Sonntag, April 28, 2024
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Staatsaffäre NSU: Unerwünschter Zeuge ‘geselbstmordet’

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Aussage eines Fahrlehrers stärkt Zweifel an Suizid des Neonaziaussteigers Florian Heilig, der zum Polizistenmord in Heilbronn aussagen wollte.

Zum zehnten Mal tagt an diesem Montag im Stuttgarter Landtag der Untersuchungsausschuss

»Rechtsterrorismus/NSU BW«. Die Parlamentarier sollen die Kontakte und Aktivitäten der rechten Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) in Baden-Württemberg und die Todesumstände der Polizeibeamtin

Michèle Kiesewetter aufklären, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU – doch die Beobachtungen eines Fahrlehrers, der sich als Zeuge der Polizei angeboten hatte, werfen erhebliche Zweifel an der bisherigen Darstellung der Ereignisse auf. Diese beziehen sich auf den angeblichen Selbstmord von Florian Heilig, der am 16. September 2013 im Auto verbrannt ist, kurz bevor ihn Beamte des Landeskriminalamtes zum Fall Kiesewetter befragen wollten.

(Bild: Kriminaltechniker untersuchen den ausgebrannten Wagen Florian Heiligs am Canstadter Wasen in Stuttgart)

Der Zeuge ist der Redaktion bekannt. Was der Mann, der in den Ermittlungsakten mit keinem Wort erwähnt wird, am Todestag von Florian Heilig gesehen hat, schilderte er gegenüber junge Welt. Der Fahrlehrer Jürgen M. hatte sich demnach am 16. September 2013 um acht Uhr morgens auf dem Canstatter Wasen in Stuttgart mit einem Schüler getroffen, um ihn auf eine Motorradprüfung vorzubereiten. Für Unterrichtsstunden auf diesem Gelände hat die Fahrschule eine Sondergenehmigung.

Da bereits mit Aufbauten für das dort stattfindende Volksfest begonnen worden war, verlegte M. den Fahrunterricht in den hinteren, südlichen Bereich. Gegen 8.30 Uhr fiel ihm ein allein stehender Peugeot auf, der ungewöhnlich abgestellt war. Auf der Fahrerseite sah er eine Person sitzen. Hinter dem geparkten Auto bemerkte er einen kräftig gebauten Mann, der eine Zigarette rauchte. Dessen Alter schätzt er grob auf 30 bis 50 Jahre. Zu Beginn seiner zweiten Fahrstunde an diesem Tag kam er wieder an derselben Stelle vorbei. Er erschrak, denn nun sah er dasselbe Auto – ausgebrannt. Die Feuerwehr hatte den Brand bereits gelöscht. Als sich M. dem Auto näherte, konnte er darin grob die Person in derselben Position wie bei seiner ersten Vorbeifahrt wiedererkennen. Es war der 21jährige Florian Heilig – tot.

Der Fahrlehrer ging zur Absperrung und teilte zuerst einem Polizisten, dann einer Polizistin mit, dass er vor dem Brand einen rauchenden Mann in unmittelbarer Nähe des geparkten Wagens gesehen hat. Die Beamtin notierte seinen Namen und seine Telefonnummer, M. nahm seine Arbeit wieder auf. Da wenig später von einem tragischen Selbstmord die Rede war, schien für ihn die Angelegenheit erledigt – bis in seinem Bekanntenkreis Medienberichte über die Ungereimtheiten des angeblichen Selbstmordes Aufmerksamkeit erregten.

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(Weder im ausgebrannten Wagen noch in der Umgebung gefunden: Wo ist der Fahrzeugschlüssel Florian Heiligs?)

Zwar muss es keinen Zusammenhang zwischen dem rauchenden Mann und dem wenig später brennenden Auto geben. Da aber die Polizei grundsätzlich in alle Richtungen ermitteln müsste, wäre es äußerst wichtig herauszubekommen, wer dieser ist und ob es einen Zusammenhang zu dem geparkten Wagen und dem Insassen gibt. Der Fahrlehrer wurde jedoch nie befragt. Die Ermittlungsakten suggerieren sogar das Gegenteil: In einer Strafanzeige des Polizeipräsidiums Stuttgart vom 10. Februar 2014 gegen den Toten (!) wegen Brandstiftung findet sich der Satz: »Ein Hinweis auf eine weitere Person liegt hingegen nicht vor.«

Es gibt noch weitere Hinweise dafür, dass die Selbstmordthese unwahrscheinlich ist. Denn ein weiterer unterschlagener Umstand spricht dafür, dass Florian Heilig auf dem Cannstatter Wasen vor seinem Tod nicht alleine war: Um ein Auto zu fahren und abzustellen, braucht man einen Autoschlüssel. Die Ermittler stellten jedoch keinen Autoschlüssel sicher. Weder befand er sich im Zündschloss, im Wageninneren, noch in der Nähe des Tatortes. Auch vom Schlüsselbund Heiligs fehlt jede Spur. Was die Polizei an Gegenständen sichergestellt hatte, findet sich in der Empfangsbescheinigung aufgelistet, ausgestellt auf den 24. September 2013: »Geldbörse, 36,07 Euro, 5 Visitenkarten, Scool-Card, 3 Gesundheits-/Versicherungskarten, Führerschein, 9 Quittungen, Arztbericht, Schreiben LRA Heilbronn, BPA, je ein Paar Turnschuhe/Socken.«

Wenn Zeugen, die die These vom Suizid gefährden könnten, nicht gehört werden, wenn Hinweisen, die gegen diese Theorie sprechen, nicht nachgegangen wird, dann ist die Annahme berechtigt, dass das, was der Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses festgestellt hat, auch für Baden-Württemberg gilt: »freiwillige Erkenntisisolation«, das heißt, man stellte sich absichtlich blind. Auch vom Verdacht gezielter Sabotage war in dem Bericht die Rede.

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(Offiziell nicht ausgewertet: Warum tauchen Laptop und Handy des toten Florian Heilig in der Liste nicht auf?)

Man kann davon ausgehen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nicht willkürlich Ermittlungen einseitig führen. Sie wussten sehr schnell, welche politische Brisanz der Tod eines Zeugen hat, der seine Aussagen zu dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter wiederholen wollte. In Sachen Mord zu ermitteln, würde aber die Tür zu folgenden Fragen aufstoßen: Wer wusste von der bevorstehenden Vernehmung des Neonaziaussteigers? Mit wem hatte er bis in die Morgenstunden hinein telefonischen Kontakt? Wie kamen Neonazis in den Besitz der ständig wechselnden Telefonnummern von Florian Heilig? Warum wurde nie (offiziell) eine Auswertung der Telefon- und Verbindungsdaten vorgenommen?

Die Eltern und die Schwester von Florian Heilig sind sich sicher, dass er sich nicht selbst umgebracht hat. Dieser war bis 2011 in der Neonaziszene aktiv. In dieser Zeit hatte er u. a. auch die untergetauchte NSU-Terroristin Beate Zschäpe getroffen. Mitte 2011 machte er Aussagen zu dem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 und nannte dabei Namen, gegen die bisher nicht ermittelt wurde. Er kam ins BIG Rex genannte Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart.

Quellen: dpa/jungewelt.de vom 09.03.2015

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