Dienstag, April 30, 2024
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Plötzlich schießt auch „Der Spiegel“ gegen Putins „Staatsfeind Nr. 1“

Über Bill Browder, den selbsternannten „Putin-Staatsfeind Nr. 1“, ist in westlichen Medien kaum etwas Kritisches zu lesen. Nicht überraschend, weil er als Kämpfer für Menschenrechte gilt, der hinter dem berühmten Magnitsky-Akt steht. Doch in letzter Zeit bekommt Browders Story Risse: Selbst eine große deutsche Zeitung hinterfragt sein Narrativ.

Fast entschuldigend kündigte Benjamin Bidder, der Moskau-Korrespondent vom „Spiegel“, auf Twitter seinen großen Investigativartikel an: Es gehe ihm nicht darum, „Russland oder seinen bestialischen Strafvollzug“ in Schutz zu nehmen, sondern die Lücken in Browders Geschichte zu zeigen. Diesen Text zu formulieren, sei ihm „unglaublich schwer gefallen“.

Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein internationales Leitmedium Browders Story hinterfragt. Um Russlands „Staatsfeind Nr. 1“ und Medienliebling Bill Browder so direkt anzugreifen, braucht es auch etwas Mut.

Lob sollte man dem „Spiegel“-Autor hier jedoch ersparen, weil er ihn sowieso strikt ablehnen würde: Auf Twitter erklärte Bidder stolz, er könne nichts für „Applaus von der falschen Seite“. Zur „falschen Seite“ gehören Sputnik und der Sender RT – Letzteren hat er für alle Fälle noch als „propagandistischen Drecksladen“ bezeichnet.

Man sollte dem „Spiegel“-Journalisten aber wirklich nicht böse sein: In einer Medienwelt, wo jeder, der es wagt, sich auch nur ansatzweise positiv über Russland zu äußern, sofort als Putins „nützlicher Idiot“ beschimpft wird und seinen Ruf als seriöser Journalist riskiert, muss man präventive Maßnahmen ergreifen. Sicher ist sicher.

Vermutlich ist das nicht der einzige Grund, warum dem Autor der Text schwergefallen ist. Denn das „politische Lager“ hin oder her – was mit dem Anwalt Sergej Magnitski geschah, ist eine schreckliche und beschämende Tragödie. Und deshalb kann es auch schwierig sein, über eine mögliche Verwicklung des verstorbenen Anwalts in dubiose Machenschaften zu schreiben: Niemand will ja dessen beschuldigt werden, das Opfer verunglimpft und die Schuldigen verharmlost zu haben.

Doch der „Spiegel“-Korrespondent ist nicht als erster auf die Ungereimtheiten in Browders Geschichte aufmerksam geworden.

Es begann mit einem Urteil

Warum bekommt Browders Geschichte, die sich in seinem Buch wie ein echter Thriller liest, plötzlich Risse?

Im vergangenen August verpflichtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland im Fall Magnitski zur Zahlung von 34.000 Euro an die Hinterbliebenen des Anwalts. Die russischen Behörden hätten es versäumt, Magnitskis „Recht auf Leben“ zu wahren, die Gefängnis-Wärter hätten ihn schwer misshandelt. Auch sei ihm die nötige ärztliche Hilfe verweigert worden.

Interessanterweise ist von einem vorsätzlichen Mord aber nicht die Rede.

Browder selbst jubelte nach dem Urteil auf Twitter und sprach von einem Sieg von Magnitskis Familie gegenüber Russland. Doch dass die Richter in Straßburg sein ganzes Narrativ praktisch auf den Kopf gestellt haben, erwähnte der US-Investor natürlich nicht. Auch in den Medien wurde nur über die Geldstrafe gegen Russland berichtetet.

Doch es fand sich ein Mann, der sich die Mühe gab, das Urteil des Gerichts vollständig zu lesen. Das war der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray. Auf seiner Webseite schrieb er einen Beitrag mit dem Titel „The Magnitsky Myth Exploded“ (dt. Der Magnitski-Mythos explodiert) über die Ungereimtheiten in Browders Geschichte.

Was sagen die Richter?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Vorwurf, dass die Verhaftung Magnitskis im Jahr 2008 willkürlich gewesen war, als falsch an. Nichts deute in diesem Fall auf Willkür hin – im Gegenteil, die Verhaftung habe auf einem „begründeten Verdacht“ basiert.

Die russische Behörden hätten zudem die Ermittlungen wegen Verdachts der Steuerhinterziehung gegen Browders Investmentfonds Hermitage Capital Foundation noch 2004 begonnen: Also lange Zeit, bevor Magnitski Korruptionsvorwürfe gegen die Moskauer Polizisten Artjom Kusnezow und Pawel Karpow erhoben hatte.

Dieser eine Satz widerlegt das ganze Narrativ Browders, wonach die russischen Behörden hinter Sergej Magniski her waren, weil dieser kurz davor war, korrupte russische Beamte auffliegen zu lassen.

Denn nach Browders Darstellung hatte eine Gruppe krimineller russischer Beamter umgerechnet 230 Millionen Dollar aus der Staatskasse gestohlen und die Schuld daran Browder zuschieben wollen. Sein Anwalt Magnitski sei den korrupten Staatsdienern auf die Schliche gekommen, weshalb er dann festgenommen und 2009 in seiner Zelle ermordet worden sei.

Die offiziell verbreitete Chronologie stimmt also nicht. In Browders Story ist Magnitskis Tod ein Racheakt des russischen Staates gegen einen ehrlichen Juristen. Die Richter in Straßburg kamen aber zu einem anderen Schluss: Der Vorwurf gegen Magnitski, wonach er Browder bei Steuerhinterziehung half, sei nicht unbegründet gewesen.

Konkret geht es unter anderem um zwei von Browder gegründete Unternehmen. Eine Steuerprüfung durch russische Behörden hatte seinerzeit ergeben, dass diese Firmen zu Unrecht in den Genuss von Steuerbegünstigung gekommen waren, indem sie Behinderte anstellten, die angeblich Wertpapier-Analysten waren, in Wirklichkeit aber keine Kenntnisse in dem Bereich hatten. Das Ziel dieser Machenschaft soll bis zu 50 Prozent Steuerrabatt gewesen sein.

Das Gericht bestätigte zudem, dass die russischen Ermittler Magnitski verhafteten, erst nachdem sie von seinen Plänen erfahren hatten, sich ins Ausland abzusetzen. Magnitski habe kurz vor seiner Festnahme ein britisches Visum beantragt und Flugtickets nach Kiew gekauft.

Daraus folgt nicht, dass Magnitskis Korruptionsvorwürfe gegen russische Beamte haltlos waren. Doch diese Details lassen den ganzen Fall in einem neuen Licht erscheinen.

Tod von Sergej Magnitski

Am 24. November 2008 war Sergej Magnitski festgenommen worden. Ihm wurde vorgeworfen, dem Chef des Investmentfonds Hermitage Capital bei Steuerhinterziehung geholfen zu haben.

Dem Steueranwalt, bei dem schon im Untersuchungsgefängnis eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert wurde, wurde eine medizinische Behandlung praktisch verweigert bzw. kam sie viel zu spät.

Elf Monate später, am 16. November 2009, starb Magnitski im Alter von 37 Jahren. Am Tag des Todes soll er in Panik geraten sein, weshalb die Wärter ihm Handfesseln angelegt haben sollen, um ihn ruhigzustellen. Der Anwalt soll zudem mit einem Gummiknüppel geschlagen worden sein, wie die russische Menschenrechtskommission festhielt.

Browders Feldzug gegen Russland

Browder gilt als einer der größten Kritiker Russlands. Seit Jahren fordert er eine Isolation des Landes. Seine verbissene Kritik hat ihm viel Ruhm und Erfolg gebracht: Sowohl in Amerika als auch in Europa heißen ihn Politiker, Diplomaten und Menschenrechtler willkommen.

Zudem wurde sein Buch „Red Notice: Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde“ ein „New-York-Times“-Bestseller. Die Bewertungen auf Amazon sind weitgehend hoch: 85 Prozent der Nutzer gaben dem Buch fünf Sterne. Es kam bei den Lesern ausgesprochen gut an: Man muss sich etwas bemühen, um skeptische oder negative Bewertungen auf der Seite zu finden.

Browder hatte 2012 erreicht, dass die Obama-Administration Sanktionen gegen Russland unter dem sogenannten „Magnitsky Act“ verhängte. Mehrere weitere Staaten beschlossen anschließend ein ähnliches Gesetz. Doch der US-Investor hat nicht vor aufzuhören: Browder reist durch Europa und hält Reden, damit mehr Länder dem Beispiel der USA folgen.

Ob der plötzliche Sinneswandel des „Spiegels“ im Fall Magnitski Browders Plänen schädigen könnte? Wohl kaum: Er bleibt in den Augen der westlichen Öffentlichkeit Putins größter Kritiker, er steht also praktisch über jeder Kritik. Bislang hat kein großes westliches Medium die Geschichte aufgegriffen. Noch hat „Putins Feind Nr. 1“ wohl nichts zu befürchten.

* Die Meinung des Autors muss nicht der der Redaktion entsprechen.

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