dass es doch gar nicht so unwichtig sein könnte, die eigene Stimme genau für diese EU-Institution auch abzugeben. Und da ist es vollkommen egal, welche Partei gewählt wird, sondern es geht einfach nur darum, entsprechend mitzuwirken.“

Da drängt sich natürlich die Frage auf, wenn es so einfach ist, warum wird es dann nicht viel mehr genutzt? Vor allem aber: Warum zeigt das keine Wirkung? Sprechen Bürger und Politiker nicht die gleiche Sprache? Sind die EU-Bürger zu bequem oder gar zu faul, sich zu informieren, sich auseinanderzusetzen? Gibt es möglicherweise unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Sichtweisen auf das, was EU ist oder sein sollte? Daniela Braun will nicht ausschließen, dass es tatsächlich ein Verständigungsproblem gibt.

Der Vertrag von Maastricht schadete der Zustimmung zur EU in der Bevölkerung

Nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin stellt der Vertrag von Maastricht eine Art Schwelle dar. Bis zu diesem Abkommen waren die Einstellungen von Bürgern in der EU mehrheitlich positiver gegenüber der europäischen Idee. Danach änderten sich Einstellungen und Wahlergebnisse. Und aus Sicht von Daniela Braun hat die Politik dieses Signal nicht angemessen beachtet.

„Was man auf jeden Fall sieht, dass so etwas wie eine Repräsentationslücke entstanden ist. Dass die Eliten deutlich europafreundlicher sind, gilt im Übrigen auch für die klassischen Medien, also die Mainstreammedien, die sind auch deutlich EU-positiver. Und das sorgt natürlich für so ein Missverhältnis im Vergleich zu den Bürgern. Dass die das Gefühl haben, es ist ein permanenter pro-europäischer Ideenstrom vorhanden und gleichzeitig auf der Bürgerebene gibt es doch Skeptizismus bzw. kritische Stimmen. Und das sorgt natürlich dafür, dass eurokritische Parteien wie in Deutschland die AfD, aber wie auch in vielen anderen Ländern Zulauf bekommen.“

Die Demoskopen wie die Politikwissenschaftler gehen davon aus, dass sich das zukünftige EU-Parlament deutlicher fragmentieren wird, also das mehr kleine und Kleinstparteien einziehen und die komfortable Mehrheit der großen und „supergroßen“ Koalitionen von Konservativen und Sozialdemokraten der Vergangenheit angehören. Das wird zwangsläufig auch zu noch mehr Polarisierungen führen. Aber Daniela Braun plädiert dafür, diese Prognose als Chance zu verstehen und nicht als Untergangsszenario. Denn leidenschaftliche Debatten über die Zukunft Europas seien nicht das schlechteste Ergebnis aus einer solchen Wahl.

Wahlboykott keine echte Lösung? – „Niemand wird zur Wahl einer Partei der Mitte gezwungen“

Weshalb Daniela Braun dem oft zu vernehmenden Argument, eine Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament zwinge dazu, die EU, so wie sie konstituiert ist, zu legitimieren, sehr entspannt entgegentritt, indem sie einfach den Spieß umdreht:

„Es wird niemand gezwungen, eine Partei der Mitte zu wählen. Es gibt die Parteien quasi am rechten Rand, das mögen wir jetzt vielleicht nicht besonders gut finden aus unserer Perspektive. Aber diese Parteien können genauso gewählt werden, die haben einen gewissen Euroskeptizismus, einen sehr starken Euroskeptizismus. Es gibt die Parteien am linken Rand, die tatsächlich, wenn sie euroskeptisch sind, insbesondere in Bezug auf wirtschaftliche Ausrichtung der Europäischen Union Kritik üben. Das heißt, es gibt Möglichkeit, über die Teilnahme an der Wahl, tatsächlich auch kritische Stimmen einzubringen.“

Ganz grundsätzlich ist für die Wahlen zum Europäischen Parlament entscheidend, wie hoch die Wahlbeteiligung ist. Ist sie tendenziell niedrig, stärkt das die Chancen eher kleinerer Parteien oder von Parteien mit deutlich eingeschränktem Wählerpotenzial.

Quelle!:

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