Dienstag, März 19, 2024
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Prozess zum Halle-Attentat: Gericht untersucht „Gamer-Szene“ – Jurist warnt vor rechten Netzwerken

Am Montag fand der letzte Prozesstag gegen Halle-Attentäter Stephan B. vor der Sommerpause statt. Gericht verweist auf dessen Kontakte in die Computerspiele-Szene. Gutachten über die Waffen des Attentäters bringt neue Erkenntnisse. „Nicht gleiche Fehler wie im NSU-Prozess machen“, warnte ein Bundeswehr-erfahrener Jurist gegenüber Sputnik.

Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag von Halle kümmerte sich das zuständige Gericht in Sachsen-Anhalt am Montag um einige Formalien und ging „dann in eine dreiwöchige Sommerpause.“ Das berichtete die Magdeburger Zeitung „Volksstimme“.

Der Angeklagte, Halle-Attentäter Stephan B., schaute „sich ein paar Papiere an, grinst. Bespricht sich dann mit einem seinem Verteidiger.“ Ein behördliches Gutachten wurde präsentiert. Es komme zu dem Schluss, dass „augenscheinlich“ sowohl Maschinenpistole und Pistole als auch die Flinte im Eigenbau hergestellt wurden.

„Pistole (38 spezial) des Attentäters getestet“ – Gutachten

Die vorsitzende Richterin Ursula Mertens am OLG Naumburg zitierte aus dem Gutachten:

„Im Test durchdrangen sowohl die Munition der Maschinenpistole (9mm) als auch der Pistole (38 spezial) vollständig einen 26,5 Zentimeter langen Gelantine-Block. Das Schrot der Flinte (Kaliber 12) blieb in einem 34 Zentimeter langen Gelantine-Block bei etwa 25 Zentimeter stecken.“

An diesem letzten Prozesstag vor der Sommerpause erklärte laut Medien der Rechtsanwalt eines Nebenklägers, „dass verschiedene Dokumente nicht nur im Selbstleseverfahren, sondern öffentlich im Prozess behandelt werden sollten, unter anderem das Manifest sowie Dokumente aus dem Internet, die sich Stephan B. angeschaut hatte.“

Warum wurden Kontakte zur „Gamer-Szene“ nicht ermittelt?

Kontakte und Verbindungen von Halle-Attentäter B. zur sogenannten „Gamer-Szene“ seien „nicht ausreichend“ ermittelt worden, bemängelte das Gericht laut einem Bericht des „MDR“ am Sonntag. In dieser Szene vernetzen sich Menschen am PC, um gemeinsam beispielsweise „Ego-Shooter“ – diese werden umgangssprachlich „Baller-Spiele“ genannt – zu spielen. „Der Attentäter von Halle spielte exzessiv sogenannte Ego-Shooter auf der Spieleplattform ‚Steam‘. Dort verbrachte B. Hunderte Stunden mit Computerspielen und unterhielt auch zahlreiche Kontakte. Diese Aktivitäten wurden jedoch nicht ausreichend verfolgt.“

Dies gehe aus Ermittlungsakten hervor, die dem ostdeutschen Medium vorliegen. Den Ermittlungsbehörden sei es nicht gelungen, alle Kontakte zu ermitteln. „MDR-Reporter fanden nun weitere. Ein Nebenkläger sieht Versäumnisse der Ermittlungsbehörden.“

Das Bundeskriminalamt (BKA) habe im Gaming-Verhalten von B. einen Ermittlungsansatz gesehen „und bat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) um Unterstützung. Die Verfassungsschützer konnten daraufhin zwar den Nutzernamen und die Nutzer-ID des Attentäters ermitteln (…), nicht aber weitere Kontakte des Attentäters.“ Manche Extremismus-Forscher wie Florian Hartleb, den der Bericht zitiert, sehen „einen Zusammenhang zwischen Gaming und Terrorismus“. Diese Debatte werde hierzulande leider nicht geführt, bedauerte er. Viele Attentäter und Terroristen seien „exzessive Gamer“, würden also im virtuellen Bereich mit Lust Morde verüben und beispielsweise Gegner per Klick oder Tastendruck „erschießen“.

„Rechtsextreme Netzwerke in Behörden und Bundeswehr enttarnen“ – Jurist gegenüber Sputnik

Experten und Prozessbeobachter weisen nicht nur auf unzureichend aufgeklärte Kontakte von B. innerhalb dieser Szene hin. Bereits zum Prozessauftakt erklärte Jurist und Rechtsanwalt Memet Kilic in einer Stellungnahme, die Sputnik vorliegt:

„Ein Gerichtsverfahren kann im Prozess gegen den Attentäter von Halle dem Angeklagten im Zweifelsfall individuelle Schuld als Strafmaß zuweisen. Allerdings müssen darüber hinaus rechtsextreme Netzwerke nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern vor allem innerhalb der   staatlichen Institutionen aufgedeckt werden. Antisemitische, rechtsextremistische und menschenverachtende Anschläge sind keine isolierten Taten, verübt durch ‚Einzeltäter‘. Dahinter steckt eine menschenverachtende Ideologie. Dies zu verkennen ist gefährlich.“

Kilic ist zugleich auch Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats (BZI) und kommentiert in dieser Funktion regelmäßig aktuelle juristische Verfahren und Fragen zu Recht und Justiz.

Zuvor seien bereits „in den Ermittlungen des NSU-Falls viele Fehler begangen worden, die eine lückenlose Aufklärung unmöglich gemacht haben, da sowohl die Politik als auch der Verfassungsschutz untätig blieben. Dass außerdem die sonst so gut organisierte Bundeswehr etwa 60.000 Schussmunitionen und ca. 20 Kilo Sprengstoff vermisst, beunruhigt mich als ehemaliges Ratsmitglied der Inneren Führung der Bundeswehr (2000-2010) sehr.“               

Es wäre laut dem Heidelberger Rechtsanwalt „ein fatales Signal, wenn rechtsextreme Netzwerke und Querverbindungen auch in diesem Fall weitestgehend außer Acht gelassen oder kleingeredet werden. Die lückenlose juristische Aufarbeitung des Falles wird eine Signalwirkung auf die rechtsradikale Szene haben. Der Rechtstaat muss immer wieder deutlich machen, dass er unsere pluralistische, demokratische Kultur gegen Extremisten verteidigen wird. Die Aufarbeitung stärkt und ermutigt auch Demokratinnen und Demokraten, ihre Stimme gegen Rassismus lauter zu erheben. Je lauter diese werden, umso schwacher werden gewaltbereite Rassisten in ihrem Tun und Denken.“

Prozess verabschiedet sich in die Ferien

Mit dem kleinen Überbrückungstermin am Montag ermöglichte „das Gericht den 45 Nebenklägern, ihren 22 Anwälten, den sechs Richtern, zwei Verteidigern und zwei Vertretern der Bundesanwaltschaft, den August für einen Urlaub zu nutzen.“ Die Strafprozessordnung schreibe dies so vor.

Am Montagvormittag kurz vor 11 Uhr beendete Richterin Mertens den Verhandlungstag und wünschte allen Beteiligten dementsprechend „einen schönen Urlaub“. Sie geht davon aus, dass es weitere Verhandlungstermine über den Oktober hinausgeben wird.

„Bisher beeindruckt mich vor allem die sehr souveräne Verhandlungsführung der vorsitzenden Richterin“, lobte SPD-Landespolitiker und Abgeordneter im Magdeburger Landtag, Rüdiger Erben (SPD) bereits in einem früheren Sputnik-Interview. Dies sei eine sehr gute Ausgangsposition für den weiteren Prozessverlauf, der noch mehr Erkenntnisse zur rechtsextremen Tat offenlegen soll.

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